Die Mexikanisierung Deutschlands
Pancho Villa fühlt sich in Berlin immer heimischer
Neuerdings wundern sich meine Freunde, wenn ich ihnen versichere, daß ich mich in Berlin immer heimischer fühle. Sie wissen, daß ich aus dem sonnigen Mexiko stamme, dem biblischen Land, wo Milch und Honig fließen. Am Wetter, überlegen sie, kann es sicherlich nicht liegen: Der kälteste Winter seit dreißig Jahren hat mich aber wahrscheinlich endgültig um den Verstand gebracht. Ich bin eine Erklärung schuldig, und hiermit gebe ich sie: Das mexikanische Herz fühlt sich in Berlin wohler, weil Berlin immer mexikanischer wird. Doch alles der Reihe nach.
Ich kam nach Deutschland, als in Mexiko die Verschuldungskrise offensichtlich ausgebrochen war. Der Erdölreichtum des Landes wurde in den siebziger Jahren so gründlich geplündert, daß nur zehn Jahre danach Mexiko ein Fall für den Internationalen Währungsfonds wurde. Ich erinnere mich noch gut daran: Blühende Landschaften haben die Politiker versprochen und den WählerInnen eingeredet, sie hätten das Geheimnis des ewigen Wohlstands zum Nulltarif entdeckt.
Als ich nach Westdeutschland kam, schien alles so grundlegend anders. Ich habe die Geschichte des Landes studiert und mich darüber gewundert, daß ein Willy Brandt zurücktreten mußte, nur weil ein Spion in seiner Umgebung entdeckt wurde. In Mexiko tritt natürlich kein Politiker wegen solcher Bagatellen zurück. Politik in Deutschland schien dagegen so transparent, so einfach zu begreifen zu sein. Mensch brauchte keine Kremlinologie zu betreiben, um zu erfahren, wofür die Parteien stehen. Es gab eine echte Opposition, und dabei erinnere ich mich noch gut an Frau Eidimtas. Sie hat mir mein erstes Zimmer vermietet und mich in das abendliche Ritual des Tagesschauguckens eingeweiht. Parallel zu den Nachrichten hat sie mich freundlicherweise aufgeklärt: Die Oppositionellen Brandt und Wehner seien Kommunisten, die mit Honecker unter einer Decke stecken. Nur Strauß vermochte sie in quasireligiöse Ekstase zu versetzen (“ein feiner Mann, ein feiner Mann”).
Ja, das waren Zeiten. Und was haben wir heute? Genau wie in Mexiko eine Regierung, die schon seit dem mittleren Tertiär an der Macht ist. Zumindest habe ich keinen anderen Regierungschef als Señor Bundeskanzler Kohl erlebt. Die Älteren erzählen, daß irgendwann mal auch ein gewisser Schmidt an der Macht war, aber ich glaube es nicht. In Mexiko gibt es auch eine Staatspartei, die PRI, die immer die Wahlen gewinnt, weil es nichts anderes zu wählen gibt oder weil die Regierung selbst die Fehler des Volkes an den Urnen mit dem Computer korrigiert. Tja, es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber in Berlin ist die Partei der sechs Buchstaben CDUSPD (oder besser gesagt CDUspd) zur Staatspartei geworden. Mensch kann es drehen und wenden wie mensch will: stimmt jemand für die CDU hat er/sie die CDUspd gewählt. Stimmt er/sie für die SPD, hat er/sie auch die CDUspd gewählt. Genau wie in Mexiko, nur da ist die Sache komischerweise transparenter: Es gibt nur drei Buchstaben.
Nun hat uns die Verschuldungskrise auch hier eingeholt. Ich kann meinen Augen und Ohren nicht mehr trauen, wenn ich sehe und höre, wie dieselben Politiker, die Berlin in die Finanzmisere gebracht haben, sich öffentlich feiern lassen, weil sie jetzt das Loch stopfen möchten. Hört mensch ihnen zu, scheint es einem, daß Außerirdische die letzten 14 Jahre lang Berlin regiert haben. Genau so ist es in Mexiko, wo jede neue Regierung Augias’ Ställe endlich zu säubern verspricht. Die Staatspartei verkauft sich in Mexiko als Herkules. Wieso die unsauberen Ställe überhaupt entstanden sind, erfahren wir nie. Genau wie in Berlin.
Und das Bündnis für Arbeit? Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als ich zum ersten Mal davon hörte. Ich fühlte mich wie mit der Zeitmaschine rückwärts katapultiert und glaubte, Señor López Portillo zu hören. Die Erfinder solcher Bündnisse sind nämlich Mexikaner. Ich weiß nicht mehr, wie viele Bündnisse dort vor und nach der Krise ins Leben gerufen wurden: gegen Inflation, für Arbeit, für Wachstum, für soziale Solidarität usw. Und bei solchen Bündnissen hieß es immer: Jetzt müssen die ArbeiterInnen den Gürtel enger schnallen. Was der Beitrag der Regierung und der Unternehmer war, blieb für mich immer im Dunkeln. So wie beim hiesigen Bündnis für Arbeit.
