Zwischen Hoffnung, Banalität und Farce
Eine Momentaufnahme der mexikanischen Wahlen in der Provinz
Während “Nación Purhépecha”, eine regionale Koordination der Dorfgemeinden, alle Aufahrtsstraßen blockiert, und so das Hochland zumindest einen Tag lang symbolisch die erstrebte Territorialautonomie erreicht, ziehen Beamte des Landwirtschaftsministeriums durch die Dörfer und verteilen PROCAMPO-Schecks. Das sind umgerechnet 200 Mark-Almosen, die jede Bauernfamilie aus dem “Programm zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der mexikanischen Landwirtschaft” gegenüber den NAFTA-Partnern Kanada und den USA, erhält.
Als Gegenleistung müssen sich die Bauern verpflichten, die “solidarische” Hilfe bei den Wahlen entsprechend zu würdigen. Nur in einigen, besonders kämpferischen Gemeinden betonen die campesinos ihr Anrecht auf Gelder der öffentlichen Hand und werfen die Beamten aus dem Ort. Gleichzeitig ziehen PRI-Führer durch die Dörfer und kaufen in letzter Minute ein paar Stimmen in dieser cardenistischen, also oppositionellen Region. Die Herren Ruíz, Toral und Velásquez, die PRI-hörige Elite von Paracho, tauschen Stimmen gegen Lebensmittelpakete.. Währenddessen beglückt das Gemeindekommittee der PRI in Cherán fieberhaft die Jungwähler mit Alkohol (1 Stimme = 1 Liter “Ron Presidente”), die campesinas mit Kilopackungen Tortillas und Bohnen und ihre Männer mit 50- bis 300 Peso-Scheinen; einige wichtige Familien erhalten Kälber als Geschenk, und die BewohnerInnen des vor ein paar Jahren entstandenen Slums am Dorfeingang werden mit Wellblechdächern beglückt.
Eine saubere Wahlmanipulation
Eine andere Variante der “Unregelmäßigkeiten” ist das Einziehen der persönlichen Wahlausweise, um Duplikate anzufertigen, oder um sie ganz einzubehalten. In Nuro, einem rein cardenistischen Dorf, verschwinden so vierzig Ausweise, die von Doña Celia Rubio, der Frau des Kaziken, eingesammelt werden. In Paracho willigt eine Frauenkooperative sogar ein, ihre Ausweise dem PRI-Ortsvorstand auszuliefern – gegen das Versprechen, Kredite für sie zu beantragen. Angesichts dieser althergebrachten Fälschungspraktiken, die entgegen allen “Modernisierungs-” und Öffnungsversprechen in den letzten Tagen um sich greifen, breiten sich Wut und Verzweiflung aus. Die Leute befürchten, daß sich die Wahlsituation von 1988 wiederholen könnte: Die Trends sprachen für die Opposition, aber dann fiel der Zentralcomputer der Wahlbehörde angeblich aus. Ergebnis: PRI-Kandidat Salinas gewann.
Die große Mehrheit der Purhépecha tröstet sich damit, daß ja diesesmal Wahlbeobachter zugelassen sind und daß die großen Abschlußkundgebungen der Kandidaten für einen deutlichen Sieg von Cárdenas sprachen. Entsprechend hoch ist die Wahlbeteiligung. Ab acht Uhr morgens bilden sich Schlangen vor den Urnen, alle warten geduldig darauf, ihren Wahlausweis vorzuzeigen, ihren Namen im WählerInnenverzeichnis wiederzufinden, die drei Stimmzettel – für die Präsidentschaftswahlen sowie für die zwei Kammern des Nationalparlaments – auszufüllen und abzugeben und schließlich ihren rechten Daumen mit waschfester Tinte zu markieren. Skeptische WählerInnen prüfen sofort, ob ihr Tintenfleck waschfest ist: Er ist es.
