Kultur nicht verkaufen, sondern verschenken

Die Biblioteca popular Salvador Allende versorgt die Nachbarschaft mit Büchern (Foto: Francisco Osorio via Flickr (CC BY 2.0))

Im März 1995 stach die Bibliolancha Itinerante (etwa: „wanderndes Biblioboot“) zum ersten Mal in See. Teolinda Higueras von der Insel Chiloé im zentralen Süden Chiles, damals Leiterin der öffentlichen Bibliothek von Quemchi, hatte sich die Reise auf einem Boot der Gemeinde zur Aufgabe gemacht: Sie wollte die abgelegensten Ortschaften der Inselgruppe anfahren und diese mit Büchern versorgen.

Seit der Gründung dieses einzigartigen Projekts sind fast dreißig Jahre vergangen. Noch immer steht es unter der Leitung von Teolinda und ihrer Familie, heute unter Schirmherrschaft eines Kulturvereins, der den Namen der Kunsthandwerkerin Otilia Yáñez trägt. Schon im Jahr 1998 konnte sich das Projekt den Traum eines eigenen Bootes erfüllen: Seitdem fährt die kleine Fähre, in der bis zu 32 Menschen Platz haben, die Inseln Tac, Metahua, San José, Añihue, Mechuque, Voigue, Cheniao, Chauques und Butachauques an und öffnet den abgelegenen Ortschaften die Türen zur Welt der Kultur.

Nach den ständigen Fahrten über die Inseln sei Teolinda in den ersten Jahren bewusst geworden, in welchen Realitäten die Menschen in dieser Gegend lebten: geprägt von der Einsamkeit der Ferne und dem fehlenden Zugang zu Kulturangeboten, die dem Rest des Landes zur Verfügung stehen. Im Laufe der Jahre bietet sie auf dem Boot nicht nur Bücher an, sondern auch Theater, Kino und reist zusammen mit Geschichtenerzähler*innen. „Dort, wo der der Staat nicht hinkommt, sind wir da“, berichtet sie. Die Gemeinschaftsbibliotheken wurden auf Initiative von Nachbar*innen gegründet und von ihnen verwaltet. Sie entstehen an Orten, in denen die Entfaltung kultureller Institutionen nicht ausreichend ankommt und somit als Antwort auf eine bestimmte Notwendigkeit: der Suche nach einem Raum, um sich Büchern und anderen künstlerischen Ausdrucksformen zu nähern. Doch oft werden die Bibliotheken auch zu dem Ort, an dem Menschen ihre gemeinsamen sozialen Kämpfe aufbauen können.

Um zur Villa Andes del Sur im Stadtteil Puente Alto von Santiago zu kommen, braucht man mehr als eine Stunde. An einer Haltestelle an der Kreuzung der Straßen Los Toros und Nuevo Continente wurde sich ein vernachlässigter Ort wieder angeeignet, um dort die heutige Bibliothek der Villa aufzubauen. Es ist ein bunter Ort voller verschiedenster Bücher entstanden.

„Mir wurden viele Bücher gespendet und alles Mögliche überlassen, das ist das Wichtigste. Filme, Poster, VHS-Kassetten, Zeitschriften. Auch beim Verfassungsplebiszit wurden mir die Ablehnungs- und die Zustimmungskampagnen überlassen, dieser Ort dient also kulturell gesehen sehr vielem“, erzählt Diego Riffo, der das Projekt leitet und Vizepräsident des Gemeinderats ist. Er erklärt auch, dass „die Bibliothek entstanden ist, um auf eine Forderung einzugehen, die nicht erst während des estallido (chilenische Revolte ab Oktober 2019, Anm. d. Übers.) aufkam: die Alphabetisierung. Es gab so wenig Kultur, Bücher hatten so wenig Prestige, das Lesen war immer sehr zentralisiert“.

Was Riffo sagt, wird von einer Studie der Stiftung Vivienda von 2019 untermauert, die untersuchte wie viele Familien aus Santiago Zugang zu Verkaufs- und Verleihstellen von Büchern haben. Hierbei stellte man eine beachtenswerte Schere zwischen verschiedenen Stadtteilen fest. Die geringsten Anteile von Familien mit Zugang zu Büchern – jeweils unter zehn, teilweise sogar unter fünf Prozent – wiesen die Stadtteile San Bernardo, Puente Alto, La Pintana, El Bosque, Quilicura, Macul, Renca und Conchalí auf. Diese Kommunen liegen größtenteils am Rande Santiagos, die Fahrtwege betragen teilweise mehrere Stunden.

