Mexiko | Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994

Zwischen Hoffnung, Banalität und Farce

Eine Momentaufnahme der mexikanischen Wahlen in der Provinz

ichoacán, Westmexiko: Der lang ersehnte und ebenso lang befürchtete Wahl­sonntag bricht in der Meseta Purhépecha, einer indianischen Hochlandregion, mit einem ungewöhnlich sonnigen Morgen an, dem es gelingt, den täglichen Regenguß bis in den frühen Nachmittag hinauszuzögern. Mit demonstrativer Ruhe werden an der Plaza unter den Arkaden, im Eingang zur Grundschule und auf dem Markt hinter den Tortilla- und Milchverkäuferinnen die Tische, Urnen und Wahlkabinen aufgebaut – allesamt mit der beteuernden Aufschrift “el voto es libre y secreto”. Gestört wird die Idylle nur durch die massive An­wesenheit der paramilitärischen politischen Polizei: In Cherán, Paracho und im Tal der Caoada postieren sich die schwer bewaffneten “judiciales” (hier be­kannt als “per-judiciales”, Schädlinge) an strategischen Punkten wie auf Kreu­zungen, neben Urnen und vor Regierungsbüros auf. Die ersten Neugierigen, die an den soeben aufgebauten Wahlkabinen warten, fragen sich, wer da vor wem geschützt werden soll. Dennoch bleibt alles “friedlich”, die Ruhe läßt fast die Ereignisse der letzten Woche vergessen:

