Modernisierung von oben oder Organisierung von unten?
Die neue PRI-Politik unter Salinas de Gortari
Die Macht der Partei der Institutionellen Revolution (PRI – Partido de la Revolución Institucional) war 1988 erstmals konkret in Frage gestellt worden; nur mit hauchdünner absoluter Mehrheit gewann sie die Präsidentschaftswahlen, und niemand zweifelt daran, daß sie ohne Wahlfälschungen von der Opposition überrundet worden wäre. So steht das Projekt von Salinas, gegen Korruption, Vetternwirtschaft und zentrale Wirtschaftsverwaltung durch die traditionelle “Politische Familie” vorzugehen, unter nicht gerade demokratischen Vorzeichen.
Dennoch kann Salinas anderthalb Jahre nach seinem Amtsantritt beachtliche Erfolge vorweisen. Kaum im Amt, ließ er den Chef der starken ErdölarbeiterInnengewerkschaft La Quina festnehmen und legte sich mit der gesamten Gewerkschaftshierarchie an. Auch scheute Salinas nicht den Streit mit den Unternehmern, als er im Frühjahr 1989 Eduardo Legorreta, Börsenmanager und Mitglied einer der einflußreichsten Familien im Norden Mexikos, wegen Betruges hinter Gitter brachte. Seinem Ruf als ersten Präsidenten Mexikos, der der Korruption die Stirn bietet, wollte er noch einen demokratischen Anstrich geben, indem er erstmals einer Oppositionspartei den Sieg bei einer Gouverneurswahl zubilligte – der rechten PAN (Partido Acción Nacional) in Baja California. Wurde Präsident Salinas de Gortari noch verhergesagt, er werde seine sechsjährige Regierungszeit nicht ungeschoren überstehen, sitzt er jetzt fest im Sattel und scheint sogar die Krise der PRI überwunden zu haben.
Es herrscht jedoch keine Ruhe im Land. Im Gegenteil, gerade an den Stellen, an denen er mit den traditionellen Politikmustern der PRI gebrochen hat, entstehen Brüche, die sein Demokratisierungsprojekt als ein künstliches, in Mexiko kaum realisierbares entlarven. Zu nennen sind hierbei in erster Linie die Modernisierung der mexikanischen Wirtschaft und die zunehmende Gewalt in den politischen Auseinandersetzungen (vgl. LN Nr. 192).
Kehrseite der in volkswirtschaftlichen Kategorien recht erfolgreichen Wirtschaftspolitik ist neben der prekären sozialen Lage im Land die Aufgabe der für die MexikanerInnen so wichtigen nationalen Souveränität. Politik der Modernisierung bedeudet für Salinas die Orientierung an den Vorstellungen der USA, umgesetzt durch die Privatisierung vieler Staatsbetriebe, Auslandsbeteiligungen in Schlüsselindustrien, Lockerung der Zollpolitik im Rahmen des GATT-Abkommens und die konsequente Bedienung des Schuldendienstes. Nächster Schritt ist die Schaffung eines gemeinsamen Nordamerikanischen Maktes mit den USA und Kanada, der faktisch schon beschlossen ist, doch von mexikanischer Seite nicht als solcher bezeichnet wird, da dies in Mexiko als Aufgabe der politischen und wirtschaftlichen Souveränität gewertet werden würde. Zwei wichtige Klammern des PRI-Diskurses, die Betonung der nationalen- gegenüber den US-Interessen und die formelle Bevorzugung von Gewerkschafts- gegenüber Unternehmerinteressen, werden offiziell fallengelassen, wodurch die Integrationskraft des Systems geschwächt wird.
Die in allen Bereichen zurückgehende Integrationskraft der PRI muß auch als Ursache für die massive Gewaltanwendung in politischen wie sozialen Auseinandersetzungen gesehen werden. Während es bisher immer gelang, aufstrebende oppositionelle Kräfte, sei es in Gewerkschaften, Basisbewegungen oder Parteien, durch Kooptation der führenden Köpfe und geringfügige Reformen in die PRI-Politik zu integrieren, zeigte sich im vergangenen Jahr, daß die PRI keine Alternative mehr zum Einsatz massiver Gewalt sah. Seitdem schwelen monatelange Arbeitskämpfe in verschiedenen Landesteilen, und der erstmalige Einsatz des Militärs nach den Wahlen in Michoacán und Guerrero forderte schon über 50 Todesopfer (s. LN Nr. 192).
