Mexiko | Nummer 380 - Februar 2006

Legale Entführung in Mexiko

Die Frauenrechtlerin Lydia Cacho wurde Ende Dezember unter abenteuerlichen Bedingungen festgenommen

Lydia Cacho muss sich einem Prozess stellen, weil sie ein Buch über Kinderpornografie an der mexikanischen Karibikküste veröffentlicht hat. Ein mächtiger Textilfabrikant klagt sie nun wegen Diffamierung und Verleumdung an. Zur Zeit ist die Frauenrechtlerin auf Kaution frei. Menschenrechtsorganisationen, die mexikanische Presse und PolitikerInnen sind auf ihrer Seite.

Dinah Stratenwerth

Was mir gerade passiert, geschieht allen JournalistInnen. Wir dürfen über die Mächtigen nicht schreiben, heißt es,“ schrieb Lydia Cacho wenige Tage nach ihrer Festnahme in Cancún, am 16. Dezember 2005.
Gegen Mittag waren bewaffnete Beamte in das Frauenhaus in Cancún an der mexikanischen Karibikküste eingedrungen, dessen Direktorin Cacho ist. Sie habe mehrere Vorladungen ignoriert, informierten sie die Männer, daher komme man sie jetzt holen. Die Vorladungen hatte ein Richter aus Puebla, 1500 Kilometer von Cancún entfernt, geschickt. Der Vorwurf: Verleumdung und Diffamierung.
Wem hatte Cacho so übel mitgespielt? Im vergangenen Jahr kam ihr Buch Los Demonios del Edén (Die Teufel im Paradies) heraus, ein Bericht über Kinderpornografie in Cancún. Cacho stützte sich zunächst auf die Zeugenaussagen der Mädchen und Frauen, die in ihrer Einrichtung, dem CIAM, Schutz suchten. Journalistisch ging sie diesen Vorwürfen nach und fand eine „Kloake hinter der hübschen Fassade“ des Touristenparadieses, wie sie es nannte. Sie ermittelte, dass höchste gesellschaftliche Kreise in die Untaten verwickelt waren.

Flucht in die USA

Ein wohlhabender Unternehmer, Jean Succar Kuri, organisierte einen Kinderpornoring und machte lukrative Geschäfte mit dem Verkauf von Videos seiner Opfer in die USA. Er genoss Schutz und Unterstützung von der politischen und wirtschaftlichen Oberschicht Mexikos, wie Cacho in ihrem Buch belegt.
2003 hätte Succar Kuri festgenommen werden können: Er saß mit einer der Hauptbelastungszeuginnen in einem Café. Das Treffen war eingeleitet worden, um ihn zu einem Geständnis zu bringen, und die damalige Staatsanwältin des Bundesstaates Quintana Roo war mit mehreren PolizistInnen in der Nähe. Succar Kuri gestand nicht nur, er verteidigte sich sogar für seine Taten: „Du weißt, dass das meine Sucht ist, das ist halt meine Blödheit, und ich weiß, dass es ein Verbrechen und verboten ist. Aber es ist einfach, denn ein kleines Mädchen kann sich nicht verteidigen, und dann kriegst du sie schnell rum und fickst sie halt. Das habe ich mein ganzes Leben lang gemacht und manchmal versuchen sie mich reinzulegen, damit ich bei ihnen bleibe, denn ich soll ja ein guter Vater sein,“ sagte er der jungen Frau gegenüber. Das Gespräch wurde auf Video aufgezeichnet. Doch plötzlich konnte Succar Kuri fliehen. Die Staatsanwaltschaft unternahm nichts, um ihn festzuhalten. Offizielle Begründung war, dass kein Haftbefehl vorliege. Cacho zitiert jedoch einen Justizbeamten, der angibt, dass sehr wohl Festnahmen ohne Haftbefehl gemacht werden, wenn Fluchtgefahr bestehe.
Kuri verschwand in die USA. Dort wurde er wenig später festgenommen und sitzt nun in Arizona im Gefängnis. Er wartet auf seine Auslieferung, die, nach Cachos Einschätzung, gut seine Freilassung bedeuten könnte. „Er hat zu viele Freunde in Mexiko,“ befürchtet die Frauenrechtlerin, und schätzt diese als vermeintliche Komplizen ein.
Diese Freunde gehen nun gegen Cacho vor. Der Mann, der sie anklagt, ist der Textilfabrikant Camel Nacif Borge, bekannt in Mexiko als der „Jeanskönig“. Er habe Succar Kuri, der wie er selbst libanesischer Abstammung ist, zu Beginn seiner Karriere in Mexiko bei Visa-Angelegenheiten geholfen, schrieb Cacho in ihrem Buch. Die Freundschaft war produktiv: „Nacif hatte das Geld und Kuri den guten Namen,“ so der Text.
Laut Zeugenaussagen der Mädchen, die Cacho befragte, besuchte Nacif Borge Succar Kuri häufig in Cancún, immer mit den Taschen voller Geld, und die beiden Männer sprachen über Geschäfte.

