Mexiko | Nummer 249 - März 1995

“Wir schaffen eine neue Realität”

Besetzte Kaffeefinca in Chiapas ermöglicht neue Perspektiven

In Chiapas werden 35 Prozent des mexikanischen Kaffees produziert. Ein Großteil die­ses Exportproduktes wird im Süden von Chiapas angebaut, hauptsächlich in den Re­gionen Fraylesca und Sierra. Hier befinden sich die großen Plantagen, de­ren Namen durch ihren fremden Klang hervorstechen: Hamburgo, Bremen, Berlin, Lubeka, Pru­sia (Preußen)… Diese Anfang des Jahrhunderts unter der Diktatur des Generals Porfi­rio Díaz von deutschen EinwandererInnen gegründeten Latifundien sor­gen seit Monaten für Schlagzeilen in der Lokalpresse.

Frank Kreuzer

In dieser Zone, in der die Zapatistische Befrei­ungsarmee EZLN militärisch nicht präsent ist, haben Campesino-Organisa­tionen ver­schiedenster politischer Rich­tungen zahlreiche Län­dereien von Groß­grundbesitzern besetzt, um dem histori­schen Ruf der landlosen Bauern nach Grund und Boden Gel­tung zu verschaffen. Eine dieser Organisatio­nen ist die “Unión de Campesinos y Po­pular Francisco Villa”, die in 14 Gemein­den der Region Fraylesca aktiv ist. Trotz mehrerer be­waffneter Räumungsversuche durch von Großgrundbesitzern aufgestellte Söldner­truppen sogenannte Guardias Blancas befinden sich weiterhin 9 Fincas unter Kontrolle der Villisten. Als erstem interna­tionalen Jour­nalisten wurde mir am 1. Februar 1995 ein Besuch der seit dem 4. August letzten Jah­res besetzten Finca Liquidambar gestattet.
“Wir sind keine Guerilla, sondern eine Campesino-Organisation, die einen unbe­waffneten Kampf für ein menschenwürdi­ges Leben auf eigenem Land führt”, er­klärte Eduardo, Füh­rungsmitglied der UCPFV auf unserem Rundgang auf der Finca. “Vielleicht werden wir ökonomisch nicht besser leben, aber in Würde. Sie nannten uns dreckige Indianer. Mit diesen Beleidi­gungen ist jetzt Schluß.” Unser er­ster Weg führt uns in das Verwaltungsge­bäude, wo ich auf Relikte bekannter und vermeintlich vergangener Zeiten treffe: Eine Wehrmachtsurkunde an der Wand, eine Bismarckbüste auf dem Schrank. Im Bücherregal entdecke ich neben “Die Schlacht von Stalingrad” und Berichten über das “Schicksal der 6. Armee” auch ein Werk des US-amerikanischen Ethno­logen Oscar Lewis ” Zeugnisse von armen Mexika­nern”. An der Zahlstelle, wo sich die KaffeepflanzerInnen ihren kargen Lohn ab­holten, prangt ein Aufkleber, der zy­nischer kaum sein kann: “Dinero en ma­nos del pobre”, übersetzt: “Geld in Hän­den der Armen – armes Geld.”
Billardtisch und Hausbar
Auf einer Anhöhe, mit Blick über die mindestens 2.000 Hektar umfas­sende Kaf­feeplantage, steht das Haus der Ex-Besit­zerInnen. Die Villa “der Rei­chen”, wie die deut­schen Finqueros hier genannt werden, ist von einem Blumengarten umgeben. Hier residierte das Ehepaar Margarita Schimpf und Laurenz Hulders mit ihrem Sohn, bis sie am 4. August letzten Jahres ange­sichts der rebellierenden Cam­pe­sinos/as fluchtartig Liquidambar ver­ließen. “Wenn die Rei­chen in ihr Haus wol­len, können sie kommen und mit uns le­ben. Aber sie wer­den nicht mehr Land er­halten als wir alle.” Eduardo begleitet mich ins Innere des leerstehenden Ge­bäudes, dessen luxuriöse Ausstattung den Villistas am Tag der Be­setzung die Sprache verschlug: Billard-Salon, Bo­dybuilding-Center, Hausbar, Weinkel­ler. “Die Getränke, vor allem Cham­pagner und französische Weine, wur­den nach der Besetzung ausgetrunken. Aber jetzt ist auf unserer Finca Alko­holverbot” erklärt Eduardo, “da das Geld