Ein paar Kilometer weiter, in der Villa Doña Gabriela, findet man die Biblioteca Popular Ramiro, die an Mauricio Hernández Norambuena erinnert, auch bekannt als comandante Ramiro der Frente Patriótico Manuel Rodríguez (linke Guerrillaorganisation der Zeit der Diktatur, Anm. d. Übers.). Auf einem Regal vor dem Haus von Juan Pablo Álvarez in Puente Alto stapeln sich die Bücher in die Höhe: Schulbücher, Fiktion, Literaturklassiker. In diesem Haus befand sich früher eine der öffentlichen Bibliotheken von Santiago, deren Verwaltung dem Gemeinderat überlassen wurde. Juan Pablo sitzt auf der Straße und erinnert an die Anfänge des Projekts, das im Mai 2020 von ihm gegründet wurde und inzwischen bis zu 3.600 Bücher besitzt, die den Nachbar*innen der Siedlung zur freien Verfügung stehen. Das Projekt wurde mit der Vision gestartet, die Bildung aus dem Stadtteil heraus zu organisieren.

„Die Idee für die Bibliothek entstand aus einer Unruhe heraus – und aus dem Aufruf dazu, dass es auch am Stadtrand Bibliotheken geben sollte“, sagt Álvarez, der sich selbst Professor der öffentlichen Bildung von unten nennt. Dabei hat er sich von anderen Bibliotheken der Kommune inspirieren lassen, die Bücher an Bushaltestellen oder vor Häusern platzierten und Workshops sowie Kulturangebote organisierten. All das wurde von den Nachbar*innen gut aufgenommen – vor allem während der Pandemie, als Bücher angesichts der sozialen Isolation zu einem Rückzugsort wurden. „Die Menschen, die am Stadtrand wohnen, brauchen Abwechslung, wenn sie ihr Zuhause zum Schlafen oder zusammen mit anderen benutzen. Ich denke, es braucht neben den Fußballplätzen und den Spielen auf den Plazas auch Orte der Entspannung und zum Lesen. Aber das Lesen fällt am Stadtrand schwer. Das liegt am Scheitern des Bildungssystems, weil in den Schulen nicht gelesen wird. Es gibt eine Krise des Leseverständnisses, der Textbearbeitung und der Textanalyse“, meint der Professor.

Das aktuelle Staatliche System Öffentlicher Bibliotheken (SNBP), das in Partnerschaft mit der Verwaltung für Bibliotheken, Archive und Museen (DIBAM) organisiert ist, deckt 96 Prozent der Fläche Chiles ab. Das heißt, dass es in 332 von 346 Kommunen mindestens eine Ausleihstelle für Bücher gibt. Da stellt sich die Frage: Warum haben sich die Gemeinschaftsbibliotheken von staatlichen Vorgaben und etablierten Strukturen unabhängig gemacht? Ihre Motivation liegt laut den Betreiber*innen darin, horizontale Strukturen in ihren Projekten zu fördern und nicht nur zum Lesen anzuregen, sondern auch Gemeinschafts- und Kulturräume zu schaffen.

Nachbarschaftliche Beziehungen knüpfen

Bibliotheken wie die von Teolinda, Diego und Juan Pablo beweisen eine Organisierung der Nachbarschaften rund um die Projekte. Die Initiativen haben ein Netzwerk der gegenseitigen Zusammenarbeit zwischen Nachbarschaftsgruppen geschaffen, das es ihnen ermöglicht, ihre Kontakte zu erweitern und mehr Teilnehmer*innen anzusprechen. So sind rund um die Demokratisierung des Lesens auch verschiedene Räume des Miteinanders sowie Kulturzentren entstanden.

Dass sich die Initiativen zusammenschließen und vernetzen, wird zur kulturellen und gesellschaftlichen Stärke: Juan Pablo erzählt, dass die Netzwerke zwischen verschiedenen Bibliotheken in Puente Alto schon ermöglichten, die Bibliotheken als Vorratszentren zu nutzen, um Notfälle wie Stürme oder Brände zu bekämpfen. Die Gemeinschaft besteht also nicht nur aus Leser*innen, die in den Büchern Zuflucht suchen, sondern aus aktiven gesellschaftlichen Akteur*innen.

Auch Diego Riffo von der Bibliothek aus Villa Andes Sur berichtet davon, dass durch die Vernetzung zwischen den Nachbar*innen aus Puente Alto eine Einheit entstanden ist, in der Unbekannte zu Bekannten wurden. „Was auch schön ist: Wenn neue Gemeinschaftsbibliotheken entstehen und bekannter werden, sehen die Leiter der anderen Bibliotheken ihre eigene Arbeit fruchten – weil eine nach der anderen entsteht“, freut sich Riffo.

