Mexiko | Nummer 271 - Januar 1997

Erst vergessen, dann verschleppt

Angehörige von Verschwundenen in Oaxaca klagen an

Hätte sich jemand vor einem halben Jahr in Mexiko nach dem Landkreis Loxicha im Bundesstaat Oaxaca erkundigt, so wäre ein Achselzucken die sichere Antwort ge­we­sen. Das ist nun anders. Seit Ende August gerät das in den Bergen der Sierra Mad­re del Sur gelegene Gebiet nicht mehr aus den Schlagzeilen der mexikanischen Pres­se. Von Guerilleros des Revolutionären Volksheeres EPR ist die Rede, aber auch von Polizeiüberfällen, Gefolterten und Verschleppten.

Dirk Pesara

Viel hat sich im Leben der Men­schen in Loxicha nicht ver­än­dert, seit zapotekische In­dí­ge­nas vor 300 Jahren mit Santa Cata­rina und der jetzigen Kreis­haupt­stadt San Agustin die ersten der mittlerweile 32 Gemeinden die­ses Landkreises gründeten. Als Transportmittel dienen Esel und seltener auch Pferde, um die spär­lichen Maiserträge, die sich den kargen Böden abtrotzen las­sen, von den Feldern zu holen. Spa­nisch ist für die meisten der 35.000 BewohnerInnen eine Fremd­sprache und die Analpha­be­tenrate liegt bei 80 Prozent. Me­di­zinische Versorgung für Loxicha ist im Haushaltsbudget der seit 70 Jahren regierenden Staatspartei PRI nicht vorgese­hen. Lediglich ein Arzt, dessen Mög­lichkeiten aufgrund fehlen­der Medikamente in der Land­kli­nik mehr als begrenzt sind, steht den Menschen dieser Re­gion zu Dien­sten. Lastkraftwa­gen gibt es kaum und nur ein Bus quält sich täg­lich die schlängelnde Schot­ter­piste hin­auf, um die Pas­sa­giere ins 60 Kilometer, aber drei Fahrt­stunden ent­fernte Städtchen Mia­huatlán zu bringen. “Die Re­gie­rung hat uns hier in den Ber­gen einfach ver­gessen”, klagt ein al­ter Campe­sino, “nicht einmal eine Straße gibt es.” Doch mit dem Leben in Abgeschiedenheit ist es nun end­gültig vorbei.
Begonnen hatte alles Anfang Sep­tember 1996, als 1200 Be­woh­nerInnen Loxichas zu Fuß zur Landeshauptstadt Oaxaca auf­brachen, um die Freilassung von Francisco Valencia zu for­dern. Dieser war in einer Militär­sper­re mit angeblich subversiven Schrif­ten festgenommen worden. Nur zehn Tage nach dem Protest im 130 Kilometer weiter nörd­lich gele­genen Regierungssitz wur­de San Agustin von Armee- und Poli­zeieinheiten besetzt. Un­ter dem Vorwurf, die im an­gren­zen­den Bundesstaat Guerrero auf­ge­tauchte Guerilla EPR zu un­ter­stützen, wurden zwanzig Per­so­nen – darunter der PRI-Bür­ger­meister und die Polizisten der Kreis­stadt – festgenommen. Acht Be­wohner San Agustins wur­den wenig später, mit von Fol­terspu­ren gezeichneten Kör­pern, frei­ge­lassen. Einige be­fin­den sich in Ge­fängnissen außer­halb Oaxa­cas, von anderen fehlt bis­her je­des Lebenszeichen.
Wiederum machten sich die Men­schen auf den Weg, um für die Freilassung ihrer Angehöri­gen zu demonstrieren. Diesmal wa­ren es 600 Menschen, die bis zum Präsidentenpalast der 600 km entfernten mexi­ka­ni­schen Haupt­stadt aufbrachen. Mit Ver­spre­chungen, die vor­ge­tra­genen Kla­gen zu prüfen und der notlei­den­den Bevölkerung mit Nah­rungs­mittelzuweisungen zu hel­fen, wurden sie nach Hau­se ge­schickt. Doch daraus wur­de nichts. Statt der erhofften Le­bens­mittel kamen am 7. No­vem­ber erneut Polizeitrupps und Sol­da­ten: 22 BewohnerInnen San Agustins – unter ihnen der Lehrer Lau­reano Ramirez – wurden ver­haf­tet. Als Grund dieses Über­falls wurde von staatlicher Seite er­neut das Auftreten der EPR ge­nannt.