Den Rücktritt eines Politikers habe ich seit langem nicht mehr erlebt. Ich glaube, der einzige, der während meiner Zeit in Deutschland wegen politischer Fehler zurückgetreten ist, war Honecker. Das muß ich dem Mann immerhin zugute halten. Alle anderen, die heute desaparecidos geworden sind (wo ist Stoltenberg?), sind es deswegen, weil sie den größtmöglichen Frevel begangen haben: den starken Mann an der Spitze zu ärgern. So wie in Mexiko.
Ach ja, und das Fernsehen. Als ich nach Deutschland kam, gab es nur drei West-Programme. Samstags gab es immer irgendwelche historischen Rückblicke, und es war faszinierend zu beobachten, wie die deutsche Seele wöchentlich malträtiert wurde. Aber es gab immer etwas Interessantes und, ich wage es kaum zu sagen, auch Gutes. Heute haben wir eine Satellitenschüssel, die für alle MieterInnen in unserem Haus installiert wurde. Ich habe sie nicht gezählt, aber es müssen um die 2000 Programme zu sehen sein. Dramatisch ist nur, daß die heutige Qualität der deutschen Sendungen die mexikanische Seifenoper wie Werke für Intellektuelle aussehen lassen. Im Vergleich zum Glücksrad, gewissen Late-Night-Shows und wie-sie-alle-heißen mutet eine mexikanische Comedia an, als ob sie aus der Feder Balzacs entstanden wäre (übrigens: mexikanisches Fernsehen kommt auch aus der Schüssel: Programm 34).
Meine Mutter hat immer für die USA und Europa geschwärmt und uns, ihren Söhnen und Töchtern, versichert, dort gebe es keine Armen und auch keine Musikanten und Bettler im Bus. Am besten lade ich sie nicht nach Berlin ein. Sie könnte sonst in die U-Bahn geraten, und ihre vorwurfsvolle Miene kann ich mir jetzt schon vorstellen (“und dafür bist Du nach Deutschland gekommen?”).
Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient, sagt ein Sprichwort. In Mexiko hatte ich nie die Gelegenheit zu wählen. Nachdem ich das wahlfähige Alter erreicht hatte, gab es dort nur eine einzige Wahl, an der ich hätte teilnehmen können. Das Dumme daran war, daß es nur einen einzigen Kandidaten gab, den von der PRI. Ich habe deswegen nicht gewählt. Das war meine letzte Chance, denn seit ich hier bin, darf ich nicht wählen. Ich nehme an, daß ich irgendwann ins Rentenalter komme, ohne jemals gewählt zu haben. Aber an-dererseits, wenn ich wählen dürfte, würde ich mich vielleicht wie damals fühlen, weil es praktisch nur die Staatspartei der sechs Buchstaben zu wählen gibt. Ich bitte um Verzeihung, falls ich mich irre, aber in Deutschland hat noch keine Regierung seit 1933 die Wahlen verloren. Regierungen sind nur gefallen, weil der kleine Koalitionspartner rechtzeitig die Seite gewechselt hat (auch im Fall von Schmidt) oder weil der Krieg verloren wurde. In Mexiko hat noch keine Regierung seit 1810 die Wahlen verloren, die Regierung ist nur nach verlorenen Kriegen gewechselt worden.
So viel Gemeinsamkeit zwischen Mexiko und Deutschland kann kein Zufall sein. Ich habe lange überlegt, ob die Germanen nicht vielleicht Nachkommen des verschollenen Klans von Quetzalcoatl sind. Quetzalcoatl war blond und ist mit seinem Boot im Atlantik verschwunden. Für diese These spricht einiges. Auf Nahuatl kann man Worte aneinanderreihen und solche zusammengesetzten Worte wie “deraltemannmitdemgroßenbauch” bilden. Deutsch ist vielleicht eine im Laufe der Jahrhunderte entstandene Vereinfachung. Nur der Mangel an Zeit hat meine Nachforschungen in dieser Richtung bis heute verhindert. Der Klan des Quetzalcoatl hat zuerst den Mond verwüstet und ist dann in Mexiko erschienen. Ob das etwas für den Standort Deutschland zu bedeuten hat, weiß ich nicht. Echte Kenner der kulinarischen Szene wissen von der Expansion mexikanischer Restaurants in Deutschland zu berichten. Ich sage Euch: es ist kein Zufall. Zwei Völker, eine Gesinnung!