Gunther Dietz

Während “Nación Purhépecha”, eine re­gionale Koordination der Dorfgemeinden, alle Aufahrtsstraßen blockiert, und so das Hochland zumindest einen Tag lang sym­bolisch die erstrebte Territorialautonomie erreicht, ziehen Beamte des Landwirt­schaftsministeriums durch die Dörfer und verteilen PROCAMPO-Schecks. Das sind umgerechnet 200 Mark-Almosen, die jede Bauernfamilie aus dem “Programm zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der mexikanischen Landwirtschaft” gegenüber den NAFTA-Partnern Kanada und den USA, erhält.
Als Gegenleistung müssen sich die Bau­ern verpflichten, die “solidarische” Hilfe bei den Wahlen entsprechend zu würdi­gen. Nur in einigen, besonders kämpferi­schen Gemeinden betonen die campesinos ihr Anrecht auf Gelder der öffentlichen Hand und werfen die Beamten aus dem Ort. Gleichzeitig ziehen PRI-Führer durch die Dörfer und kaufen in letzter Minute ein paar Stimmen in dieser cardenisti­schen, also oppositionellen Region. Die Herren Ruíz, Toral und Velásquez, die PRI-hörige Elite von Paracho, tauschen Stimmen gegen Lebensmittelpakete.. Währenddessen beglückt das Gemeinde­kommittee der PRI in Cherán fieberhaft die Jungwähler mit Alkohol (1 Stimme = 1 Liter “Ron Presidente”), die campesinas mit Kilopackungen Tortillas und Bohnen und ihre Männer mit 50- bis 300 Peso-Scheinen; einige wichtige Familien erhal­ten Kälber als Geschenk, und die Bewoh­nerInnen des vor ein paar Jahren entstan­denen Slums am Dorfeingang werden mit Wellblechdächern beglückt.
Eine saubere Wahlmanipulation
Eine andere Variante der “Un­regel­mäßig­keiten” ist das Einziehen der persönlichen Wahlausweise, um Du­plikate anzuferti­gen, oder um sie ganz einzubehalten. In Nuro, einem rein cardenistischen Dorf, verschwinden so vierzig Ausweise, die von Doña Celia Ru­bio, der Frau des Kazi­ken, eingesammelt werden. In Paracho willigt eine Frauenko­operative sogar ein, ihre Ausweise dem PRI-Ortsvorstand aus­zuliefern – gegen das Versprechen, Kre­dite für sie zu beantra­gen. Angesichts die­ser althergebrachten Fälschungspraktiken, die entgegen allen “Modernisierungs-” und Öffnungsverspre­chen in den letzten Tagen um sich greifen, breiten sich Wut und Verzweiflung aus. Die Leute be­fürchten, daß sich die Wahl­situation von 1988 wiederholen könnte: Die Trends sprachen für die Oppo­sition, aber dann fiel der Zentralcomputer der Wahlbehörde angeblich aus. Ergebnis: PRI-Kandidat Salinas gewann.
Die große Mehrheit der Purhépecha trö­stet sich damit, daß ja diesesmal Wahlbe­obachter zugelassen sind und daß die großen Abschlußkundgebungen der Kan­didaten für einen deutlichen Sieg von Cárdenas sprachen. Entsprechend hoch ist die Wahlbeteiligung. Ab acht Uhr mor­gens bilden sich Schlangen vor den Ur­nen, alle warten geduldig darauf, ihren Wahlausweis vorzuzeigen, ihren Namen im WählerInnenverzeichnis wiederzufin­den, die drei Stimmzettel – für die Prä­sidentschaftswahlen sowie für die zwei Kammern des Nationalparlaments – auszu­füllen und abzugeben und schließlich ih­ren rechten Daumen mit waschfester Tinte zu markieren. Skeptische WählerInnen prüfen sofort, ob ihr Tintenfleck waschfest ist: Er ist es.
Wahlhelfer aus einer Großfamilie
In Tacuro bildet die ortsansässige PRI-Kazikenfamilie den Vorstand der einzigen Wahlkabine, und das, obwohl doch die Zusammensetzung aller Wahlvorstände einer Zufallsstichprobe entsprechen sollte! Auch in anderen Orten sind auffällig viele Kader der PRI-Minderheit in den Vor­stand gelangt und kontrollieren die Urnen. In Cherán finden sich nicht nur sämtliche Tote im Wahlverzeichnis, sie haben sogar schon allesamt zu früher Stunde gewählt! Dagegen müssen wirk­lich lebende Purhé­pecha unverrichteter Dinge nach Hause gehen, da sie trotz Be­sitz eines Wahlaus­weises nicht im Ver­zeichnis auftauchen und folglich gar nicht existieren.
Bei wackeligen Mehrheiten
wird nachgeholfen
Paracho, PRI-Festung im Hochland: Der Kazike Don Jesús Carranza , Besitzer der größten Gitarrenfabrik der Region ver­spricht seinen Arbeitern: “Wenn ihr PRI wählt, gibt es eine Lohnerhöhung, wenn nicht, werdet ihr entlassen!” Dann werden seine Tagelöhner zur nächsten Wahlka­bine gefahren, wo sie unter Aufsicht des Vorarbeiters ihr Kreuz machen.
In der Dämmerung
beginnt die Arbeit
Als die Wahllokale schließen, beginnt die Mobilisierung. Nur wenigen Wahlvor­ständen gelingt es, die Stimmenauszäh­lung ganz ohne ZeugInnen durch­zuführen, fast überall bilden sich Men­schentrauben um die Urnen, um zu ver­hindern, daß noch im Nachhinein weitere “Gespenster” wählen. Dennoch leistet der von der PRI gekaufte Wahlvorstand in Zopoco ganze Arbeit: Präsident und Se­kretär sprinten mit den drei Urnen des Dorfes zur bereit­stehenden camioneta und verschwinden. Wie später in der Di­strikthauptstadt be­kannt wird, erringt die Regierungspartei in Zopoco – als einzige Gemeinde in der Re­gion – eine knappe Mehrheit…
