Mexiko | Nummer 246 - Dezember 1994

Bloßer Nachwahlkampf?

Regionalautonomie und Demokratisierung in Mexiko

Als sich das Nationale Zapatistische Befreiungsheer EZLN Anfang Januar nach der “Eroberung” der chiapanekischen Städte San Cristóbal, Ocosingo, Las Margaritas und Altamirano von den mexikanischen Streitkräften unbesiegt in den lakandonischen Urwald zurückzog, entstand die erste autonome Region Mexikos. Diese Zona Zapatista wird seitdem vom mexikanischen Militär von der Außenwelt abgeschottet und mit einem “low intensity”-Kleinkrieg überzogen, während Solidaritäts-Karavanen mit Lebensmittel- und Arzneimit­teltransporten aus den verschiedensten Gegenden des Landes immer wieder versuchen, den Kontakt zwischen der belagerten zapatistischen Bevölkerung und der mexikanischen Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten.

Gunther Dietz/AIPIN

Spätestens seit den Wahlen im August dieses Jahres ist dieser “Dorn im Auge” der Salinas-Regierung nicht mehr eine bloße “Insel der Hoffnung” für die demo­kratische Opposition: Denn während im übrigen Mexiko die Wahlen ein weiteres Mal dubios verliefen und die amtierende Staatspartei PRI die gesamte Opposition erneut mit einer Flut von – in gerichtlichen Einzelverfahren langwierig zu klärenden – “Wahl-Unregelmäßigkeiten” in Schach hält, zeigte die zapatistische Enklave dem gesamten Land, daß Wahlen durchaus transparent und demokratisch organisiert werden können, wenn sie wie hier ge­schehen von zivilen, vom System der Staatspartei unabhängigen Instanzen durchgeführt werden.
Weiter wählen oder selbst handeln?
Angesichts der einschlägigen Erfahrungen mit den Wahlverläufen haben sich viele Oppositionsgruppen und vor allem die un­abhängigen Campesino- und Indígena-Organisationen Mexikos enttäuscht von der reformistischen Alternative abge­wandt, mit der besonders die groß-städtischen Intellektuellen um den “Grupo San Angel” für eine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen geworben hatten. Deren Vorschlag, die von der (PRI-dominierten) Wahlbehörde diktierten Spielregeln zu akzeptieren und das Wahl­ergebnis anschließend mit der Staatspartei durch ein gemeinsames, schrittweises “Säubern” einzelner offensichtlicher Wahlfälschungen “auszuhandeln”, wird von den Spitzenpolitikern der Oppositi­onsparteien PRD und PAN auch nach den Wahlen einmütig vertreten; gleichzeitig beschließen jedoch ihre aus der Kontrolle geratenen Basiskomitees schon in zahl­reichen Bundesstaaten, unter den ge­gebenen Bedingungen nie wieder an Wahlen teilzunehmen.
Die Kluft wird größer: Während der PRD-nahe Politologe Jorge Castañeda, ein Ver­treter der San Angel-Gruppe, noch für die Anerkennung des offiziellen Er­gebnisses der Präsidentschaftswahlen und für eine parallele “Nachverhandlung” jedes einzel-nen Mandates des gleichzeitig gewählten Nationalparlamentes plädiert, beschließen Vertreter von ca. 300 Campesino- und Indígena-Organisationen am symbolträch-tigen 12. Oktober in San Cristóbal – mit Unterstützung von ca. 20.000 Indígenas aus Chiapas -, einen an­deren Weg einzu-schlagen: den Weg der Regionalauto-nomie.
Basta Ya!
Da weder die “saubersten Wahlen der mexikanischen Geschichte” noch mona­telange Verhandlungen mit der Regierung eine demokratische Öffnung des PRI-Systems bzw. lokale Freiräume erwirken konnten, beschließen an diesem “Nationalen Tag für Demokratie und wür­digen Frieden” die Delegierten aus den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero, Michoacán, Veracruz, Hidalgo und Sonora, das System der Staatspartei aus ihren Regionen zu drängen und Freiräume für selbstbestimmtes politisches Handeln zu schaffen, statt auf Konzessionen von oben zu hoffen. In einigen Bundesstaaten war diese Entscheidung, die Demokrati­sierung von unten zu betreiben, schon sofort nach den Wahlen gefallen: So sind Ende August alle Regierungsvertreter aus dem Purhépecha-Hochland in Michoacán, einer Hochburg der PRD-Opposition, ver­trieben und ihre Büros versiegelt worden, nur noch die paramilitärische Polizei durchkreuzt die Region auf ihrer nächtli­chen Suche nach “vom Ausland gesteuerten Guerrillas”.