Beide Initiativen in Puente Alto setzen einen Schwerpunkt darauf, das Lesen mit anderen Arten der Kultur zu verbinden. Juan Pablo erzählt davon, wie er Musikbands kennengelernt und dazu eingeladen hat, auf ihren Konzerten einen Bücherstand aufzustellen. „Anstelle die Kultur zu verkaufen, wird sie verschenkt“, sagt er mit Überzeugung.

So entstehen zwischen den Seiten der Bücher menschliche Bindungen. Nataly Nuñez, die die Bibliothek Villa Andes Sur benutzt, erzählt davon, wie sie Nachbar*innen näherkam, die vorher Fremde waren: „An einem Tag las ich gerade, als eine ältere Frau bei der Suche nach einem Buch hinfiel. Ich half ihr, aufzustehen und nun ja – heute gehen wir sogar zusammen zum Yoga. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir so dankbar für diesen Ort sind. Er bringt uns dazu, miteinander ins Gespräch zu kommen.“ In dem Stadtviertel, das weit entfernt vom Zentrum der Hauptstadt liegt, bilden sich Bindungen, die denen einer Familie ähneln. „Ich komme her, um die Bücher zu sortieren und die Frau von gegenüber gibt mir ein Eis, der von der Bäckerei schenkt mir Gebäck. Es ist sehr schön, was hier entsteht“, sagt Riffo, dankbar.

Den Betreiber*innen geht es auch darum, die Nachbarschaftsorganisierung mit Institutionen der Bürger*innenbildung und politischer Debatte in Verbindung zu bringen. In der Gemeinschaftsbibliothek Ramiro gab es während des ersten Verfassungsprozesses drei Bürger*innentreffen, zu denen auch Verfassungsdelegierte wie Alondra Carrillo kamen. Diego hat außerdem organisiert, dass der Bibliothek Exemplare des Vorschlags für den neuen Verfassungstext geliefert wurden.

Auch das Netzwerk der Gemeinschaftsbibliotheken von Gran Valparaíso ist ein Beispiel für die Nachbarschaftsorganisierung, die diese Kulturinitiativen auszeichnet. Das Netzwerk ist 2012 entstanden und erstreckt sich von den Hügeln Valparaísos bis Los Andes.

Eine der Bibliotheken des Netzwerks trägt den Namen von Irma Cid Parra, die als Französischlehrerin in der Mädchenschule von Viña del Mar arbeitete und im Jahr 1973 gefeuert wurde, weil sie der Kommunistischen Partei angehörte. Die Bibliothek wird aktuell von Alejandra Jiménez Cid geleitet, der Tochter von Irma. Jiménez erklärt, bei der Gründung sei es darum gegangen, einen Ort der Erinnerung und der Wiederbegegnung von Familien zu schaffen.

Ghislaine Barría, Bibliothekarin und Ex-Präsidentin des Netzwerks, führt die Zunahme an Bibliotheken auf das große Interesse zurück, neue Orte zum Lesen zu finden. Diese seien manchmal auch weniger konventionell, sondern entstünden beispielsweise durch Besetzungen.

Barría erklärt, dass diese Orte Teil der Geschichte der Hafenregion seien. Sie richteten sich an strategischen Orten ein, um gegen soziale Ungleichheiten wie etwa in der Bildung zu kämpfen. Auch wenn es den Orten primär darum gehe, ein Bewusstsein zu schaffen und neue Generationen zu unterstützen, kämpfen sie auch gegen den Rückgang der Alphabetisierungsrate unter älteren Generationen an, indem Lesekreise und Familien- oder Nachbarschaftstreffen organisiert werden. Die Bibliothekarin erinnert auch an die Bedeutung der Gemeinschaftsbibliotheken: „Wir dürfen nicht vergessen, dass solche Räume aus dem Widerstand heraus entstehen.“

Kulturpolitik von der Basis aus

In Chile gibt es aktuell 681 Bibliotheken, die dem Netzwerk der staatlichen Bibliotheken (SNBP) des Ministeriums für Kultur, Kunst und Kulturerbe angehören. Im Jahr 2022 wurden dort landesweit 1.448.148 Bücher ausgeliehen und 415.223 Bücher digital bereitgestellt. Hierbei ist ein Zuwachs von 61 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Im April 2023 wurde zudem eine nationale Politik des Lesens, des Buches und der Bibliotheken vorgestellt. Dass der Staat in den letzten Jahren versucht, mit seiner Kulturpolitik das Lesen zu fördern, Leseverständnis zu vermitteln und seine Bibliotheken zu professionalisieren, kann also nicht geleugnet werden. Dennoch wenden sich die Gemeinschaftsbibliotheken gegen solche Statistiken und versuchen, ein anderes Problem zu lösen: den schwierigen Zugang in ihren Regionen, sei es der Stadtrand von Santiago, die Hügelkette von Valparaíso oder die verborgenen Winkel der Insel Chiloé, die die Bibliolancha Itinerante besucht.