Wahlhelfer aus einer Großfamilie
In Tacuro bildet die ortsansässige PRI-Kazikenfamilie den Vorstand der einzigen Wahlkabine, und das, obwohl doch die Zusammensetzung aller Wahlvorstände einer Zufallsstichprobe entsprechen sollte! Auch in anderen Orten sind auffällig viele Kader der PRI-Minderheit in den Vorstand gelangt und kontrollieren die Urnen. In Cherán finden sich nicht nur sämtliche Tote im Wahlverzeichnis, sie haben sogar schon allesamt zu früher Stunde gewählt! Dagegen müssen wirklich lebende Purhépecha unverrichteter Dinge nach Hause gehen, da sie trotz Besitz eines Wahlausweises nicht im Verzeichnis auftauchen und folglich gar nicht existieren.
Bei wackeligen Mehrheiten
wird nachgeholfen
Paracho, PRI-Festung im Hochland: Der Kazike Don Jesús Carranza , Besitzer der größten Gitarrenfabrik der Region verspricht seinen Arbeitern: “Wenn ihr PRI wählt, gibt es eine Lohnerhöhung, wenn nicht, werdet ihr entlassen!” Dann werden seine Tagelöhner zur nächsten Wahlkabine gefahren, wo sie unter Aufsicht des Vorarbeiters ihr Kreuz machen.
In der Dämmerung
beginnt die Arbeit
Als die Wahllokale schließen, beginnt die Mobilisierung. Nur wenigen Wahlvorständen gelingt es, die Stimmenauszählung ganz ohne ZeugInnen durchzuführen, fast überall bilden sich Menschentrauben um die Urnen, um zu verhindern, daß noch im Nachhinein weitere “Gespenster” wählen. Dennoch leistet der von der PRI gekaufte Wahlvorstand in Zopoco ganze Arbeit: Präsident und Sekretär sprinten mit den drei Urnen des Dorfes zur bereitstehenden camioneta und verschwinden. Wie später in der Distrikthauptstadt bekannt wird, erringt die Regierungspartei in Zopoco – als einzige Gemeinde in der Region – eine knappe Mehrheit…
In der Nachbargemeinde Nurío, in der die Opposition 840 Stimmen und die Regierungspartei 7 Stimmen errungen hat, versucht eine Patrouille der politischen Polizei, die Urne zu entwenden. Die DorfbewohnerInnen strömen auf den Platz, um die Urne zu “retten” – solange, bis die Patrouille sich geschlagen gibt. Viele verbringen die Nacht in Gruppen um Fernseher versammelt, um die ersten Hochrechnungen abzuwarten. Zweifel und Befürchtungen werden bestätigt, als ein schweißgetränkter Innenminster auf der Bildfläche erscheint und mit gefrorenem Lächeln erklärt, es werde “aus informationstechnischen Gründen” keine Hochrechnungen der staatlichen Wahlbehörde geben, und das Verbot der Veröffentlichung von Hochrechnungen der Nichtregierungsorganisationen bleibe bestehen. Dann, kurz nach Mitternacht, erste “Trends”: mindestens 50% für die Regierungspartei.
Dorfbewohner, die aus Chiapas von den ZapatistInnen zurückkommen, fassen die Entscheidungen der “Nationalen Demokratischen Konvention” zusammen: Wahlen waren immer nur ein Weg unter vielen. Sie sind gescheitert, nun beginnt der zivile und bewaffnete Widerstand.