In der Nachbargemeinde Nurío, in der die Opposition 840 Stimmen und die Regie­rungspartei 7 Stimmen errungen hat, ver­sucht eine Patrouille der politischen Poli­zei, die Urne zu entwenden. Die Dorfbewoh­nerInnen strömen auf den Platz, um die Urne zu “retten” – solange, bis die Pa­trouille sich geschlagen gibt. Viele ver­bringen die Nacht in Gruppen um Fernse­her versammelt, um die ersten Hochrech­nungen abzuwarten. Zweifel und Be­fürchtungen werden bestätigt, als ein schweißgetränkter Innenminster auf der Bildfläche erscheint und mit gefrorenem Lächeln erklärt, es werde “aus informati­onstechnischen Gründen” keine Hoch­rechnungen der staatlichen Wahlbehörde geben, und das Verbot der Veröffentli­chung von Hochrechnungen der Nichtre­gierungsorganisationen bleibe bestehen. Dann, kurz nach Mitternacht, erste “Trends”: mindestens 50% für die Regie­rungspartei.
Dorfbewohner, die aus Chiapas von den ZapatistInnen zurückkommen, fassen die Entscheidungen der “Nationalen Demo­kratischen Konvention” zusammen: Wahlen waren immer nur ein Weg unter vielen. Sie sind gescheitert, nun beginnt der zivile und bewaffnete Widerstand.
Glocken läuten
den Widerstand ein
Am nächsten Morgen beginnt in Cherán, im Kerngebiet der Purhépecha, die “insurgencia civil”. Glocken läuten, alle kommen auf der Plaza zusammen, die Frauen mit Keulen und die Männer mit Macheten bewaffnet, die politische Polizei zieht sich zurück und funkt in die Pro­vinzhauptstadt. Während die Männer noch die letzten Wahlergebnisse diskutieren, besetzen die Frauen das Gelände des “Nationalen Indígenainstituts” (INI), einer Regierungsbehörde zur “Integration der indianischen Bevölkerung in die nationale Entwicklung”. Der einzige indianische Hochlandsender des INI verbreitet darauf­hin zum ersten Mal in zehn Jahren unzen­sierte Interviews mit den Purhépecha. Die Bundesstraße nach Guadalajara wird blockiert; Touristenbusse werden ange­halten., – “um Cárdenas in den National­palast zu bringen”. Auch die LKWs von Coca-Cola und anderen multinationalen Unternehmen werden beschlagnahmt. Ganz Cherán gleicht einer Wagenburg; Fahrer und Fahrgäste aus den Großstädten irren herum. Die Büros sämtlicher Regie­rungsinstanzen werden gestürmt. Die Be­amten werden “in den Urlaub nach Aca­pulco” geschickt, die Gebäude versiegelt. Ein Regenguß bewahrt das örtliche PRI-Büro vor einem ähnlichen Schicksal.
Chaotische Zustände
Am anderen Ende des Hochlands, in der Caoada, geht nichts mehr: Alle Straßen sind blockiert, nicht einmal die politische Polizei kann die Region verlassen. Die Regierung schickt daraufhin einen Mili­tärhubschrauber, der im Tiefflug über die Dörfer kreist, um “Aufrührer” zu fotogra­fieren. Ein Landeversuch auf der Plaza von Paracho erscheint allerdings ange­sichts der auf­gebrachten BewohnerInnen für die Mili­tärs lebensgefährlich, sie flie­gen weiter. Beim zweiten Versuch in Cherán be­reiten die BlockiererInnen ihren Besu­chern ein wahres Feuerwerk: Mit Böllern und Raketen wird der Hubschrau­ber so lange beschossen, bis er hinter der Vul­kankette verschwindet. Eine Versamm­lung wird einberufen. Was soll gesche­hen? Bloß vor den Fernsehern hoc­ken und fluchen? Ein junger Lehrer schlägt vor, alle PRI-AnhängerInnen aus dem Ort zu treiben, ihnen die kommuna­len Land­rechte abzuerkennen. Eine ältere Frau greift kopfschüttelnd ein: “Das sind doch auch Purhépecha wie wir! Was wür­dest Du tun, wenn Deine Frau nach einer schwierigen Geburt zu Hause im Sterben liegt und Dir der Kazike gegen eine lä­cherliche PRI-Stimme ein Bett im Kran­kenhaus in der Stadt anbietet? Wir sind doch alle so arm, daß wir leicht zu kaufen sind. Nicht die PRI-Leute unter uns sind schuld, sondern die Regierung, Laßt uns nicht gegeneinander kämpfen!” Nicken, breite Zustimmung. Als Kompromiß wird beschlossen, die lokalen PRI-Anführer nicht mehr im Gemeinderat zuzulassen. Was tun? Die politische Polizei entwaff­nen und ihre Wagen verbrennen? Der be­sonnene Don Chano winkt ab: “Aber dann kommt das Militär, und ich sag`s Euch, die sind noch schlimmer, fragt unsere Brüder und Schwestern in Chiapas!” Überhaupt Chiapas – “Warum glauben wir immer noch an Urnen und Stimmzettel, nach soviel Betrug? Was haben wir die letzten zehn Jahre getan, als sich die Za­patistas in der Selva organisiert haben, sich Waffen beschafft haben und trainiert worden sind? “Eine Nachbarin wendet ein, Chiapas sei ja reich, es gäbe Kaffee, Zuk­kerrohr und Rinderherden, davon könne man Waffen kaufen, aber doch nicht von unserem Mais, von unseren Bohnen. Krieg führen mit leerem Magen? Der Re­gen und die Dämmerung lösen das Treffen langsam auf; Einigkeit wird darüber er­zielt, Kräfte zu schonen und gemeinsam am Samstag zur “Eroberung” des Zócalo, des Haupt­platzes von Mexiko-Stadt, zu fahren, um “unseren legitimen Präsidenten Cuauhtémoc Cárdenas” in sein Amt ein­zusetzen – Busse gäbe es ja jetzt zur Ge­nüge. Und was die Sache mit den Waffen betrifft, mal sehen…

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