Laut Andrés Fernández, Soziologe an der Universidad de Chile, habe es hier Fortschritte gegeben: „Diese Politik stellt den Menschen und den kulturellen Ausdruck in den Fokus und entwickelt staatliche Strukturen, um den Menschen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Was der Buchpolitik bisher gefehlt hat, war zum Beispiel ein tatsächliches politisches Interesse daran, das, was auf dem Papier steht, auch in die Praxis umzusetzen“, so der Autor.

Dennoch: In einer Studie von Ipsos und der Stiftung La Fuente über Lesegewohnheiten und -wahrnehmungen in Chile geben 82 Prozent der Chilen*innen an, dass sie gern mehr lesen würden, als sie es aktuell tun. Aber warum? In der gleichen Studie bestätigen 53 Prozent der Befragten, der Zeitmangel sei der Hauptgrund, der sie vom Lesen abhalte. Dies ist insbesondere in den sozioökonomisch schwächeren Kommunen zu beobachten.

Deshalb sind die Gemeinschaftsbibliotheken für ihre Gemeinden so wichtig. „Diese Orte erfüllen die grundlegende Funktion, Identitäten zu stärken. Als kulturelle Treffpunkte versuchen sie, Orte anzuerkennen, die historisch gesehen in den Vierteln eine sehr wichtige Rolle spielten. Diese wurden aber nicht staatlich finanziert, weil sie das Spiel nicht mitspielen wollten“, erklärt Tomás Peters, Soziologe an der Universidad de Chile.

Auch der Soziologe Andrés Fernández erklärt, dass Bildung auf unterschiedliche Weise prekarisiert worden sei. Lehrbücher würden überarbeitet, ohne den Lernprozess der Menschen zu beachten, es würden keine Anreize geschaffen, Bücher zu lesen. Fernández hebt das SNBP hervor, kritisiert allerdings die Art und Weise, in der Geldvergabe über Wettbewerbe, nicht nachhaltig und langfristig konzipiert sei. „Der springende Punkt liegt beim Fokus auf das Bildungssystem: Wie bringen wir das Lesen bei und schaffen Lesegewohnheiten?”

Die Bibliolancha, die seit 29 Jahren über das Meer vor Chiloé schippert, ist wegen ihrer Langlebigkeit zu einer Ikone der Leseförderung geworden. Die kulturelle Demokratisierung, an den entlegensten Orten, ist mit der Zeit vorangeschritten. Heute bleibt Teolinda Higueras mit der Bibliolancha jeweils eine Woche an der Küste der Inseln, damit Kinder, Erwachsene und Nachbar*innen nicht nur an den Büchern, sondern auch an Workshops und anderen Aktivitäten Spaß haben können.

Mit den Erfahrungen und Meinungen der verschiedenen Organisationen und Expert*innen lässt sich die These des Soziologen Peters bestätigen: Diese Kulturzentren sind Orte des Zusammentreffens und strategisch wichtig für die kulturelle Demokratisierung des Landes.


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“DIE VIELFALT WIRD NICHT MEHR ANERKANNT”