Noch ist nicht abzusehen, welchen Ausgang Salinas’ Projekt einer Demokratisierung durch Modernisierung von Wirtschaft und Politik nimmt. Seine Position ist ausreichend gefestigt, um den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, doch je weiter er kommt, umso fraglicher wird, was dieser Weg mit Demokratie zu tun hat.
Das Charisma von Cuauthémoc Cárdenas
Krise und die geleugnete Wahlniederlage der Regierungspartei sind nicht nur hausgemacht. In der traditionell zersplitterten mexikanischen Linken hat 1988 ein Einigungsprozeß stattgefunden, der genauso einmalig in deren Geschichte wie riskant in seiner Ausrichtung ist. Die Vereinigung ist auf die Person von Cuauthémoc Cárdenas zugespitzt, Sohn des allseits beliebten Präsidenten von 1934-1940, Lázaro Cárdenas.
Nachdem sein Reformprojekt innerhalb der PRI mißglückt war, lief er mit Beginn des Wahlkampfes 1988 mitsamt seiner Corriente Democrática del PRI (Demokratische Strömung in der PRI) zur Opposition über und gründete die FDN (Demokratisch Nationale Front), der sich Zug um Zug fast alle linken Parteien und Gruppierungen anschlossen. Damit existierte erstmals eine Oppositionskoalition, die real die Machtfrage stellen konnte und dies auch tat. Obwohl die Wahlniederlage der PRI politisch nicht durchgesetzt werden konnte, hat die
Kampagne und landesweite Mobilisierungsfähigkeit unter Cárdenas zu einer Politisierung geführt, die auch die eher passiven Sektoren der mexikanischen Bevölkerung erreicht hat.
Doch der Schlüssel zum Erfolg ist zugleich eine große Gefahr für die Linke. Der mexikanische Sozialwissenschaftler Enrique Semo schreibt ein Jahr nach der Wahl: “Die Linke, die sich der Neocardenistischen Bewegung anschloß, bewahrte ihre Präsenz in der Massenbewegung unter Inkaufnahme eines schweren Identitätsverlust. Das heißt: Die sozialistische Linke hat heute eine Anhängerschaft, die sie (noch) nie erreichen konnte, hat aber die Fähigkeit verloren, sie mit eigener Stimme zu leiten. Die Volksrebellion folgte dem Ruf von Cárdenas. Die Linke nimmt an ihr Teil, führt sie aber nicht.” (Enrique Semo, Veinte Años Después, Juni 1989, Mexico D.F.) Wie so häufig steht und fällt eine Bewegung mit ihrem charismatischen Führer und ist zudem an dessen politische Ausrichtung gebunden.
Nachfolgerin der FDN wurde die PRD (Partido de la Revolución Demócrata – Partei der Demokratischen Revolution), die zu ihrer Gründung die offizielle Registrierung der sozialistischen PMS übernahm und nun unter Cárdenas die Politik der Parteilinken bestimmt. In dem Versuch, den erneuten Vormarsch der PRI aufzuhalten, konzentriert sich die PRD auf die anstehenden regionalen Wahlen und profiliert sich hauptsächlich bei den Auseinandersetzungen um Wahlfälschungen in ihren Hochburgen – was vielen Mitgliedern das Leben kostete.
In einem Rückblick auf das erste Jahr der PRD zeigt die linke Tageszeitung “La Jornada” am 15.5.90 die Schwachstellen dieser Partei auf:
Nach außen: viele Tote und Verhaftete, Hetzkampagne der Medien, Anfeindung von Regierung und Wirtschaftsverbänden.
