„Es gibt keinen unpolitischen Schriftsteller“
Interview mit dem mexikanischen Intellektuellen Carlos Monsiváis
Sie sind ein Schriftsteller, der sich vor allem mit politischen und sozialen Themen auseinandersetzt. In Mexiko sind Sie besonders aufgrund Ihrer kritischen Haltung bekannt. Würden Sie sich als einen engagierten Schriftsteller bezeichnen?
Carlos Monsiváis: Nun, nicht mit diesem Begriff. Der Begriff „Engagement“ ist zu häufig mißbraucht worden. Die Bezeichnung „engagierter Schriftsteller“ wird mit einer bestimmten Etappe der französischen Politik in Verbindung gebracht, der Kulturpolitik Sartres. Später bezeichnete man jene als „engagiert“, die die kubanische Revolution unterstützten; dann scheiterte der Castrismus. Wenn man vom engagierten Schriftsteller spricht, dann bezieht man sich auf eine Art und Weise, sich in die Politik einzumischen, die mißbraucht wurde und einen schlechten Ruf hat. Ich würde mich eher einen escritor participante, einen „beteiligten Schriftsteller“ nennen, der klar von einem linken Standpunkt aus schreibt. Aber den Begriff „engagiert“ würde ich nicht benutzen.
Wenn wir einmal bei dem Begriff von Sartre bleiben, sind Sie trotz des gerade Gesagten der Meinung, daß es so etwas wie eine Verantwortung des Schriftstellers a priori gibt, die ihn auf irgendeine Weise zwingt, sich zu engagieren?
Nein, ich glaube nicht. Für mich selbst empfinde ich diese Verantwortung durchaus, aber ich möchte das keineswegs so verallgemeinern, daß wir alle diese Verpflichtung hätten. Im Augenblick ist das größte Engagement eines Schriftstellers in Lateinamerika, glaube ich, seine Verantwortung bei dem, was er tut, und die kritische Arbeit. Die Aufgabe des Autors ist es, sich für eine Kultur zu engagieren, die drastisch zurückgegangen ist. Man liest sehr wenig, und man liest sehr schlecht. Es gibt eine ganz klare Tendenz dahingehend, Literatur einfach zu vernachlässigen. Bereits in diesem Sinne führt der Schriftsteller einen sehr wichtigen Kampf, in seinem eigenen Interesse. Die Art und Weise, wie er dabei seiner Aufgabe gerecht wird, ist Sache jedes einzelnen. Ich würde mich weigern, hier als Richter aufzutreten.
Das heißt, so etwas wie ein Engagement für die Literatur, auch für das Lesen, für die Worte…
…für die Worte und für die Aufgabe, so gut zu schreiben, wie man kann. Alles andere, alle Forderungen nach einem besonderen Engagement von Schriftstellern, hat letztlich in die Katastrophe geführt. Gegenwärtig stehen wir anderen Problemen gegenüber: dem Aufschwung der elektronischen Medien und einer geradezu dramatischen Abwesenheit eines Sinns für Kultur bei den Regierungen. Dem gilt es entgegenzuwirken. Wir Schriftsteller haben die Verantwortung, uns um das Fortbestehen und die Bereicherung von Kultur und Literatur zu bemühen.
Abgesehen davon, wie Sie persönlich zu Ihrer Berufung oder Verantwortung als Schriftsteller stehen, gibt es ja heutzutage Autoren, die jene Verantwortung ablehnen und die sich als „unpolitisch“ bezeichnen. Wie sehen Sie diese Tendenz, die sich insbesondere nach 1989 abzeichnete?