Foto: Martin Schäfer

Der neue Präsident Jair Bolsonaro sagte, alle brasilianischen Aktivist*innen müssten jetzt entweder ins Ausland oder ins Gefängnis. Auf der Berlinale stehen Sie und Ihr Team im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Fühlen Sie sich bedroht?
Ich persönlich fühle hier auf der Berlinale, eine Mission zu haben, das ist neu für mich. Wenn ich im Ausland von der schwierigen Situation in Brasilien erzähle, versuche ich, Fakten statt Meinungen zu kommunizieren. Und ich erschrecke selbst darüber, was ich sage, da ich zum ersten Mal seit Bolsonaros Amtsűbernahme die Geschehnisse mit etwas Distanz betrachte. Zu Beginn der Fragerunde nach der Weltpremiere meines Films erkundigte sich jemand: ,,Glauben Sie, dass der Film in Brasilien gezeigt werden wird?” Und meine erste Reaktion darauf war, zu denken, ,,natürlich, was für eine dumme Frage!”. Aber dann wurde mir klar, dass das Publikum hier weiß, dass wir es mit einer repressiven Regierung zu tun haben.
Um mich selbst habe ich keine Angst, im Gegenteil, die Situation gibt mir mehr Mut, da ich weiß, wie wichtig der Kampf ist. Ich bin privilegiert und könnte im Notfall das Land verlassen, denke aber nicht daran, denn jetzt möchte ich mehr als je zuvor Filme machen. Als Regisseurin bin ich aber besorgt um die jungen Leute im Film, denn die mediale Exposition kann sie schützen, aber gleichzeitig auch in Gefahr bringen.
In Momenten wie diesen ist es sehr wichtig, zu dokumentieren, wie es den Menschen geht. Nach meiner Empfindung haben wir in Brasilien eine kranke Gesellschaft mit vielen Formen der Gewalt: Der Hunger ist eine, die Armut auch, dazu kommt die tatsächliche Gewalt selbst. Das führt zu Leiden. Der Film zeigt Gewalt, und die Verfolgung von Aktivisten ist in Brasilien nichts Neues. Neu ist aber, dass sie jetzt nicht mehr illegal ist, sondern Regierungspolitik. Das macht es noch schrecklicher, als es vorher schon war.

Steht die brasilianische Linke unter Schock?
Der Wahlausgang hat zunächst Entsetzen und Niedergeschlagenheit verursacht. Es gab Fluchtgedanken bei Leuten, die sich das leisten können. Dann beruhigte sich die Stimmung etwas. Natürlich gibt es jetzt Leute, die Angst haben, es hängt davon ab, mit welcher Situation, mit welchen Leuten man konfrontiert ist. Erwartet wird, dass es unter Bolsonaro zu Gewalt kommen wird, soviel ist klar. Es gibt aber nicht eine Stimmung, sondern viele unterschiedliche Stimmungen.

Espero tua (re)volta beginnt mit der Wahl Bolsonaros und ist daher hochaktuell. Wie haben Sie den Film ursprünglich geplant, als diese Entwicklung nicht absehbar war?
Meine Motivation für den Film waren die 200 Schulbesetzungen in São Paulo im Jahr 2015, die wiederum durch einen Dokumentarfilm über die Schulbesetzungen in Chile im Jahr 2006 beeinflusst waren. Die Bilder aus den Jahren 2013 bis 2015 im Film sind nicht von mir, der konkrete Beginn meiner Arbeit am Film war erst im Jahr 2016, nachdem ich das besetzte Parlament von São Paulo besucht hatte. Ich traf mich dort aus einem anderen Grund mit der Produzentin Mariana Genescá und wollte nur kurz bleiben. Dann wollten wir aber beide wissen, was los war, und am Ende übernachteten wir dort. Wir hatten zuvor nie zusammengearbeitet, aber am Ende entwickelten wir die Gewissheit, dass wir darüber gemeinsam einen Film machen wollten, weil es sehr komplex und sehr interessant wirkte.
Wir planten das Ende der Dreharbeiten für Juli 2018 und die Premiere für Oktober. Im August wurden wir zu Festivals in Brasilien eingeladen, aber wir hatten eine Intuition, dass der Film irgendwie nicht fertig war, das Ende stimmte noch nicht. In dem Moment konnten wir uns gar nicht vorstellen, dass Bolsonaro die Wahl gewinnen würde. Als Bolsonaro den ersten Wahlgang gewann und seine im Film gezeigte Rede gegen den Aktivismus hielt, begann ich zu ahnen, dass er gewinnen würde und fing sofort an, das Ende des Films zu ändern. Ich dachte, mein Gott, dieser Film war von Anfang an dafür gemacht, zu erklären, wie es dazu kommen konnte!

