Erst vergessen, dann verschleppt
Angehörige von Verschwundenen in Oaxaca klagen an
Viel hat sich im Leben der Menschen in Loxicha nicht verändert, seit zapotekische Indígenas vor 300 Jahren mit Santa Catarina und der jetzigen Kreishauptstadt San Agustin die ersten der mittlerweile 32 Gemeinden dieses Landkreises gründeten. Als Transportmittel dienen Esel und seltener auch Pferde, um die spärlichen Maiserträge, die sich den kargen Böden abtrotzen lassen, von den Feldern zu holen. Spanisch ist für die meisten der 35.000 BewohnerInnen eine Fremdsprache und die Analphabetenrate liegt bei 80 Prozent. Medizinische Versorgung für Loxicha ist im Haushaltsbudget der seit 70 Jahren regierenden Staatspartei PRI nicht vorgesehen. Lediglich ein Arzt, dessen Möglichkeiten aufgrund fehlender Medikamente in der Landklinik mehr als begrenzt sind, steht den Menschen dieser Region zu Diensten. Lastkraftwagen gibt es kaum und nur ein Bus quält sich täglich die schlängelnde Schotterpiste hinauf, um die Passagiere ins 60 Kilometer, aber drei Fahrtstunden entfernte Städtchen Miahuatlán zu bringen. “Die Regierung hat uns hier in den Bergen einfach vergessen”, klagt ein alter Campesino, “nicht einmal eine Straße gibt es.” Doch mit dem Leben in Abgeschiedenheit ist es nun endgültig vorbei.
Begonnen hatte alles Anfang September 1996, als 1200 BewohnerInnen Loxichas zu Fuß zur Landeshauptstadt Oaxaca aufbrachen, um die Freilassung von Francisco Valencia zu fordern. Dieser war in einer Militärsperre mit angeblich subversiven Schriften festgenommen worden. Nur zehn Tage nach dem Protest im 130 Kilometer weiter nördlich gelegenen Regierungssitz wurde San Agustin von Armee- und Polizeieinheiten besetzt. Unter dem Vorwurf, die im angrenzenden Bundesstaat Guerrero aufgetauchte Guerilla EPR zu unterstützen, wurden zwanzig Personen – darunter der PRI-Bürgermeister und die Polizisten der Kreisstadt – festgenommen. Acht Bewohner San Agustins wurden wenig später, mit von Folterspuren gezeichneten Körpern, freigelassen. Einige befinden sich in Gefängnissen außerhalb Oaxacas, von anderen fehlt bisher jedes Lebenszeichen.
Wiederum machten sich die Menschen auf den Weg, um für die Freilassung ihrer Angehörigen zu demonstrieren. Diesmal waren es 600 Menschen, die bis zum Präsidentenpalast der 600 km entfernten mexikanischen Hauptstadt aufbrachen. Mit Versprechungen, die vorgetragenen Klagen zu prüfen und der notleidenden Bevölkerung mit Nahrungsmittelzuweisungen zu helfen, wurden sie nach Hause geschickt. Doch daraus wurde nichts. Statt der erhofften Lebensmittel kamen am 7. November erneut Polizeitrupps und Soldaten: 22 BewohnerInnen San Agustins – unter ihnen der Lehrer Laureano Ramirez – wurden verhaftet. Als Grund dieses Überfalls wurde von staatlicher Seite erneut das Auftreten der EPR genannt.
Am 28. Oktober hatte die nach der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung EZLN nun zweite in Mexiko operierende Guerilla ihren einseitigen Waffenstillstand für beendet erklärt und eine bewaffnete Kampagne eingeleitet. Bei mehreren Überfällen auf Polizei- und Armeeposten in den Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca und Mexiko wurden 20 Angehörige der Polizei und Armee von Kommandos der EPR erschossen, weitere 20 verletzt. Bei keinem dieser EPR-Angriffe hatte es eigene Verluste oder Verhaftete gegeben.
Trotz penibler Hausdurchsuchungen waren in San Agustin keinerlei Waffen oder Militärkleidung gefunden worden. Dennoch wurden der Öffentlichkeit mehrere Bewohner aus Loxicha als Mitglieder der EPR präsentiert. Nach Angaben der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Limeddh waren diese gezwungen worden Armeeuniformen anzuziehen und sich mit Waffen in Händen fotografieren zu lassen. Somit konnte die Regierung in der Presse erste Erfolgsmeldungen im Kampf gegen die EPR vermelden. Allerdings kam die staatliche Version, daß die vermeintlichen Guerilleros in Tarnanzügen und zudem bewaffnet ohne Widerstand in ihren Häusern festgenommen werden konnten, nicht wenigen BeobachterInnen seltsam vor. Schließlich ist das Polizeimassaker an unbewaffneten Campesinos am 28. Juni 1995 nahe der Touristenmetropole Acapulco in Guerrero noch allen im Gedächtnis. Damals waren den 17 zum Teil durch Genickschüsse ermordeten Bauern Waffen in die Hände gedrückt worden, um das barbarische Vorgehen der Staatsorgane zu rechtfertigen. Zwar konnte das “Waffensäen”, wie derartige Polizeipraktiken in Mexiko genannt werden, von internationalen BeobachterInnen nachgewiesen werden, das Echo dieser Bluttat hallt jedoch nach. Ein Jahr später, während der Gedächtnisfeier am Ort des Massakers Aguas Blancas, trat die EPR erstmals in Erscheinung und erklärte der mexikanischen Regierung den Krieg.
Für die BewohnerInnen Loxichas hat ein Alptraum begonnen. Niemand weiß genau zu sagen wieviele Angehörige verhaftet oder verschwunden sind. Weder Polizei noch Armee wollen Auskünfte über den Verbleib einiger Verschleppter machen. Und die Repression gegen die Menschen dieser Region nimmt weiter zu. Bei mehreren Polizeirazzien zwischen dem 26. November und dem 1. Dezember wurden in den Orten San Vicente Yagondoy, Loma Bonita, Llano Maguey, Santa Cruz de las Flores und Magdalena – allesamt im Landkreis Loxicha gelegen – 24 Personen verhaftet, deren jetziger Aufenthaltsort unbekannt ist. Nach Angaben der Angehörigen sind keine Haftbefehle vorgelegt worden. Lediglich das Schicksal von Adrian Sebastian Antonio ist bekannt. Er wurde am Ort seiner Festnahme totgefoltert und liegengelassen.
Der Ruf der Menschen von Loxicha nach Gerechtigkeit, Freilassung der Gefangenen und dem Abzug der Armee aus ihrer Region stößt bei den Regierenden auf taube Ohren. Generalstaatsanwalt Pedro Martinez Ortiz hat weitere Militäroperationen angekündigt.