der Familien für wichtigere Dinge ausge­geben werden soll.” Vorbei an zwei Swimming-Pools verlassen wir den Herr­schaftssitz und betreten die Sied­lung der Finca. Während in den weni­gen Steinhäu­sern die Verwalter lebten, waren die Kaf­fee­pflückerInnen, in der Ern­tezeit etwa 2000 Per­sonen, in Baracken untergebracht. “Hühnerställe” wurden diese etwa 120 Quadratmeter großen Holzbauten genannt, in denen ca. 100 Menschen monatelang “wohnten”. Bis vor einem halben Jahr wa­ren hier die Zustände Wirklichkeit, die B. Traven in seinem Buch “Die Rebellion der Ge­henkten” beschreibt. Neben der klei­nen Kapelle, im Zentrum der Siedlung, befand sich die “Tienda de Raya”. In diesem La­den konnten die Campesinos ihre Fichas, statt Geld für die gelei­stete Arbeit ausge­gebene Wertmarken, gegen Kleidung, Werkzeuge und billi­gen Fusel eintau­schen. Für den Ar­beitstag, der von 5 bis 20 Uhr dauerte, erhielten die Kaffeear­beiterInnen Marken im Gegenwert von 8 Pesos, die Frauen unter ihnen weniger. Das portionierte Es­sen – Tor­tillas, Bohnen und Kaffee – wurde vom Lohn abgezogen. Medizini­sche Versor­gung gab es in Liquidambar für die Peones nicht. Allerdings konnten die­jenigen, die in der Nähe über eine kleine Parzelle Land verfügten, Kredite für den Kauf der Medikamente bei den Finca-Be­sitzerInnen aufnehmen. Als Gegen­leistung mußten den Deutschen die Be­sitztitel über­lassen werden. Durch diese Methode haben sich über die Hälfte der BewohnerInnen des in der Nähe von Li­quidambar gelegenen Ortes Nueva Pale­stina verschuldet. Was mit den Menschen passierte, die über keine “Reserven” ver­fügten, läßt ein im Wald der Finca ange­legter Friedhof vermuten. Holzkreuze ohne Namen und ohne Daten symbolisie­ren das Ende der Leidenswege zerschun­dener TagelöhnerInnen. Eduardo erklärt: “Hier sind diejenigen begraben, die ohne Fami­lien gekommen waren, zum Großteil Guatemalteken, Nicaraguaner und Salva­dorianer. Diesen illegalen Wanderarbei­tern wurden bei Arbeits­beginn von den Verwaltern die Papiere abgenommen, um Auflehnungen, vor allem gegen Betrug bei den Lohnzah­lungen, vorzubeugen.” Falls es doch zu Protesten gegen die Verhält­nisse kam, oftmals am arbeitsfreien Sonn­tag, wenn die Campesinos ihr Leid im Suff er­tränkten, wurden sie von Auf­pas­sern in das Gefängnis der Finca ge­worfen. Die folgende Geldstrafe wurde vom Lohn abgezogen. Diese Zustände sind jetzt vorbei.
Arbeit unter Selbstverwaltung
Es ist Abend geworden, die Kaffee­pflückerInnen bringen die Bohnen von den Feldern. Zum ersten Mal in ihrem Le­ben arbeiten die Menschen in Li­quidambar unter Selbstverwaltung. Die Ernte ist gut und der Kaffeepreis ge­stiegen. Während der Tageslohn vor der Besetzung bei 8 Pesos lag, werden jetzt zwischen 60 und 100 Pesos (ca. 12 bis 20 US-Dollar) ausgezahlt, je nach gepflück­ter Menge Kaffee. Da die Produktionsan­lage nicht wie in vielen anderen Fincas von den Ex-Be­sitzerInnen sabotiert wurde, läuft der Wasch- und Troc­knungs­vor­gang relativ reibungslos. Auch beim Ver­kauf des zum größten Teil organischen Kaffees gibt es keine Probleme – nicht mehr. Die Boykottversuche der Groß­grund­be­sitzer sind in dieser Region ge­schei­tert, da sich die Kaffee-Aufkäufer das lukrative Ge­schäft nicht entgehen las­sen wollen. Al­lerdings werden die Vil­listas in Liquidam­bar höchstens die Hälfte des reifen Kaf­fees ernten kön­nen. Das liegt vor allem daran, daß es die UCPFV ablehnt, fremde Leute einzustellen. Eduardo: “In den von uns besetzten Fincas sind die Arbeits- und Le­bens­formen unterschiedlich. Hier in Li­qui­dam­bar wird alles kollektiv ver­waltet und be­arbeitet. Alle Menschen, die hier arbeiten, sind Mitglieder der Kooperative. Wir be­zahlen uns, Män­nern und Frauen, die glei­chen Löhne, das Essen ist für alle um­sonst, und die Häuser – die Baracken wer­den nicht bewohnt – stehen den Fami­lien zur Verfügung.”