Welche Wirkung erwarten Sie von Ihrem Film?
Zuvor hatte ich für den Film ,,Resistencia“, in dem es auch um Besetzungen ging, erstmalig mit Schülern gearbeitet. Es gab damals Probleme damit, den Film im Fernsehen zu zeigen, eine Art Zensur. Wir haben ihn dann über alternative soziale Kanäle verbreitet, allein in den ersten zwei Wochen wurden in 80 Städten Vorführungen organisiert. Als ich mit Interviews überall im Land die Arbeit an meinem neuen Film begann, erzählte ich zwei Mädchen in einem Kollektiv von ,,Resistencia“. Sie waren überrascht und erzählten, dass sie den Film in einer der Vorführungen gesehen und daraufhin beschlossen hatten, ihr Schülerkollektiv zu gründen. Das war in einer sehr kleinen Stadt im Nordosten Brasiliens. Wow, dachte ich, man weiß nie, was mit einem Film passiert, wenn er einmal in der Welt ist.
Um Espero tua (re)volta zu verbreiten, wollen wir wieder Organisationen und Personen kontaktieren, die Vorführungen organisieren, und den Film außerdem über die Online-Plattform ,,Taturana“ allen zum Download zur Verfügung stellen, die selbst eine Vorführung des Films mit anschließender Diskussion organisieren möchten, in Brasilien oder auch im Ausland. So wollen wir viele Menschen erreichen. Dafür wünschen wir uns jeweils ein Feedback über die Veranstaltungen, um zu wissen, was mit dem Film passiert. Natürlich ist es ein Traum, dass ,,Espero tua (re)volta“ dabei hilft, die Leute zu mobilisieren oder zusammenzubringen. Ich wünsche mir auch, dass er den Leuten hilft zu verstehen, was mit den sozialen Bewegungen passiert.

Ihr Film nutzt eine innovative Erzählform: die drei Hauptfiguren führen durch den Film, kommentieren ihn, springen zwischen den Episoden hin und her. Wie sind Sie darauf gekommen, den Film auf diese Weise zu machen?
Das war ein langer Arbeitsprozess. Ich hatte zu Beginn über 100 Stunden Archivmaterial angesehen und dann diejenigen Schüler kontaktiert, die am längsten bei der Besetzung dabei waren. Je mehr Material ich sah, desto mehr verstand ich, wie komplex das Thema war. Daher kam das Konzept, drei Schüler mit sehr verschiedenen Perspektiven den Film erzählen zu lassen. Die Jugendlichen sind unser primäres Zielpublikum und wir wollten den Dokumentarfilm eine von ihnen inspirierte Sprache sprechen lassen. Bei der Kommunikation mit ihnen hatte ich immer das Gefühl, dass sie eine ,,Multitasking-Generation“ sind: Sie haben Ideen und Assoziationen, schauen mal eben etwas auf Google nach oder in einem Video, sie springen von einem Thema zum nächsten. Der Film orientiert sich an dieser ,,Multitasking-Sprache“ in dem Sinne, dass der Erzählfluss nicht linear ist, sondern mit Einschüben, die Ideen folgen und dann wieder zur Geschichte zurückkehren. Das entspricht auch ein bisschen der Art, wie wir Lateinamerikaner nach meiner Wahrnehmung Geschichten erzählen.

Der Feminismus spielt in Ihrem Werk eine wichtige Rolle, so auch in Espero tua (re)volta.
Ich habe eine Neugier, zu verstehen, was mit der Welt und ihren Ungerechtigkeiten passiert, daher ist es logisch, dass mich Frauen interessieren. Ich denke, ich habe schon Filme über feministische Themen gemacht, bevor mir das richtig bewusst wurde. In der Schülerbewegung war der Feminismus im Hinblick auf Geschlecht und Ethnizität ein wichtiges Thema, so dass er aus meiner Sicht im Film eine Rolle spielen musste, um der Bewegung gerecht zu werden. Es lag also nahe, dass zwei der drei Hauptpersonen Frauen sind – eine schwarze und eine nicht hetero-normative Frau.