Wenn diese Autoren das von sich sagen, bitte sehr. Aber es stimmt nicht. Es gibt nicht so etwas wie einen unpolitischen Schriftsteller. Entweder ein Autor unterstützt gewisse demokratische Formen und die Entwicklung zivilisatorischer Werte, oder er unterstützt deren Annullierung und die Fortsetzung von Ungleichheit. Aber gut, wenn sie sich als „unpolitisch“ bezeichnen, ist das ihr Problem. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, ich sage nur, daß es nicht möglich ist. Man kann nicht unpolitisch sein, heutzutage noch weniger. Ein Schriftsteller, der sich kraft seiner Autorität in einem bestimmten Moment nicht zu gewissen Erscheinungen, die seine Mitmenschen betreffen, äußert – und zwar in seiner Eigenschaft als Autor und nicht außerhalb seines Berufs –, der sich nicht gegen Barbarei, Fanatismus oder Fundamentalismus wendet, dem scheint seine Arbeit selbst nicht viel zu bedeuten. Eins ist jedoch klar: Ein Autor, dem Themen, wie AIDS oder Ungerechtigkeit gleichgültig sind, dem auch egal ist, was mit der Demokratie geschieht, der würde das auch in seinen Werken auf irgendeine Weise zum Ausdruck bringen. Niemand kann bezüglich solcher Themen unpolitisch sein.
Gut, zum Beispiel bei der Poesie, da schreibt jeder, wie er will. Seine Verpflichtung besteht darin, eine Lyrik höchster Qualität hervorzubringen, und zwar im Rahmen formaler Grenzen. Das Thema spielt dabei zunächst keine Rolle. Wenn aber dieser Dichter, weil er eine öffentlich präsente Person ist – die öffentliche Präsenz der Autoren hat nach wie vor noch großes Gewicht in Lateinamerika –, Themen wie Ungleichheit, AIDS, Rückständigkeit, Fundamentalismus aufgrund seiner unpolitischen Haltung niemals berührt, so wird er automatisch zu einem Instrument der Rechten. Daran besteht kein Zweifel.
Meinen Sie, daß jene Autoren, die von sich sagen, „ich bin engagiert für die
Literatur“, die sich als „unpolitisch“ bezeichnen, daß sie…
… nicht die traurigen Erfahrungen der Autoren machen möchten, die die realsozialistischen Regimes unterstützten. Sie möchten nicht die Erfahrungen der Autoren der 30er, 40er, 50er Jahre wiederholen, die an Stalin, an den Stalinismus glaubten und die Kubanische Revolution als eine Demokratie feierten. Darin haben sie recht. Jedoch wenn sie ausgehend von dieser Vorsicht beschließen, Politik aus ihrer Arbeit auszuschließen und sich zu keinem Thema mehr zu äußern, werden sie am Ende von der Rechten instrumentalisiert.
Das heißt, eine klare Parteinahme von Schriftstellern zu konkreten politischen Entscheidungen steht nicht mehr auf der Tagesordnung, sondern Autoren wenden sich heutzutage eher allgemeineren Ideen und Werten wie
zum Beispiel der Demokratie zu?
Ja. Aber es kann auch niemand aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit verhindern, daß sich ein Schriftsteller in einer politischen Partei oder für eine bestimmte Sache engagiert. Ich habe die Kandidatur von Cuauhtémoc Cárdenas unterstützt, und ich stehe politisch auf der Seite der Linken. Nicht etwa, weil ich sie außerordentlich schätzen würde, sondern weil ich mich gegen die Rechten, den Fundamentalismus und die Korruption der PRI wende. Das ist meine Entscheidung. Niemand kann mir das mit dem Argument „das einzige Engagement des Autors gilt der Literatur“ verbieten. In diesem Sinne glaube ich, jeder sollte das tun, was er möchte. Die Erfahrungen mit dem Stalinismus sollten uns nicht in die Arme eines „rechten“ Stalinismus treiben, der mir verbieten würde, mich gegen die Armut auszusprechen.
Stimmt es, daß Paco Ignacio Taibo II Senator für Kultur in der Stadt-Regierung von Cárdenas wird?
Es scheint so, mir ist aber nicht bekannt, daß es schon bestätigt wurde.
(Anm. d. Red.: Paco Ignacio Taibo II war für den Posten des Kultursenators von Mexiko-Stadt im Gespräch, er hat ihn aber letztendlich nicht angenommen.)