Nach eigenen Angaben sind über 1000 Familien in der UCPFV organi­siert, über­wiegend in der Region Fraylesca. Die UCPFV existiert seit über vier Jahren, ist je­doch erst bei den Besetzungen von Li­quidambar am 4. August und Prusia am 7. September letzten Jahres öffentlich unter diesem Namen aufgetreten. Eduardo: “Un­se­re ersten Aktionen waren die Beset­zungen der Fincas Salvador Urbina und Agua Piedra Blanca am 16. Februar 1991. In den folgenden drei Jahren, wir nennen sie Etappe des Widerstandes und der Rei­fung, mußten wir lernen, mit für uns neuen Situationen fertigzuwerden. Räu­mungen, Festnahmen, Morde an unseren Mitgliedern durch Guardias Blancas, Wie­derbesetzungen wechsel­ten einander ab. In dieser Region ist die Repression ge­gen sich organisie­rende Campesinos/as durch die traditio­nell enge Verflechtung von Groß­grundbesitzerInnen, Poli­tikerIn­nen der seit über 60 Jahren regierenden PRI und dem Polizeiapparat besonders aus­geprägt. So wurden am 5. September Roberto H. Pa­niagua, ein für die Interessen der Campesinos/as ein-ge­tre­tener Politiker der PRD, und am 30. Oktober 1994 ein Mit­glied der UCPFV von Pistoleros der Fin­queros ermordet. Eduardo: “Wir schaffen eine neue Realität, ge­gen die Unterdrük­kung durch Guardias Blancas und Polizei. Dabei können wir nur auf unsere eigene Stärke, die un­bewaffnete Organisierung, ver­trauen.” Die blutigen Erfahrungen, die die Vil­listas machen mußten, erschweren die von ihnen angestrebten Legalisierun­gen der besetzten Fincas. Das Mißtrauen gegenüber den staatlichen Stellen sitzt tief. Ein nicht genauer definiertes An­gebot des Gouverneurs, ihnen im Tausch gegen Liquidambar 1500 Hektar Land in einem anderen Land­kreis zur Verfügung zu stel­len, lehnte die UCPFV ab. Eduardo: “Wir wissen nicht, wo diese 1500 Hektar sein sol­len. Dieses zu akzeptieren hieße, das Land den dortigen Campesinos wegzu­nehmen. Wir wollen keine andere Finca, sondern das Land, das seit Generationen von uns bearbeitet wird.”
Die Mütze bleibt drüber
Die Zukunft der von der UCPFV be­setzten Finca ist ungewiß. Der Bruch des mit der EZLN ausgehan­delten Waffen­stillstandes durch die mexikanische Regie­rung läßt auch ein gewaltsames Vorgehen gegen die rund 700 in Chiapas enteigneten Ländereien befürchten. Verschiedene Groß­grund­besitzervereinigungen haben die Exi­stenz einer 700 Mann starken Ar­mee von Guardias Blancas bestätigt. Jorge Constantino Kanter, Präsident der re­gionalen Landbesitzerunion, wurde am 30. Januar auf einer Pressekonferenz deutlich: “Wenn in 30 Tagen die be­setzten Fincas nicht geräumt sind, werden wir selber die Initiative ergrei­fen. Unsere Ak­tionen werden sich speziell gegen Führer von Campesino-Organisationen richten.” In der Region Freylesca operiert nach Presseangaben das Todesschwadron “Fren­te Tiburcio Fernandez”, benannt nach dem An­führer der Konterrevolution in dieser Region während der 20er Jahre. An­gesichts dieser Bedrohungen ist es ver­ständlich, daß die Villistas weder ihre Namen nennen, noch sich ohne Gesichts­schutz fotografieren lassen.

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