Mexiko | Nummer 235 - Januar 1994

Weißer Rauch: Das Spiel ist aus

Mexikos PRI hat einen neuen Präsidentschaftskandidaten

Das Spiel des “tapado” (des verdeckten Kandidaten der PRI, der “Partei der In­stitutionalisierten Revolution”) ist zuende. Die Wetten sind geschlossen, die Re­sultate bekanntgeworden und der große Präsidentenfinger zeigt auf Luis Donaldo Colosio als den Präsidentschaftskandidaten. Das ist das einzig Wich­tige, alles andere war eine Übung an Spekulation, Einbildungskraft und Folk­lore – meint der folgende Kommentar der oppositionellen Tageszeitung “La Jornada”.

Alberto Aziz Nassif

Manche halten den destape, die Bekannt­gabe eines neuen PRI-Kandidaten also, für eine der wichtigsten Aufgaben eines am­tierenden Präsidenten. Das verrückte da­bei: Die PRI wartet darauf, daß der Präsi­dent den Kandidaten ernennt, und solange weiß nicht mal der Parteivorsitzende, was passieren wird, aber alle betrügen alle, ge­ben falsche Erkärungen ab und versuchen, die Bürger hinters Licht zu führen. Schö­nes Land, wo der “tapadismo” eine der wichtigsten Werte der politischen Kultur ist.
Aber hier die Gegenbeispiele, die uns zu differenzieren helfen: Vor ein paar Tagen ernannte die PAN (Partido Acción Nacio­nal) in einem demokratischen Parteitag ih­ren Kandidaten, und das gibt ihr viel über­zeugendes politisches Kapital. Und vor einigen Wochen ernannte die PRD (Partido de la Revolución Democrática) ebenso ihren Kandidaten, ohne Spielchen, und obwohl manche sagen, Cuauhtémoc Cárdenas sei schon vorher ausgekungelt, war es ein offener Vorgang.
Zum Glück hat sich in Mexiko einiges ge­ändert und der Kandidat der PRI hat heute kein automatisches Freilos zum Präsi­dentenamt mehr. Es wird zumindest ange­nommen, daß man dorthin mitterweile mit errunge­nen, und nicht mit fabrizierten Wähler­stimmen gelangen muß. Auf wel­che Art auch immer, der nächste Präsident muß aus den Wahlen hervorgehen, legiti­miert durch eine durchsichtige und glaubwür­dige Wahl. Alles andere würde uns sehr teuer zu stehen kommen.
Wir reden viel über die Hinder­nisse für die Demokratie, aber wenig über die eige­nen Beschränkungen unserer poli­tischen Kultur. Obwohl der Kandidat Colosio die Wahlen erst einmal gewinnen muß, wurde ihm am Tag seines desta­pes durch Radio und Fernsehen soviel Raum gegeben, als handle es sich schon um den nächsten Präsidenten. Auch wenn sich langsam eine Kultur des Wahlkampfes ent­wickelt hat, wird die Präsidentennachfolge zwischen einer gespaltenen Opposition (PRD und PAN) und der Staatsmaschine­rie entschie­den werden.
Die wichtigste Forderung bleibt, daß die Wahlen im August sauber verlaufen. Da­für müssen mehrere Bedingungen erfüllt werden: Wir müssen eine zivilisierte De­batte haben, die Spielregeln respektieren und ein Klima schaffen, in dem die Wäh­lerInnen sich ein Urteil bilden und durch ihre Stimmen frei entscheiden können.
Am Tag des destape waren die Medien sehr darum bemüht, den Lebenslauf von Colosio zu verbreiten. Interessanter ist aber, warum er gewählt wurde: Colosio vertritt am besten die Interessen Salinas’. Die anderen Kandidaten, Pedro Aspe (Finanzminister) und Manuel Camcho (Regent Mexiko- Stadts), die ein Projekt mit klarem politischem und ökonomi­schem Profil entworfen hatten, blieben auf der Strecke. So funktioniert unser politi­sches System.
Colosio hat, als er die Kandidatur annahm, zwischen all dem PRI-Geschwätz ein paar interessante Dinge gesagt: Bereitschaft, an einer Debatte mit der Opposition teilzu­nehmen, Offenlegung der Finanzierung des Wahlkampfes, Kontinuität der Wirt­schaftspolitik Salinas’ und eine Sozialre­form. Das Motto scheint zu sein: “Mehr Fortschritt!”, obwohl man ge­nauso hätte sagen können: “Mehr Demo­kratie!”, denn das wird die große Achse der Nachfolge sein. Nur, setzt jeder eben seine Prioritä­ten anders.
Man darf nicht vergessen, daß Colosio eine merkwürdige Kombination darstellt. Obwohl er völlig unter Salinas Fittiche steht, wurde unter seinem Parteivorsitz die erste Länderregierung der Opposition an­erkannt und die Partei 1991 umstruktu­riert. Aber er war auch noch Vorsitzender der PRI während der postelektoralen Kon­flikte in den Bundesstaaten Guana­juato, Michoacán und San Luis Potosí. Später war er als Sozial- und Ummwelt­minister verantwortlich für das ökonomi­sche Soli­daritätsprogramm der Regierung (PRO­NASOL). Auf diese Punkte und beson­ders auf die Organisatoren der Kampagne wird man achten müssen, denn: Sag mir, wer deine Wahlkampfma­nager sind, und ich sage dir, welche Kam­pagne uns er­wartet.
Kann sein, daß die Überlegungen der Re­gierung so lauten: Die Punkte, die mit der Ratifizierung der Freihandelsvertrages und der wirtschaftlichen Anpassung ge­wonnen wurden, reichen aus, um die Wahlen zu gewinnen, denn das Projekt Salinas’ ist langfristig angelegt. Und die Hegemonie der Partei reicht aus, um die reibungslose Nachfolge zu gestatten.
In dieser Strategie gibt es mehrere Schwachstellen, die die Opposition aus­nutzen müßte. All die Hoffnungen, die sich mit dem Freihandelsvertrag ver­binden, werden allenfalls langfristig zum tragen kommen. Derzeit aber haben wir große und alltägliche ökonomische Pro­bleme. Außerdem ist die PRI mitten in ei­ner Übergangsphase: Sie ist nicht mehr die unbesiegbare Maschine, aber ohne die Nabelschnur des Staatsapparates ist sie keine wettbewerbsfähige Partei. Sie ist “die Partei der Revolution”, wie ihr Kan­didat sagte, aber in einem Land, wo “re­vo­lutionär sein” irgendetwas oder gar nichts heißen kann.
Als Abschluß sei an die Wahlen am 28. November in Yucatán erinnert. Ob­wohl durch den destape die Blicke abge­lenkt wurden, verliefen sie nicht sauber, und die Opposition der PAN beginnt schon, ihren Protest zu organisieren. Es scheint, daß den Wahlfabrikanten der PRI mal wieder Öl übergelaufen ist. Vielleicht ist Yucatán nur eine Panne, vielleicht ein Omen, wir wissen es nicht.

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