Meinen Sie nicht, daß ein Autor, der nicht nur eine Kandidatur unterstützt, sondern selbst einen Posten in der Regierung annimmt, leicht vereinnahmt werden könnte, vom Regierungsapparat geschluckt, so daß er die kritische Distanz verlieren würde?
Sicherlich. Aber wenn wir bedenken, wieviele Schriftsteller in Mexiko für die Regierung arbeiten, die selbstverständlich öffentlich ihr ausschließliches Engagement für die Literatur bekräftigen, grenzt es dann nicht an Zynismus, wenn diese mit den Privilegien eines Funktionärs ausgestatteten Autoren ihren Kollegen vorhalten, daß sie einen Posten in einer politischen Partei annehmen? Ich glaube, diesbezüglich gibt es keine allgemeingültigen Ansichten; jeder hat für sich selbst zu entscheiden.
Die Zeitschrift viceversa schreibt, daß Sie ein großer Verlust für die Literatur sind, weil Sie sich ihr kaum noch widmen.
Ich glaube nicht, daß ich für irgend jemand ein Verlust bin. Ich tue, was ich tue. Daher bin ich in jeder Hinsicht ein Gewinn für mich selbst, und nichts sonst. Man ist da schon wieder dabei zu verallgemeinern.
Man kam zu dieser Schlußfolgerung, weil Sie ja für die Literatur berufen sind, aber nur noch für Zeitungen schreiben.
Mag sein. Aber ich habe eine Wahl zu treffen. Das ist keine politische Entscheidung, sondern eine Frage, die mein Leben betrifft. Wenn hier jemand etwas zu beklagen hat, dann bin ich das, und ich bin es auch, der wählen muß.
Dieselbe Zeitschrift schreibt, Sie hätten eine Art „Ästhetik des Widerstandes“ hervorgebracht. Bedeutet dieses Konzept, die Grenze zwischen Literatur und Politik aufzuheben?
Nein, überhaupt nicht. Das ist eine persönliche Angelegenheit. Ich glaube nicht, daß ich eine „Ästhetik des Widerstandes“ hervorgebracht habe. Das ist eine sehr geschwollene und förmliche Bezeichnung. Ich habe einfach meine Arbeit getan, das ist alles.
Man bezeichnete Sie auch schon als Moralist. Diese Bezeichnung ist, zumindest in Deutschland, mit negativen Assoziationen verbunden.
Das ist sie auch für mich. Denn man geht dabei von der Perspektive Frankreichs des 18. Jahrhunderts aus, die man auf die lateinamerikanische Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts anwendet. Aus der heutigen lateinamerikanischen Perspektive ist ein Moralist das Schlimmste, was es geben kann. Denn das ist eine Person, die sich gegen das Benutzen von Kondomen und Meinungsfreiheit wendet, die die religiöse Bildung in öffentlichen Schulen einführen will und Presse- und Filmzensur befürwortet.
Abschließend noch eine Frage zur Globalisierung und dem Einfluß der Massenmedien, eine Entwicklung, in der das geschriebene Wort scheinbar mehr und mehr an Gewicht verliert. Welche Rolle wird dem Schriftsteller im kommenden Jahrtausend zukommen?
Das ist schwer vorauszusagen. In diesem Moment ist Mexiko, kulturell gesehen, mit 100 Millionen Menschen und – optimistisch geschätzt – vielleicht einer halben Million Lesern nicht das rückständigste Land in Lateinamerika. Aber der Beruf des Autors wird von einer kleinen Minderheit ausgeübt. Seine Präsenz in der Gesellschaft geht zwar bei weitem über seine literarische Tätigkeit hinaus. Allerdings muß ihm seine Bescheidenheit sagen, daß er einer Minderheit angehört, obwohl seine Arbeit unverzichtbar ist, und daß er wiederum von einer immer kleiner werdenden Minderheit gelesen wird.
Übersetzung: Katrin Neubauer