Werden es kritische Filme wie Ihrer unter Bolsonaro jetzt schwer haben, eine Finanzierung zu bekommen oder gezeigt zu werden?
Unter den Regierungen der PT hat es in Brasilien eine große Unterstützung für die Kunstschaffenden gegeben, besonders für das Kino. Das zeigt sich auch an der großen Zahl brasilianischer Filme hier auf der Berlinale und auf anderen Festivals. Fast alle brasilianischen Filme bekamen Fördergeld vom Staat, so auch unser Film. Dadurch hatte sich nicht nur die Qualität der Filme verbessert, auch die Produktionsorte hatten sich diversifiziert – historisch betrachtet kam das brasilianische Kino vor allem aus Rio und São Paulo, ein bisschen aus Recife und Porto Alegre. Durch die neue Vielfalt gab es zuletzt viele verschiedene Stimmen im Kino, und diese Vielfalt ist sehr schön für ein so großes Land wie Brasilien.
Schon seit der Absetzung von Dilma Rousseff gab es jedoch eine Bewegung, diese Vielfalt zu beseitigen, eine Art Diffamierung oder Kriminalisierung der Künstler. Es wird der Eindruck erweckt, dass wir Geld vom Staat erhalten, ohne etwas Sinnvolles damit zu tun. Ganz so, als ob nicht die Arbeit vieler Leute davon abhängen würde, vom Regisseur über den Chauffeur bis hin zum Koch, die davon leben und ihre Mieten bezahlen. Bolsonaro hatte im Wahlkampf die Abschaffung des Kulturministeriums angekündigt und es dann mit der Unterstützung einer Bevölkerungsmehrheit am ersten Tag seiner Regierung umgesetzt. Das ist gravierend und sagt einiges über den Moment aus, in dem wir uns befinden, denn die Vielfalt wird nicht mehr anerkannt. Das sieht man inzwischen auch an den Auswahlkriterien der Filmförderung. Bisher wurden Projekte nach der Qualität ihrer Ausarbeitung und ihrer Thematik bewertet, aber das ist vorbei. Jetzt ist das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs ein Kriterium für die Förderung eines Films. Wie ist wohl das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs, der Dokumentarfilme über soziale Bewegungen dreht? Es ist in Ordnung, dass Filme gedreht werden, die Gewinn einbringen, aber wenn es nichts anderes mehr geben soll, ist das für mich ein ernstes Problem. Die Künstler und Kinoleute machen sich also große Sorgen darüber, was nun passieren wird. Es gibt einen Angriff auf die Kultur in Brasilien, nicht nur auf das Kino, sondern auf alles, was für Vielfalt von Meinungen und Perspektiven steht, wie kritische Stimmen oder Gruppen, die im Kapitalismus nicht glücklich sind, z.B. Indigene. Die neue Regierung ist noch keine zwei Monate im Amt, und schon merkt man den Politikwechsel an vielen Fronten.

Für das Kino, für das Sie stehen, wird es also kaum noch Möglichkeiten geben?
Die politische Verfolgung ist bereits sehr stark. Es gibt neue rechte Gruppen, die Bolsonaro unterstützen, sie organisieren demoralisierende Kampagnen, mittels derer sie Verleumdungen über Linke verbreiten. Man sieht das etwa an den Drohungen gegen den Film Marighella, dessen Regisseur Wagner Moura sich mit einem kritischen, linken Denken immer politisch geäußert hat. Wir müssen abwarten, aber ich bin nicht optimistisch.

 


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FREIHEIT UND KONTROLLE


YURI HERRERA wurde 1970 im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Er studierte Politikwissenschaften in Mexiko Stadt, 2009 promovierte er in Lateinamerikanischer Literatur an der Universität von Berkley (Kalifornien). Er hatte Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten in Mexiko und den USA. Neben seiner journalistischer Arbeit hat er bislang fünf belletristische Bücher veröffentlicht, gleich sein erster Roman Abgesang auf den König sorgte für Furore in der Literaturwelt. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch der Erzählband Der König, die Sonne und der Tod. Eine mexikanische Triologie erschienen. Ende 2016 erhielt er den internationalen Preis der Anna-Seghers-Stiftung. (Foto: Universität Köln)


Herr Herrera, Sie sagten einmal, ihre größte Muse sei die Scham, nicht produktiv zu sein. Wie geht es Ihrer Muse zurzeit?
Aktiv wie immer. Ich arbeite an mehreren Sachen gleichzeitig, aber ich habe immer das Gefühl, dass es nicht genug ist. Es ist wie der Kaffee am Morgen.

Im November 2016 haben Sie den Anna- Seghers-Preis erhalten. Gibt es einen Aspekt aus dem Werk von Anna Seghers, der Ihnen besonders wichtig ist?
Mich interessiert vor allem ihr Blick auf ihre eigene Zeit, wie sie die Geduld hat, zu verstehen, und diese mit einer Art empathischer Hoffnungslosigkeit verbindet. So kann sie das Drama der Menschen aus dieser Zeit kommunizieren.

Ihr wiederkehrendes Thema ist die Verbindung zwischen der Kunst und der Macht. Warum?
Es ist eine Spannung, die in allen Gesellschaften existiert: Zwischen denen, die bewahren und kontriollieren wollen, und denen, die nach neuen Formen suchen, auf die Welt zu sehen. In Mexiko drückt sich das seit einigen Dekaden institutionell aus. Es bleibt also ein Thema, das nicht zu Ende geht, und weiter reflektiert werden
muss.