Nach Innen: Alte Politikmuster, Intrigen, keine gemeinsame Linie der einzelnen vorher existierenden Gruppierungen, Streit zwischen “Revolutionären” und “Reformisten”, schwerfälliger Apparat und autoritäre Führung.
Programmatik: Überholte Ökonomievorstellungen und fehlende Klarheit bei politischen Aussagen.
Angetreten ist Cárdenas mit dem Anspruch, die Politikstruktur Mexikos zu demokratisieren – zuerst innerhalb der PRI, und als dies scheiterte, gegen die PRI. Seine Erfolge haben zum einen die PRI gezwungen, sensibler mit den Erwartungen und Forderungen der Bevölkerung umzugehen, soweit ihre eigene Machtposition nicht gefährdet war. Zum anderen entwickelte sich das Bewußtsein, daß auch gegen die Regierungspartei Politik zu machen ist, was seinen Ausdruck in oppositionellen Aktivitäten in fast allen Lebensbereichen findet. Jedoch steht zu befürchten, daß nach dem Kulminationspunkt Präsidentschaftswahlen 1988 die Parteilinke wieder in den alten Trott verfällt und nicht in der Lage sein wird, die errungenen Positionen auszubauen.
Noch vor dem Auftreten von Cárdenas führte 1985 das verheerende Erdbeben in Mexiko-Stadt zu einer breiten Mobilisierung der Basisbewegungen, deren Entwicklung parallel zum Neocardenismus eine steile Aufwärtstendenz zeigt. Vor allem in der Hauptstadt führte die Untätigkeit der Regierung nach dem Erd
beben dazu, daß eine Vielzahl von Selbsthilfeorganisationen entstand, die bald in eine aktive Stadtteilbewegung, unterstützt von unabhängigen Gewerkschaften, mündete.
Die Basisbewegung im Aufschwung
Trotz ihres Mißtrauens gegen Parteipolitik gliederten sich fast alle Gruppen der Basisbewegung in die Kampagne von Cárdenas ein, kämpften gegen den Wahlbetrug, forderten eine gerechte Mietpolitik, unterstützten die unabhängigen Gewerkschaften in ihren Lohnforderungen und nahmen schließlich auch an der Kampagne zur Streichung der Auslandsschulden teil. Auch die politischen Organisationen auf dem Land und unabhängige BäuerInnengewerkschaften gewannen neue Mitglieder hinzu und unterstüztzen die PRD in den jeweiligen Bundesstaaten, insbesondere in Guerrero, Michoacán und Oaxaca.
Die wichtigsten Träger dieser neuen sozialen Bewegungen entstanden unmittelbar in Folge des Erdbebens. Dazu zählt die Näherinnengewerkschaft 19. September, die nach der Zerstörung vieler Konfektionsunternehmen durch das Erdbeben eine Organisierung der von Entlassung bedrohten Näherinnen ermöglichte, Forderungen nach kollektiven Arbeitsverträgen durchsetzte und beim Aufbau von Kooperativen mithalf.
Die Asamblea de Barrios (Stadtteilversammlung) nahm sich der Wohnungs- und Mietpolitik an, indem sie aus der unmittelbaren Selbsthilfe beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben eine politische Organisation der betroffenen Familien aufbaute, die durch konkrete Forderungen und Vorschläge an die Regierung Einfluß nahm und durch Besetzungen von Grundstücken und Gebäuden den Wohnungsnotstand bekämpfte. Führer dieser Bewegung ist “Superbarrio”, der im Gegensatz zu Cárdenas kein Caudillo, sondern nur ein Symbol des Widerstandes ist. Er ist Freistilringer (Lucha Libre) und stellt in Schaukämpfen das Gute dar, das über das jeweils Böse, den Miethai, den Schuldeneintreiber, oder über Aids siegt. Da er immer maskiert auftritt, ist er nicht als Person identifizierbar, sondern repräsentiert auf antiautoritäre Weise die Hoffnungen der Bevölkerung in den Stadtteilen. Er taucht auf allen politischen Veranstaltungen auf, nimmt an Demonstrationen teil und verhandelt mit Politikern, ohne jemals die Maske abzunehmen.