Doch zur Zeit bildet Chiapas den landes­weiten Schwerpunkt des Kampfes gegen das PRI-System, da hier die Wahlfäl­schung am lückenlosesten dokumentiert werden konnte. Sowohl die EZLN als auch die Nationale Demokratische Kon­vention (CND) haben den Sturz des an­geblichen Siegers der ebenfalls im August abgehaltenen chiapanekischen Gouver­neurswahlen, des PRI-Kandidaten Eduardo Robledo, und die Anerkennung seines Gegners, des von einem breiten Bündnis von Organisationen getragenen Oppositionskandidaten Amado Avendaño, zu ihren Hauptforderungen gemacht.
Autonomie für wen?
In der “Erklärung von San Cristóbal” vom 12. Oktober fließt der Kampf um die “Verteidigung des Wählerwillens”, also um die Amtseinsetzung Avendaños, mit dem Kampf um Regionalautonomie zu­sammen. Indem somit Indígena-Organisa­tionen, städtisch geprägte Oppositions­gruppen und soziale Bewegungen gemein­same Strategien des zivilen Wider­stands entwickeln – von der “Eroberung” PRI-dominierter Rathäuser über die Schließung von Regierungsinstitutionen, die Vertreibung von PRI-Funktionären und Regierungsbeamten bis zum Boykott jeglicher Steuern und Abgaben sowie der Rückzahlung von Krediten -, drückt sich nicht nur das im August auf der 1. Demo­kratischen Konvention in Aguascalientes geschlossene Bündnis (zwischen Zivilge­sellschaft und Indígena-Völkern) aus, sondern darüber hinaus spiegeln diese gemeinsamen Strategien einen neuartigen und erstmals am 1. Januar vom EZLN artikulierten Prozeß der “Verbürger­rechtlichung” der Indígena- und Campesi-nobewegung wider: An die Stelle “exklusiv indianischer” Forderungen tritt in der konkreten Praxis des Kampfes um Autonomie eine alle Bevölkerungs­gruppen betreffende Demo­kratisierung auf der lokalen und regiona­len Ebene, also genau dort, wo das System des PRI-Kazikentums am stärksten ver­wurzelt ist und bis heute am effektivsten funktioniert.
Das Projekt pluriethnischer Regionen
Die “Erklärung von San Cristóbal” und das ihr zugrundeliegende, von 13 Indígena-Organisationen unterzeichnete Dokument vom September 1994, “die Autonomie als neue Beziehung zwischen den Indígena-Völkern und der Nationalge­sellschaft” betonen daher, daß die Indígena-Bewegung zwar aus historischen Gründen zum Protagonisten des Kampfes um Regionalautonomie geworden sei, daß es jedoch nicht um das Errichten von Pri­vilegien und von “ethnisch homogenen” Gebieten gehe:
“Die Autonomie, die wir fordern, ist kein neues Ausschlußprojekt und stellt sich auch nicht abseits des Strebens der Mehr­heit der Mexikaner nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit. Im Gegenteil, die Autonomie ist der indianische Vor­schlag, um zum ersten Mal in der neueren Geschichte in ein demokratisches Leben eintreten zu können; es ist auch der Bei­trag der Indígena-Völker zur Errichtung einer demokratischeren, gerechteren und menschlicheren Nationalgesellschaft. In diesem Sinne identifiziert sich unsere Autonomieforderung mit dem Kampf aller nicht-indianischen Mexikaner, die eine neue Gesellschaft erstreben. Unser großes Projekt politischer Autonomie schließt auch niemanden im Inneren der Regionen aus, in den verschiedene Gruppen zu le­ben. Es sieht in den Regionen, in denen verschiedene soziokulturelle Gruppen oder Völker leben, die Entscheidungsfrei­heit derselben vor, um in Einheit und Ver­schiedenheit, nach den Prinzipien von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt, zusammenzuleben. Es geht also um die Errichtung plurikultureller oder pluriethnischer Regionen”.
Kompetenzen der autonomen Regionen