Kuris Freunde

„Alles Lüge,“ konterte der Jeansfabrikant in einem Interview. „Ich habe nichts gegen Frau Cacho, ich kenne sie nicht einmal, aber ich möchte mich dagegen wehren, dass sie Dinge behauptet, die nicht stimmen,“ beschwerte er sich. Er gab zu, ein guter Freund Succar Kuris zu sein, aber mit illegalen Aktivitäten wie Kinderpornografie, deren Cacho auch ihn verdächtigt, habe er nichts zu tun. Das sei Succar Kuris Problem. Außerdem, kritisierte Nacif weiter, habe Cacho nie gegenrecherchiert, ihn nie mit den Vorwürfen konfrontiert.
Das gab Cacho sogar zu. Zu oft sei sie bei solchen Versuchen schon abgewiesen worden, sagte sie, und ein Gespräch mit Nacif habe sich auch noch nicht ergeben. Aber sie arbeite „seriös“ und mehrere Zeuginnen hätten Nacif im Hause Kuri und auf den Parties gesehen.
Der Jeanskönig ist zudem kein unbeschriebenes Blatt. Sein Fabrikimperium Tarrant Apparel Group (TAG) umfasst allein im mexikanischen Bundesstaat Puebla sieben Maquila–doras. Immer wieder werden Proteste gegen die unmenschlichen Bedingungen und sexuellen Belästigungen in seinen Fabriken laut. Dem mexikanischen Staat schuldet Nacif Borge rund fünf Millionen US-Dollar. Dem FBI und der DEA ist er als Drogen- und Waffenhändler bekannt, der Millionen in Las Vegas verspielt. Bisher konnte er sich jedoch vor einer Bestrafung retten, dank seiner guten Beziehungen. Ge–rade im Bundesstaat Puebla hat Nacif viel Ein–fluss. Der Gouverneur Mario Marín gilt als ein guter Freund von ihm.
Marín hat wohl zumindest zugestimmt, Cacho aus fadenscheinigen Gründen festzunehmen. Borge selbst gab zu, dass der Gouverneur des Bundesstaates Puebla ihm bereitwillig geholfen habe. So wurde die Klage beispielsweise bei der Abteilung der Staatsanwaltschaft eingereicht, die für Wahlvergehen zuständig ist und sich daher eigentlich mit völlig anderen Fällen befasst.

Reise nach Puebla

Vorladungen aus Puebla habe sie trotzdem nie bekommen, versichert die Frauenrechtlerin, bevor die Polizisten wegen des Delikts „Verleumdung“ das Haus stürmten.
Nach einem kurzen Besuch bei der Staatsanwaltschaft von Quintana Roo wollten die Beamten Cacho sofort nach Puebla mitnehmen. Obwohl ihr von der hiesigen Amtsärztin bestätigt wurde, dass sie schwer krank sei, da sie sich von einer Lungenentzündung erholte. Doch dieser Einwand interessierte ebenso wenig wie der fehlende Begleitschutz, der Cacho wegen wiederholter Morddrohungen durch ehemalige Ehemänner zusteht (siehe LN 371). Ihre Beschützer wurden nach dem kurzen Besuch bei der Staatsanwaltschaft in Cancún einfach zurückgelassen.
Cacho durfte außerdem weder telefonieren noch ihren Anwalt kontaktieren. Während der Autofahrt nach Puebla hielten die Beamten genau ein Mal, um Getränke und Essen zu kaufen, und damit sie auf die Toilette gehen konnte. Vor allem zu Beginn der Reise bedrohten und beleidigten sie Cacho ununterbrochen. „Ihre Bemerkungen über andere Gefangene, die leider verstorben seien, ließen das Schlimmste vermuten,“ schrieb sie in einer Presseerklärung.
Dann benahmen sich ihre Begleiter plötzlich besser. Später erfuhr Cacho, dass Menschenrechts- und Frauengruppen aus Mexiko und Europa sich beim Gouverneur von Puebla beschwert und diesen für ihre Sicherheit verantwortlich gemacht hätten. Nach 24 Stunden Polizeigewahrsam kam Cacho durch eine Zahlung von 70.000 Pesos (circa 7.000 US-Dollar) Kaution frei. Zur Zeit ist sie in Untersuchungshaft. Sie durfte zwar wieder nach Can–cún, muss aber einmal im Monat nach Puebla reisen und sich dort melden. Verliert sie den Prozess, der nun beginnt, erwarten sie neben einer Zahlung bis zu vier Jahre Gefängnis. Denn Mexiko ist eines der wenigen Länder, in denen Diffamierung straf- und nicht zivilrechtlich verfolgt wird.
Ein Gesetz, das es erschwert, die Wahrheit zu sagen: Selbst, wenn alle Anschuldigungen Cachos stimmen – kann Nacif Borge beweisen, dass er durch die von ihr verbreiteten Informationen „entehrt“ wurde, schützt ihn das Gesetz.

Die Presse ist solidarisch

Diese Gesetzgebung wird in Mexiko schon seit Jahren vor allem von JournalistInnen kritisiert. Nicht nur MenschenrechtlerInnen verurteilten daher die Festnahme Cachos und das Vorgehen des Gerichts in Puebla scharf. Die ehemalige Parteichefin der Partei der Institutionalisierten Revolution PRI sagte, sie komme sich vor wie in Zeiten des „Schmutzigen Krieges“ gegen Oppositionelle in den 70er Jahren. Die mexikanische Presse war fast ausnahmslos auf Cachos Seite und veröffentlichte kritische Artikel über Borge und seine Machenschaften.
Momentan versuchen Cachos Anwälte, den Prozess zu verlegen, nach Cancún, dem Schauplatz der im Buch beschriebenen Verbrechen, oder nach Mexiko-Stadt, wo es veröffentlicht wurde. Und Ca–cho bleibt kämpferisch: „Noch nie war ich so überzeugt wie jetzt von der riesigen Macht dieser Netzwerke, die Regierungen beeinflussen und Gesetze brechen, um die zu zerstören, die sich trauen, ihre Taten anzuzeigen und die Opfer zu schützen.“

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren