“DAS HAT MICH ZUR STAATSFEINDIN GEMACHT”

Susana Prieto Terrazas
setzt sich seit 34 Jahren für die Rechte von Arbeiter*innen in den Maquiladoras an der Nordgrenze Mexikos ein. Selbst aus einer Arbeiter*innen-
familie der Grenzstadt Ciudad Juárez, ist ihr Engagement von eigenen Erfahrungen in den Maquiladoras geleitet. Um den von Korruption und Gleichgültigkeit gegenüber den Arbeiter*innen geprägten großen Gewerkschaftsbünden etwas entgegenzusetzen, gründete sie mit anderen Aktivist*innen Anfang 2019 die Bewegung 20/32. Laut Arbeitsrecht müssen Arbeitnehmer*innen, um gesetzlich von einer neuen Gewerkschaft vertreten werden zu können, fordern, dass die Inhaberschaft und Verwaltung des Tarifvertrags in deren Hände übergeht. Diese Forderung muss über eine Schlichtungs- und Schiedskommission an die beklagte Gewerkschaft gerichtet werden. Die Bearbeitung erfolgt nach einem Sonderverfahren, in der unter Anderem die Anhörung der Arbeitnehmer*innen vorgesehen ist.
(Foto: Privat)



Sie setzen sich als Rechtsanwältin für die Rechte der Arbeiter*innen in den Maquiladoras an der Nordgrenze ein. Was sind die wesentlichen Merkmale dieser Fabriken?

Die Ausbeutung, die fehlende Achtung der Menschenrechte und der Mangel an Vorkehrungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Die Verletzungen der Menschenrechte werden von der Regierung nicht nur geduldet, sie selbst sorgt dafür, dass sie passieren können. Daher ist es sehr praktisch für ausländische Unternehmen, ihre Montagefabriken an der Nordgrenze zu installieren.

Für die USA, Kanada und auch Deutschland ist die Produktion in Mexiko sehr günstig, weil die Arbeitskosten lächerlich sind. Hier in Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua haben wir zum Beispiel zwei deutsche Firmen, Mahle und Robert Bosch, die Bremsen für Autos herstellen.

Wie sind die Arbeitsbedingungen in den deutschen Fabriken?
Sie sind ähnlich wie in den US-amerikanischen – oder sogar schlechter. Die US-Unternehmen haben die Umgangsweise mit den Arbeitern und Arbeiterinnen in der gesamten Maquiladora-Industrie geprägt. Die Unternehmer treffen sich regelmäßig, um beispielsweise zu besprechen, wie sie Arbeitnehmer ohne Entschädigung entlassen können, indem sie diese zum Beispiel nur über Zeitverträge beschäftigen. Sie besprechen Möglichkeiten des Outsourcings von Arbeitern, um deren Arbeitsrechte zu unterwandern. Auch Einschüchterung ist ein Thema. Zum Beispiel wie man Arbeiter bedroht, wenn sie sich in einer Gewerkschaft organisieren. Viele werden dann einfach entlassen. Wenn Arbeiter dann klagen, werden Gerichtsverhandlungen solange hinaus- gezögert, bis die Arbeiter aufgeben und von ihren Forderungen Abstand nehmen.

Seit 2019 sind Sie Rechtsberaterin der Unabhängigen Nationalen Gewerkschaft der Arbeiter*innen im Industrie- und Dienstleistungssektor (SNITIS), die aus der Bewegung 20/32 entstand. Wie kam es dazu und was sind die Forderungen der Bewegung?
Die Unabhängige Nationale Gewerkschaft der Arbeiter*innen im Industrie- und Dienstleistungssektor Bewegung 20/32 ist mit der gleichnamigen Bewegung 20/32 in Matamoros, im nördlichen Bundesstaat Tamaulipas, im Januar 2019 entstanden. Mit dieser Gewerkschaft haben wir 48 Unternehmen, die den Beschäftigten ihren jährlichen Bonus in Höhe von 32.000 mexikanischen Pesos (1.250 Euro, Anm. d. Red.) streichen wollten, den Streik angedroht. In diesem Zusammenhang haben wir auf dem Rechtsweg Lohnerhöhungen von 20 Prozent erreicht. Das wurde an die Presse später als Erpressung verkauft.

Mein Ziel ist, mit anderen unabhängigen Arbeiterorganisationen zusammen eine breite, landesweite Bewegung aufzubauen und die korrupten, traditionellen Gewerkschaften abzuschaffen. Dann können die unabhängigen Gewerkschaften in Mexiko richtig arbeiten.

Also spielt Korruption innerhalb der traditionellen Gewerkschaften eine Rolle?
Niemand glaubt, dass es hier keine Korruption gibt. Es gibt keinerlei Transparenz über die Verwendung der Mitgliedsbeiträge und die Arbeiter profitieren in keiner Weise von ihrer Mitglied-schaft. Die unabhängigen Gewerkschaften sind bereits gegründet. Doch wir können nicht um die Inhaberschaft der Tarifverträge kämpfen, weil es keine entsprechenden Schiedskommissionen gibt.

Was sind die größten Schwierigkeiten, sich als Arbeiter*in einer Maquiladora gewerkschaftlich zu organisieren?
Du hast kein Geld, du hast keine Zeit, du hast Angst, entlassen zu werden. Das sind die Waffen, die von der Maquiladora- und Fertigungsindustrie verwendet werden. Wenn du dich zur Verteidigung gemeinsamer Interessen, insbesondere des Gehalts, organisierst oder mit anderen Beschäftigten zusammenschließt, wirst du entlassen und in anderen Fabriken nicht mehr eingestellt.

Gab es Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in den nordmexikanischen Maquiladoras seitdem López Obrador Präsident ist?
Absolut nicht. Der Präsident von Mexiko ist Komplize bei der Ausbeutung der Arbeiter durch die Maquiladora-Industrie. Es gibt einen Mangel an Arbeitsalternativen im Grenzgebiet. Angesichts der Verdrängung des landwirtschaftlichen Sektors kommen Menschen aus Chiapas und dem Rest der Republik nach Nordmexiko, um unter diesen prekären Bedingungen arbeiten zu können. Da kaum alternative Einnahmequellen existieren, können die Unternehmen Druck auf den Präsidenten ausüben. López Obrador erklärt gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten, dass sie ihre Rechte geltend machen sollen, aber ohne die Unternehmen dabei zu verärgern. Denn er sagt, wenn die Unternehmen abziehen würden, blieben uns keine Arbeitsmöglichkeiten mehr. Daran wird deutlich, dass wirtschaftliche Interessen immer über denen der Arbeiter stehen.

Haben sich die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer*innen in den Maquiladoras während der Covid 19-Pandemie verschlechtert?
Sie sind in einer schrecklichen Lage. Die Produktion in den Maquiladoras funktioniert so, dass entweder alle arbeiten oder niemand. Alle Arbeiter und Arbeiterinnen arbeiten Schulter an Schulter, sodass sie während ihres gesamten Arbeitstages keine Sekunde Pause machen können. Das ist eine idiotische Strategie. Die Vorkehrungen, die zur Sicherheit getroffen wurden, sind lächerlich. Sie geben den Arbeitern Masken, die aussehen wie eine Rolle Toilettenpapier, die mit zwei Gummibändern befestigt ist und das war’s.

Hinzu kommt, dass die am stärksten gefährdeten Arbeitnehmerinnen nach Hause geschickt wurden, ohne dass ihnen 100 Prozent der Entschädigung gezahlt wurde. Das verstößt gegen die Verordnung des gesundheitlichen Notstands. Beschäftigte mit chronischen Erkrankungen werden sonst nirgendwo Arbeit finden. Dies wird zu einem schrecklichen Problem der öffentlichen Gesundheit führen, da die Menschen, die entlassen wurden, keine Versicherung haben. Arbeiter werden an Diabetes und Bluthochdruck sterben, weil sie ihre Medikamente nicht kaufen können.

Anfang Juni wurden Sie für einige Wochen verhaftet. Wie erklären Sie sich Ihre Festnahme?
Mitarbeiter der Maquila Tridomex des amerikanischen Unternehmens Cardone haben im März 2020 in Matamoros demonstriert. Die Regierung des Bundesstaates Tamaulipas hat fünfzig von uns eingereichte Klagen gestoppt. Mit denen hatten die Arbeiter Einspruch gegen die Inhaberschaft der Tarifverträge durch die „weißen Gewerkschaften“ [arbeitgeberorientierte Gewerkschaften, Anm. d. Red.] von Matamoros eingelegt. Die Landesregierung und die Schlichtungsgremien haben noch nicht einmal die erste Anhörung abgehalten, dabei haben wir den Rechtsstreit bereits im September 2019 eingeleitet.

Ich glaube, dass diese Klage, die ich als gesetzliche Vertreterin der Arbeiter und Arbeiterinnen der 20/32-Bewegung eingereicht habe, mich ins Gefängnis gebracht hat.

Die korrupten Gewerkschaften in Ciudad Juárez handeln vermeintliche Tarifverträge aus, aber nur, um Streiks abzuwenden. Aus diesem Grund kämpfen wir um die Inhaberschaft der Tarifverträge. Deshalb bin ich nach Mexiko-Stadt gegangen, um die offizielle Eintragung für die SNITIS zu erhalten. Das hat mich nun zu einer Staatsfeindin gemacht.

In Interviews sprechen Sie von einer politischen Motivation Ihrer Verhaftung. Wieso?
Sie haben mich der Anstiftung von Straftaten gegen Staatsbeamte, dem Aufstand und der Nötigung von Einzelpersonen beschuldigt, weil die Arbeiter*innen in Matamoros Einspruch eingelegt haben.

Als sie mich am 8. Juni verhafteten, wurde ich ohne Anwalt zur Staatsanwaltschaft von Tamaulipas gebracht. Sie haben mir meine Rechte nicht vorgelesen. Stattdessen machten sie ein Foto von mir und gaben es sofort an die Presse weiter. Ich wurde landesweit kriminalisiert. Als ich der Richterin die Ordnungswidrigkeiten meiner Inhaftierung mitteilte, sagte sie mir, dass sie sich nicht damit befassen werde. Da wusste ich, dass ich eine politische Gefangene bin, dass ich kein Recht erfahren würde.

Wie kam es zu Ihrer Freilassung?
Die Richterin stimmte meiner Freilassung zu und setzte das Verfahren aus. Meine Auflagen sind zweieinhalb Jahre lang keinen Fuß mehr nach Tamaulipas zu setzen. Außerdem darf ich das Land nicht verlassen und muss 66.000 mexikanische Pesos (ca. 2.500 Euro, Anm. d. Red.) Schadensersatz zahlen. Es ist offensichtlich, dass dies ein Befehl von Francisco García Cabeza de Vaca ist, dem Gouverneur von Tamaulipas. Von dem haben die Geschäftsleute der Maquiladoras seit Monaten gefordert, dass er mich aus dem Bundesstaat ausweist. Der Beschluss der Richterin wurde von Arbeitgeberverbänden der Industrie und von traditionellen Gewerkschaften begrüßt.

Nun bin ich dazu verdammt, in Chihuahua zu leben und kann meine Familie in den USA nicht sehen. Doch ich werde mich diesem Verfahren stellen und meine Unschuld beweisen. Und ich werde den mexikanischen Staat verklagen, weil hinter meiner politischen Verfolgung die Absicht steckt, die Arbeiter um die einzige Anwältin zu bringen, die sich dem korrupten Gewerkschaftssystem gestellt hat.

EIN TAG OHNE ARBEITER*INNEN

“Keine ist frei, bis wir es alle sind” Der Frauenkampftag am 8. März in Mexiko-Stadt bezieht sich auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie // Foto: Nina Ißbrücker

Mit dem Generalstreik in Indien am 8. und 9. Januar 2019 gegen die gewerkschaftsfeindlichen Gesetzespläne der Regierung Modi fand mutmaßlich der größte Streik der Menschheitsgeschichte statt: 200 Millionen Arbeiter*innen sollen sich beteiligt haben. Nur zwei Tage später, ab dem 11. Januar, begannen vorerst „wilde“, nicht von Gewerkschaften koordinierte Streiks in der Maquiladora-Industrie an der Nordgrenze Mexikos. Dass in Maquiladoras, den lateinamerikanischen „Weltmarktfabriken“, gestreikt wird, ist selten. Kaum ist es möglich, dass sich in den grenznahen Montagefabriken die Arbeiter*innen überhaupt organisieren. Matamoros ist neben den Grenzstädten Ciudad Juárez und Tijuana der mexikanische Hauptstandort der Maquiladoras. Über eine Millionen Arbeiter*innen, überdurchschnittlich viele Frauen, schuften in 3.000 solcher Fabriken meist 12 Stunden am Tag. In Matamoros arbeiten etwa 80.000 Menschen in 122 Maquiladoras. Am 11. Januar 2019 haben dort 2.000 Arbeiter*innen auf einer Generalversammlung einen spontanen, nicht-gewerkschaftlichen Streik beschlossen. Gefordert wurde eine 20-prozentige Lohnerhöhung, eine Einmalzahlung von 32.000 Pesos (knapp 1.400 EUR) und die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche. Die sich ausweitende Streikbewegung ist mittlerweile bekannt als Movimiento 20/32, weil sie 20 Prozent Lohnerhöhung sowie 32.000 Pesos Einmalzahlung fordern. Zu den anfangs bestreikten Unternehmen zählen Inteva, STC, Polytech, Kemet, Tyco, Parker, AFX und Autoliv. Die meisten Maquiladoras in Tamaupilas beliefern die US-amerikanische Autoindustrie, vor allem General Motors, Ford und Fiat-Chrysler. Ende Januar war in fast allen US-amerikanischen Montagewerken von Ford und General Motors die Produktion zurückgefahren, weil es durch den Streik zu Lieferengpässen kam. In mindestens einem Werk, bei Ford in Flat Rock im Bundestaat Michigan, wurde die Produktion ganz eingestellt.

Es geht um mehr als einen Tarifstreit

Die prekären Bedingungen in den grenznahen Betrieben waren ein Schlüsselelement in den Neuverhandlungen des Handelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen Mexiko und der Regierung Trump. Ein festgelegter Teil der Zulieferproduktion muss seit dem neuen Handelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada (USMCA) zu Stundenlöhnen von mindestens 16 US-Dollar erfolgen (siehe LN 533), auch um die Migration in die USA einzudämmen. Am 1. Januar 2019 wurde in Mexiko der Mindestlohn um 16 Prozent angehoben und liegt damit erstmals seit 30 Jahren über der Armutsgrenze.Im US-Grenzgebiet, in dem seit der Einführung von NAFTA im Jahr 1994 die Lebenshaltungskosten weit über dem Landesdurchschnitt liegen, wurde der Mindestlohn verdoppelt. Die Freien Produktionszonen (FPZ), in denen die Maquiladoras liegen, bleiben jedoch ausgenommen. Gleichzeitig wurde für die Maquila-Unternehmen die Umsatzsteuer auf 20 Prozent reduziert und weitere Anreize für Gesundheitsfürsorge, Bildung und Verkehrsausbau geschaffen.
Auslöser der Streikbewegung war die ausbleibende Erhöhung der Löhne in der Maquila-Industrie, „die außerhalb unserer Wettbewerbsmöglichkeiten liegen“, wie der Präsident des Nationalen Rats der Maquila-Industrie (INDEX), Luis Alegre Lang, gegenüber der Tageszeitung Vanguardia sagte. Gleichzeitig geht es um die weitere Zahlung von Zusatzleistungen, die über den Mindestlohn hinausgehen. „Der Grundlohn in den meisten Maquiladoras liegt zwischen 90 und 100 Pesos. Aber die Arbeiter erhalten auch verschiedene Boni – für Produktivität, Anwesenheit, Transport und anderes. Als die Arbeiter eine Verdoppelung des Grundlohns forderten, wie es die Regierung versprochen habe, sagten die Unternehmen, sie würden die Bonuszahlungen streichen und im Ergebnis würden die Löhne nicht erhöht“ erläutert Julia Quiñonez vom Kommitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion (Comité Fronterizo de Obreras) gegenüber dem US-Journalisten David Bacon.

Die Streikbewegung weitet sich aus


Die Rolle der Gewerkschaften in dem Streik ist zwiespältig. Ähnlich wie in den USA sind Gewerkschaften in Mexiko einem komplexen Anerkennungsverfahren unterworfen und fungieren dann als Betriebsgewerkschaften – davon gibt es in Mexiko etwa 16.000. Die meisten Gewerkschaften sind nach wie vor in den historisch der ehemaligen Staatspartei PRI nahestehenden korporatistischen Dachverbänden CROM, CROC und CTM organisiert, darüber hinaus gibt es neue unabhängige Gewerkschaften und sogenannte „gelbe“ unternehmerfreundliche Gewerkschaften. Die jeweilige Zugehörigkeit erlaubt oft noch kein Urteil über den Charakter der Einzelgewerkschaft.
Der Streik richtete sich anfangs sogar explizit gegen die Gewerkschaft der Tagelöhner und Industriearbeiter und der Maquiladora-Industrie (SJOIIM, Mitgliedsgewerkschaft der CTM), die Überbezahlung von deren Funktionär*innen, die Höhe der Gewerkschaftsbeiträge und der Korruption beziehungsweise der Position der Gewerkschaft auf Unternehmensseite. Als am 18. Januar die Streikenden zu den Gewerkschaftsbüros mobilisiert hatten, ließ der lokale Vorsitzende des Dachverbands CTM, Juan Villafuerte Morales, diese sogar schließen. Unter Druck geraten, rief die SJOIIM am 24. Januar dennoch offiziell zum Streik auf, versuchte aber gleichzeitig, gemeinsam mit Politiker*innen von Morena und der Regierung, den Streik herunter zu kochen.
Ende Januar wies die mexikanische Regierung die Bundesstaatsregierung von Tamaupilas an, den Streik zu beenden. Mit der Erklärung der inexistencia (Nicht-Existenz) eines Streiks nach mexikanischem Arbeitsrecht gilt dieser als illegal und kann den Entzug der Gewerkschaftsrechte und Entlassungen zur Folge haben. Streikposten waren von diesem Zeitpunkt an mit Marine und bewaffneter Polizei konfrontiert, Gewalt ging auch von privaten Sicherheitsunternehmen aus, etwa bei der Entfernung von Streikposten. Die Unternehmen drohten als Reaktion auf die Streiks mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Strafanzeigen gegen „Agitatoren“. In den ersten zehn Tagen der „wilden“ Streiks hatten die Fabriken laut der Matamoros Maquila Association 100 Millionen US-Dollar verloren. 1.000 Streikende seien entlassen worden, meldete labournet.de am 25. Februar. INDEX-Präsident Lang betonte auch noch nach den Verhandlungsergebnissen, dass 15 Unternehmen planen würden Tamaupilas in den nächsten sechs bis neun Monaten zu verlassen.

Einige Unternehmen haben die Forderungen vollumfänglich akzeptiert

Die Streiks stellen in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit dar: Erstens begannen sie als sogenannte „wilde“ Streiks, also ohne Aufruf einer Gewerkschaft. Das ist auch deswegen entscheidend, weil die Tendenzen zur Selbstorganisation in Form von Räten, unabhängigen Gewerkschaften oder Komitees neue Perspektiven für die mexikanische und die gesamtamerikanische Arbeiterbewegung bieten. Zweitens beziehen sie sich auf die Politik von Staatspräsident López Obrador (oft AMLO genannt) und seine Partei Morena, sind also durchaus als politische Streiks zu betrachten, denn sie fordern die Einhaltung des Gesetzes zum Mindestlohn, es geht also um mehr als um einen klassischen Tarifstreit. Drittens haben sie mehrere Ausweitungen erfahren, sind tendenziell grenzüberschreitend und haben damit, wenn auch teilweise indirekt, Globalisierung, Freihandel und Migration zum Thema. Und viertens war die spontane Bewegung erfolgreich. Die Zahlen schwanken, aber mindestens 40, laut einer AP-Meldung sogar 44, der bestreikten Unternehmen haben die Forderungen der Streikenden nach Lohnerhöhung und Einmalzahlung Anfang Februar 2019 vollumfänglich akzeptiert. Dies ist der wesentlichen Hintergrund für die Ausweitung der Streikwelle. Anfang Februar dieses Jahres begannen Supermärkte und Unternehmen der Textilindustrie in Tamaupilas, sich die gleichen Forderungen auf die schwarz-roten Streik-Fahnen zu schreiben. Am 29. Januar schlossen sich 700 Arbeiter*innen der lokalen Coca Cola-Abfüllanlage ARCA Continental Planta Noreste an, etwa gleichzeitig traten 400 Arbeiter*innen aus drei lokalen Stahlwerken in den Streik sowie Matamoros’ Haupt-Milchlieferant Leche Vaquita und die Müllabfuhr der Stadt. Etwa 90 Kilometer von Matamoros entfernt, in der Grenzstadt Reynosa, begannen Anfang Februar 8.000 Arbeiter*innen in 45 Fabriken einen Streik, auch Angestellte in der Hauptstadt des Bundesstaates Tamaupilas, Ciudad Victoria, drohten mit Ausstand. Landesweit wollten sich Walmart-Angestellte der Bewegung anschließen. Der zuständige Gewerkschaftssektor CROC, der 90.000 dieser Arbeiter*innen organisiert, gab am 20. März eine entsprechende Streikankündigung heraus. Der Streik wurde durch die Schlichtungsverhandlungen verhindert. „Arbeiter […] von Tijuana bis Ciudad Juarez schauen auf die mutigen Aktionen der Arbeiter aus Matamoros. Die Arbeiter denken darüber nach, ihrem Beispiel zu folgen, und natürlich befürchten die Unternehmer genau das.“ sagt Julia Quiñonez vom Komitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion.
Rosa Luxemburg argumentiert in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ (1906), dass ökonomische Streiks eine Eigendynamik aufweisen, die aus sich selbst heraus zu einer Politisierung führen. Die Streiks an der nordmexikanischen Grenze bestätigen das. Sie haben eine Dynamik entwickelt, die weit über die geforderte Lohnerhöhung hinaus weist. Gerade an der mexikanischen Nordgrenze ist ein solches Streikgeschehen notwendigerweise mit den Themen Migration und Geschlechterverhältnisse verknüpft.
Die von den nordmexikanischen Arbeiter*innen am Generalstreiktag ausgegebene Parole „Ein Tag ohne Arbeiter“ erinnert nicht von ungefähr an die Parolen des globalen Frauen*streiks am 8. März diesen Jahres. Am „Tag ohne Arbeiter“ zogen die Streikenden über die Grenze nach Brownsville in den USA (der Zwillingsstadt Matamoros‘), um Solidarität von den US-amerikanischen Arbeiter*innen einzufordern, aber auch, um gegen jüngste rassistische und antimexikanische Äußerungen von Trump bei einer Rede in Brownsville zu protestieren.
Die argentinische Sozialwissenschaftlerin Verónica Gago und die mexikanische Philosophin Raquel Gutiérrez Aguilar beziehen die globale Streikbewegung vom 8. März auf die Bewegung gegen die Frauenmorde (Feminicidios) in Ciudad Juarez und damit auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie. Der Streik in Matamoros weist darauf hin, dass sich die Debatten und Organisierungsbemühungen der letzten zehn Jahre langsam in kollektiven sozialen Widerstand übersetzen. Aus der neuen Kraft des Feminismus und den neuen Entwicklungen der Arbeiterbewegung entsteht in der Liaison eine neue Form von Streik: der soziale Streik, der über die Welt der Lohnarbeit hinaus geht, gleichzeitig aber auch mehr ist als ein politischer Streik.

KEINE NEW DEALS AUF AUGENHÖHE

Mexiko hat mit seinen Freihandelsverträgen eine Eingangstür für den zollfreien Export in 46 Staaten weltweit, inklusive den USA und der EU. Davon profitieren vor allem transnationale Unternehmen, die in Mexiko billig produzieren. Warum ist das Land ein so großer Befürworter des Freihandels?
Die verschiedenen Regierungen der vergangenen Jahre sagten, die Freihandelsabkommen würden die Entwicklung und das Wachstum im Land fördern. Der Freihandel sei eine Voraussetzung dafür. Zweifellos ist die Realität eine andere. Man sagte uns, der Freihandel würde die ländliche Entwicklung voranbringen, das Wachstum des Produktionssektors begünstigen, es würden mehr und bessere Arbeitsplätze sowie bessere Lebensbedingungen für die Bevölkerung entstehen. Leider kam es nicht so. Die Agrarwirtschaft brach ein, weil aufgrund der Abkommen Subventionen abgeschafft wurden.

Was waren die Folgen für die mexikanische Industrie und den Arbeitsmarkt?
Im Norden wurden viele maquiladoras (Großfabriken der Fertigungsindustrie; Anm. der Red.) gebaut. Zunächst beschäftigte man dort vor allem Männer. Später wurden fast nur Frauen eingestellt, welche weniger Lohn erhalten und prekären Bedingungen ausgesetzt sind. Es gibt dort viele Femizide (Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, Anm. d. Red). Auch nahm die Beschäftigung in der zunehmend wichtigen Autoindustrie zu. Damit wurden vor allem Jobs im Niedriglohnsektor geschaffen. Die mexikanische Regierung bot ausländischen Unternehmen Orte für den Bau von Fabriken an, diese brauchten dann zehn Jahre lang keine Steuern zu zahlen und ihnen wurde zusätzlich die nötige Infrastruktur bereitgestellt. Der Autohersteller Ford beispielsweise wollte eine Fabrik für den Ford Focus bauen. Die lokale Regierung von San Luis Potosí stellte 280 Hektar Land dafür zur Verfügung, gab Millionen für die Infrastruktur aus und bot dem Unternehmen zehnjährige Steuerfreiheit an. Dann forderte Trump Ford dazu auf, dort keine Fabrik zu bauen, und die Bemühungen Mexikos blieben umsonst.

Traditionell gibt es in Mexiko viele Beschäftigte im Agrarsektor, vor allem im kleinbäuerlichen Bereich. Welche Auswirkungen sind hier zu beobachten?
Die Situation der Landwirtschaft in Mexiko ist sehr ernst. Wir waren autark in der Produktion von Nahrungsmitteln. Seit NAFTA importieren wir Saatgut für Mais, Getreide und Bohnen. Dadurch wurden ungefähr drei Millionen Bauern und Indigene zu Emigranten, entweder in andere mexikanische Bundesstaaten, in denen transnationale Unternehmen Landwirtschaft betreiben, oder in die USA.

Welche Inhalte möchte die US-Delegation mit Mexiko neu verhandeln?
Interesse besteht am Energie- und Erdölsektor Mexikos. Die mexikanische Regierung treibt eine Verfassungsreform voran, durch die US-Firmen Zugang zum mexikanischen Markt bekommen. Eine der wichtigen Bestimmungen der Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada oder auch mit der EU erlaubt es, dass internationale Firmen die gleichen Bedingungen wie mexikanische Firmen bekommen. Dadurch entsteht ein Nachteil für letztere, die eventuell nicht das gleiche Kapital oder die Technologie besitzen. Der Zerfall des Produktionssektors in Mexiko hat viel damit zu tun.

Warum möchte Mexiko parallel dazu mit der EU das gemeinsame Freihandelsabkommen (Globalabkommen) neu verhandeln?
Es gab zunächst kein großes Interesse an dem Abkommen mit der EU und einer Neuverhandlung. Als sich die Situation durch die Wahl Trumps änderte, entschied sich die mexikanische Regierung, ihre Handelsbeziehungen zu diversifizieren. Interesse daran besteht auch wegen der durch NAFTA entstandenen Nachteile im Agrarsektor, welche Mexiko auf die Verhandlungsliste mit der EU setzt. Auf der anderen Seite hat die EU Interesse am Öl- und Energiesektor Mexikos.
Es ist eine beschämende Situation und untertänige Haltung gegenüber den USA und der EU. Denn dadurch, dass die mexikanische Regierung internationalen Konzernen derart günstige Konditionen anbietet, gibt sie ihre stärkste Verhandlunsgposition auf. Andere Länder nutzen ihre Ölvorkommen in Verhandlungen!

Der deutsche Chemie- und Pharmakonzern Bayer ist kurz davor den amerikanischen Agrarkonzern Monsanto zu kaufen. Dieser hat großen Einfluss in Lateinamerika. Wegen internationaler Abkommen zum Schutz von Investitionen hätte dann Bayer das Recht gegen lateinamerikanische Staaten zu klagen. Welche Fälle sind denkbar?
Firmen, die in Mexiko investieren, haben eine bestimmte Gewinnerwartung. Wenn sie diese nicht erreichen, könnte es passieren, dass Mexiko aufgrund dieser Abkommen verklagt wird und es die Differenz zu den Erwartungen bezahlen muss. Die Erfahrungen, welche wir bisher gemacht haben – auch wenn zwei Fälle im Ausland zugunsten mexikanischer Firmen ausgingen – sind ähnlich wie der von der amerikanischen Firma Metalclad. Sie hat giftigen Müll in einer Deponie bei San Luis Potosí abgeladen. Die Menschen vor Ort haben sich dagegen gewehrt, woraufhin die lokale Regierung die Firma daran gehindert hat, dort weiterhin giftigen Müll abzuladen. Deshalb hat Metalclad Mexiko verklagt. Die Firma gewann und erhielt 16 Millionen Dollar vom mexikanischen Staat. Diese Summe forderte der Staat später von der Kommune zurück.

Newsletter abonnieren