Ein derartiges Autonomie-Projekt be­zweckt die Einführung einer zusätzlichen regionalen Zwischenebene oberhalb des Municipio-Distriktes und unter­halb der Bundesstaatsebene. Die Region betreffen-de Entscheidungen sollen zu­nächst durch die von den verschiedenen Organisationen plural besetzten Regional­räte und später durch die von Delegierten aller Dorfgemeinden gebildeten Regional­parlamente getroffen werden; die Kom­petenzen sollen den pluriethnischen Re­gionen Mexikos in einem Drei-Stufen-Modell übertragen werden: In einer ersten Phase beschränken sich die Kompetenzen auf eine administrative Dezentralisierung, die vor allem die Selbstverwaltung öffent­licher Haushaltsmittel und die eigen­ständige Erarbeitung von regionalen Entwicklungs- und Ressourcennutzungs­plänen umfaßt. Der zweite Schritt des Indígena-Projektes besteht aus der “Kul-tur-Autonomie”, der souveränen Ent­scheidung über Sprache, Erziehung, Reli­gion, Kommunikationsmittel usw. In der dritten Autonomiephase soll den Regionen politische Kompetenzen hinsichtlich der territorialen Souveränität und der Ent­scheidungsmechanismen zur Ernennung ihrer lokalen, regionalen und nationalen Vertreter zugestanden werden. All dies basiert auf der rechtlichen Grundlage der von Mexiko längst unterzeichneten ILO-Konvention 169 über Territorialansprüche indigener Völker.
Erste Schritte zur Regionalautonomie in Chiapas
Den detaillierten Dokumenten folgen seit dem 12. Oktober konkrete Taten: Im Nor­den des Bundesstaates hat die mehrheit­lich von Tzotzil, Chol und Zoque gebil­dete Campesino-Organisation CIOAC be­reits die “Autonome Indígena-Region Nord-Chiapas” mit 11 Municipaldistrikten und einer Bevölkerung von 120.000 Ein­wohnern ausgerufen. Die Rathäuser von Soyaló, Simojovel und Huitiupan wurden besetzt und deren ,dank Wahlfälschung, amtierende PRI-Bürgermeister wegen “Korruption und Unfähigkeit” abgesetzt. Die Fincas von Ixtapa und Jitotol wurden beschlagnahmt und an landlose Familien übergeben, die gesamte Region wird zur Zeit mit Hinweisschildern versehen, in denen Regierungsbeamte darauf hinge­wiesen werden, daß “sie ein Eindringen in die autonome Zone selbst verantworten müßten”. Alle Verhandlungen mit Regie­rungsinstanzen sind abgebrochen worden, bis “eigene, demokratische Institutionen an ihre Stelle” treten. CIOAC-Sprecher Arturo Luna erklärt: “Jetzt beginnen wir langsam, uns die Rathäuser zu nehmen, wir trauen uns, uns selbst zu regieren… Wir merken, wir können regieren und unsere eigenen Pläne erstellen für Regio­nalentwicklung, Infrastruktur, Erziehung und nach den Erfordernissen unserer Re­alität”.
Als nächstes erklären die 38 Dörfer des Marqués de Comillas, einer Grenzregion der Selva Lacandona, die nicht vom EZLN kontrolliert wird, ihre Unabhängig­keit gegenüber dem Municipio-Distrikt Ocosingo, einem von PRI-Kaziken und Viehhändlern beherrschten Ort. Das jetzt “freie Municipio Comillas” wird von einem aus allen Dorfautoritäten und vier regionalen Campesino-Organisationen zu-sammen­gesetzten Kollektivrat regiert, alle Zufahrtswege sowie die Verbindungs­straßen in die benachbarten Bundesstaaten Yucatán und Campeche sind gesperrt.
Gleichzeitig rufen ca. 15.000 Mitglieder der Kleinbauernkaffee-Organisation OR-CAO am Südrand des vom EZLN kontrollierten Territoriums die “Autonome Region Selva” aus. Neben anderen Regie­rungsinstanzen werden alle Schulen sowie der Sitz der Schulverwaltung geschlossen: “Die zweisprachigen und einsprachigen Lehrer dieser Schulen dürfen nicht weiter­arbeiten, bis sie ein Erziehungsprojekt ausarbeiten, das unseren Bedürfnissen entspricht und das auch politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte einbezieht. Wir, die Dorfgemeinden, wer­fen die Lehrer nicht raus, sondern sie sollen sich unserem Kampf anschließen”, erklärt Juan Vázquez von der ORCAO.
Wie in Chiapas so in Mexiko?
Bis Anfang November, also knapp einen Monat vor der geplanten Machtübergabe an die neuen PRI-Regierungen von Zedillo in Mexiko-Stadt und von Robledo in Chiapas, umfassen die mittlerweile vier autonomen Regionen schon 58 Municipios und mehr als die Hälfte der Fläche des gesamten Bundesstaates Chiapas. Doch “Chiapas darf nicht allein gelassen werden”: Die Nationale Konven­tion der Indígena- und Campesino-Orga­nisationen würdigt Ende Oktober die Autonomiebewegung als wichtigsten Bei­trag der Indígena-Völker zur Demokrati­sierung Mexikos, als einen konkreten Schritt im Übergang “vom zivilen Wider­stand zum zivilen Aufstand”, die Konven­tion ruft daher ihre Mitglieds­organisa-tionen im ganzen Land zur Nachahmung auf.

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