Dachorganisation der Basisbewegung in der Hauptstadt ist die CONAMUP (Coordinación Nacional del Movimiento Urbano Popular – Nationale Koordination der Stadt- und Basisbewegung). Sie vereinigt Gruppen, deren Aktivitäten Ökologie, Versorgung, Wohnungsprobleme, Bürgerrechte, Gewalt gegen Frauen und vieles mehr umfassen. Unmittelbar zielt die Arbeit der Gruppen auf eine Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung ab. Nach eigenen Aussagen will die Bewegung jedoch versuchen, den lokalen Charakter ihrer Aktivitäten zu überwinden, um sich in eine Alternative zur bestehenden Regierung zu verwandeln (Zeitschrift Barrio Nuevo Nr. 2, Mexico D.F.).
Genau hier liegt das Problem der Basisbewegungen. Sie sind zwar keine “Einpunktbewegungen”, die nur kurze Zeit nach ihrem Auslöser oder während einer Konjunktur wie den Präsidentschaftswahlen existieren, doch fehlt ihnen ein politisches Konzept mit konkreten Alternativen, die über die bestehenden Kon
flikte hinausgehen. Im Gegensatz zu den Parteien haben sie eine reale, verläßliche Basis, sie ist aber beschränkt auf das unmittelbare Aktionsgebiet und noch besteht keine Infrastruktur, um die Regionalisierung zu überwinden.
Demokratie ohne Träger oder undemokratische Träger
Wenn es um Demokratie geht, ist es um Mexiko schlecht bestellt. Das korrupte Einparteinsystem, im demokratischen Mantel, ohne militaristische Strukturen und außenpolitisch mit progressivem Image, gab bisher weder Anlaß noch Möglichkeiten zu einem demokratischen Wandel. Gleichzeitig verhinderte es effektiv eine Organisierung von unten – alle integrierbaren Ansätze wurden kooptiert, die übrigen verfolgt und aufgerieben.
So ist der Begriff einer “Demokratisierung von oben” in Mexiko schon aufgrund der internen Konstellation in Frage zu stellen. Modernisierung von Wirtschaft und Politik, verbunden mit hohen sozialen Kosten und abgesichert durch formelle Wahlen nach westlichem Vorbild (kein Wahlbetrug mehr, dafür sinkende Beteiligung und ökonomische Erpressung), birgt weder Garantien für eine Auflösung des korrupten Apparates, noch ist zu erwarten, daß der Wandel des bisherigen Systems reibungslos zu bewerkstelligen ist. Gewalt zur Durchsetzung der Demokratie ist die Realität dieser Alternative.
Und die “Demokratisierung von unten” ist vor allem zeitlich noch nicht in Sicht. Das Manko der linken Oppositionskräfte ist die fehlende Interventionsfähigkeit. Die Basisbewegungen befinden sich erst im Aufbau, haben keine kontinuierliche Tradition vorzuweisen und sind gezwungen, sich auf die sozialen Konflikte und die Abwehr staatlicher Repression zu konzentrieren. Die Ergebnisse dieses Widerstandes sind allerdings ermutigend. Eher zuviel Tradition weisen demgegenüber die linken Parteien auf, deren heutige Schlagkraft zu großen Teilen der Integrationsfigur Cuauthémoc Cárdenas geschuldet ist. Die theoretische Auseinandersetzung über ein sozialistisches oder eher an möglichen Reformen orientiertes Parteiprogramm ist im vollen Gange und verhindert ein einheitliches Auftreten der PRD (Tageszeitung La Jornada, 17.5.90).
Trotz der guten Zusammenarbeit von PRD und Basisbewegung ist die Linke nicht in der Lage, der Stabilisierung der neuen PRI-Politik entscheidende Hindernisse in den Weg zu stellen. So wird Salinas de Gortari weiter auf Modernisierung setzen, und es steht zu befürchten, daß die Entwicklung der politischen und sozialen Gewalt der der Demokratie weiterhin vorauseilt.