Am 28. Oktober hatte die nach der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung EZLN nun zweite in Mexiko operie­ren­de Guerilla ihren einseitigen Waf­fenstillstand für beendet er­klärt und eine bewaffnete Kam­pag­ne eingeleitet. Bei mehreren Über­fällen auf Polizei- und Ar­mee­posten in den Bundesstaaten Guer­rero, Oaxaca und Mexiko wur­den 20 Angehörige der Poli­zei und Armee von Kommandos der EPR erschossen, weitere 20 ver­letzt. Bei keinem dieser EPR-An­griffe hatte es eigene Verluste oder Verhaftete gegeben.
Trotz penibler Hausdurchsu­chun­gen waren in San Agustin kei­nerlei Waffen oder Militär­klei­dung gefunden worden. Den­noch wurden der Öffentlich­keit meh­rere Bewohner aus Loxicha als Mitglieder der EPR prä­sen­tiert. Nach Angaben der un­ab­hän­gigen Menschenrechts­or­ga­ni­sa­tion Limeddh waren diese ge­zwun­gen worden Ar­mee­uni­for­men anzuziehen und sich mit Waf­fen in Händen fo­tografieren zu lassen. Somit konnte die Re­gie­rung in der Presse erste Erfolgs­meldungen im Kampf ge­gen die EPR ver­melden. Al­ler­dings kam die staatliche Version, daß die ver­meintlichen Gue­ril­le­ros in Tarn­anzügen und zudem be­waffnet ohne Widerstand in ih­ren Häu­sern festgenommen wer­den konn­ten, nicht wenigen Be­obachterInnen seltsam vor. Schließlich ist das Polizeimassa­ker an unbewaffneten Campesi­nos am 28. Juni 1995 nahe der Tou­ristenmetropole Acapulco in Guer­rero noch allen im Gedächt­nis. Damals waren den 17 zum Teil durch Genickschüsse er­mor­de­ten Bauern Waffen in die Hän­de gedrückt worden, um das bar­ba­rische Vorgehen der Staats­or­ga­ne zu rechtfertigen. Zwar konnte das “Waffensäen”, wie der­artige Polizeipraktiken in Me­xi­ko genannt werden, von in­ter­na­tionalen BeobachterInnen nach­gewiesen werden, das Echo die­ser Bluttat hallt jedoch nach. Ein Jahr später, während der Ge­dächt­nisfeier am Ort des Massa­kers Aguas Blancas, trat die EPR erst­mals in Erscheinung und er­klär­te der mexikanischen Regie­rung den Krieg.
Für die BewohnerInnen Lo­xi­chas hat ein Alptraum begon­nen. Nie­mand weiß genau zu sa­gen wie­viele Angehörige ver­haftet oder verschwunden sind. Weder Poli­zei noch Armee wol­len Aus­künfte über den Verbleib einiger Ver­schleppter machen. Und die Re­pression gegen die Menschen die­ser Region nimmt weiter zu. Bei mehreren Polizei­razzien zwi­schen dem 26. November und dem 1. De­zember wurden in den Or­ten San Vicente Yagondoy, Loma Bo­nita, Llano Maguey, Santa Cruz de las Flores und Mag­dalena – allesamt im Land­kreis Loxicha gelegen – 24 Per­so­nen verhaftet, deren jetziger Auf­enthaltsort un­be­kannt ist. Nach Angaben der An­gehörigen sind keine Haftbe­fehle vorgelegt wor­den. Ledig­lich das Schicksal von Adrian Sebastian Antonio ist be­kannt. Er wurde am Ort seiner Fest­nahme tot­ge­foltert und lie­gen­gelassen.
Der Ruf der Menschen von Loxicha nach Gerechtigkeit, Frei­lassung der Gefangenen und dem Abzug der Armee aus ihrer Re­gion stößt bei den Regieren­den auf taube Ohren. General­staats­anwalt Pedro Martinez Or­tiz hat weitere Militäroperatio­nen angekündigt.

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