Glocken läuten
den Widerstand ein
Am nächsten Morgen beginnt in Cherán, im Kerngebiet der Purhépecha, die “insurgencia civil”. Glocken läuten, alle kommen auf der Plaza zusammen, die Frauen mit Keulen und die Männer mit Macheten bewaffnet, die politische Polizei zieht sich zurück und funkt in die Provinzhauptstadt. Während die Männer noch die letzten Wahlergebnisse diskutieren, besetzen die Frauen das Gelände des “Nationalen Indígenainstituts” (INI), einer Regierungsbehörde zur “Integration der indianischen Bevölkerung in die nationale Entwicklung”. Der einzige indianische Hochlandsender des INI verbreitet daraufhin zum ersten Mal in zehn Jahren unzensierte Interviews mit den Purhépecha. Die Bundesstraße nach Guadalajara wird blockiert; Touristenbusse werden angehalten., – “um Cárdenas in den Nationalpalast zu bringen”. Auch die LKWs von Coca-Cola und anderen multinationalen Unternehmen werden beschlagnahmt. Ganz Cherán gleicht einer Wagenburg; Fahrer und Fahrgäste aus den Großstädten irren herum. Die Büros sämtlicher Regierungsinstanzen werden gestürmt. Die Beamten werden “in den Urlaub nach Acapulco” geschickt, die Gebäude versiegelt. Ein Regenguß bewahrt das örtliche PRI-Büro vor einem ähnlichen Schicksal.
Chaotische Zustände
Am anderen Ende des Hochlands, in der Caoada, geht nichts mehr: Alle Straßen sind blockiert, nicht einmal die politische Polizei kann die Region verlassen. Die Regierung schickt daraufhin einen Militärhubschrauber, der im Tiefflug über die Dörfer kreist, um “Aufrührer” zu fotografieren. Ein Landeversuch auf der Plaza von Paracho erscheint allerdings angesichts der aufgebrachten BewohnerInnen für die Militärs lebensgefährlich, sie fliegen weiter. Beim zweiten Versuch in Cherán bereiten die BlockiererInnen ihren Besuchern ein wahres Feuerwerk: Mit Böllern und Raketen wird der Hubschrauber so lange beschossen, bis er hinter der Vulkankette verschwindet. Eine Versammlung wird einberufen. Was soll geschehen? Bloß vor den Fernsehern hocken und fluchen? Ein junger Lehrer schlägt vor, alle PRI-AnhängerInnen aus dem Ort zu treiben, ihnen die kommunalen Landrechte abzuerkennen. Eine ältere Frau greift kopfschüttelnd ein: “Das sind doch auch Purhépecha wie wir! Was würdest Du tun, wenn Deine Frau nach einer schwierigen Geburt zu Hause im Sterben liegt und Dir der Kazike gegen eine lächerliche PRI-Stimme ein Bett im Krankenhaus in der Stadt anbietet? Wir sind doch alle so arm, daß wir leicht zu kaufen sind. Nicht die PRI-Leute unter uns sind schuld, sondern die Regierung, Laßt uns nicht gegeneinander kämpfen!” Nicken, breite Zustimmung. Als Kompromiß wird beschlossen, die lokalen PRI-Anführer nicht mehr im Gemeinderat zuzulassen. Was tun? Die politische Polizei entwaffnen und ihre Wagen verbrennen? Der besonnene Don Chano winkt ab: “Aber dann kommt das Militär, und ich sag`s Euch, die sind noch schlimmer, fragt unsere Brüder und Schwestern in Chiapas!” Überhaupt Chiapas – “Warum glauben wir immer noch an Urnen und Stimmzettel, nach soviel Betrug? Was haben wir die letzten zehn Jahre getan, als sich die Zapatistas in der Selva organisiert haben, sich Waffen beschafft haben und trainiert worden sind? “Eine Nachbarin wendet ein, Chiapas sei ja reich, es gäbe Kaffee, Zukkerrohr und Rinderherden, davon könne man Waffen kaufen, aber doch nicht von unserem Mais, von unseren Bohnen. Krieg führen mit leerem Magen? Der Regen und die Dämmerung lösen das Treffen langsam auf; Einigkeit wird darüber erzielt, Kräfte zu schonen und gemeinsam am Samstag zur “Eroberung” des Zócalo, des Hauptplatzes von Mexiko-Stadt, zu fahren, um “unseren legitimen Präsidenten Cuauhtémoc Cárdenas” in sein Amt einzusetzen – Busse gäbe es ja jetzt zur Genüge. Und was die Sache mit den Waffen betrifft, mal sehen…