Sie sagen, dass eine permanente und sehr tiefe Beziehung zwischen der mexikanischen Literatur und der Politik bestehe. Diese gehe so weit, dass der Staat die Schriftsteller finanziere, „eine sehr verdächtige Verbundenheit“ nannten Sie das mal. Können Sie das erklären?
Obwohl ich glaube, dass die Kulturpolitik des mexikanischen Staates sehr gute Momente hatte – zum Beispiel erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen, Veröffentlichungen junger Autoren aus verschiedenen Landesteilen – hat sie auch eine Funktion der Kontrolle eingenommen. Oder sie sollte als solche benutzt werden: die Arbeit der Künstler zu subventionieren, im Austausch für ihre Verschwiegenheit. Zum Glück ist das literarische Feld in Mexiko weitaus vitaler und resistenter, als es diese Kulturdezernenten begreifen können.

Sie sprechen auch über die Schwierigkeit, die kulturelle Freiheit nicht zu verlieren und es sich gleichzeitig nicht mit den Eliten der Macht zu verscherzen. Wie funktioniert das?
Das passiert nicht nur in Mexiko. Schriftsteller sehen sich auf der ganzen Welt verschiedenen Typen von Grenzen ausgesetzt. Manchmal handelt es sich um staatliche Zensur, manchmal um Druck aus der Branche wie Literaturagenten, Verlage, Kritiker und manchmal um den Druck des Marktes. In jeder Epoche und an jedem Ort
müssen Schriftsteller die Art und Weise finden, sich diesem Druck nicht zu beugen und ihre eigene
Stimme zu finden.

Politiker*innen und Anführer*innen der organisierten Kriminalität in Mexiko fühlen sich unantastbar. Sie umgeben sich mit Leuten, die sagen, was sie hören wollen. Wann hat das angefangen?
Das ist kein mexikanisches Problem. Mexiko ist kein Land, in dem die Grausamkeiten großartig anders sind als in Deutschland, der Schweiz, England oder den USA. Mexiko ist das Land, das die Toten zu einem Geschäft macht, das bei anderen aus Nachfrage, Waffen und Regeln besteht. Erinnern wir daran, dass die Gruppe, die die Studenten von Ayotzinapa attackierte, deutsche Waffen hatte. Natürlich haben wir spezifische Verantwortungen, ein veraltetes politisches System bestimmt durch Korruption, einen jahrzehntelangen Rassismus, den sich viele weigern zu sehen, eine systematische Straflosigkeit, aber die Gewalt in Mexiko entspringt auch aus den Ländern, die sich für zivilisiert halten, aus der Ferne betrachtet.

Sie sagten, es sei nicht wahr, dass keiner etwas gegen die Gewalt und die Stille tue. Können Sie einige Medien oder Aktionen nennen, die nach der „Wahrheit“ suchen?
Es gibt viele Leute, die daran arbeiten, die Meinungsfreiheit zu bewahren: Da ist die Organisation Articulo 19, kleine Medien aus Veracruz, aus Sinaloa und aus Mexiko-Stadt, die elektronischen Magazine Sin Embargo und
Lado B, Gemeinderadios im Süden und Südosten des Landes und viele andere.

Sie haben auch mal eine Gewerkschaft von Haushaltshilfen erwähnt…
Das ist noch eine kleine Gewerkschaft, aber sie zeigt, dass es immer noch elende Formen der Ausbeutung aus der Kolonialzeit gibt. Sie ist bemerkenswert, weil es sich um eine Gruppe Frauen handelt, die sich entschieden hat, für ihre fundamentalen Rechte zu kämpfen. Das könnte sich als kultureller Wandel herausstellen.

Um den Prozess zu erklären, wie Sie die adäquate Sprache in Ihren Büchern finden, benutzen Sie das Bild des Malers mit seiner Farbpalette und den verschiedenen Farben. Aber nicht immer gibt es „Farben“ für die Gewalt. Gibt es Dinge, die Sie persönlich schockieren und sprachlos lassen?
Natürlich, ständig gibt es Situationen, für die man nicht sofort Worte findet. Aber genau das ist die Arbeit der Kunst, die Worte zu kreieren, sie nicht einfach aus dem Wörterbuch zu entnehmen. Manchmal geht es darum, alte Wörter zu erneuern, manchmal darum, für sie eine andere Konnotation zu finden, manchmal darum, sie zu transformieren. Es gibt nicht den einen Weg.

Stört Sie der Begriff narco poesia (“Drogenhändlerpoesie” als Titel einer Rezension eines Ihrer Bücher?
Nein, wenn man ein Buch veröffentlicht, kann man keine Kontrolle mehr über die Art und Weise haben, wie es gelesen wird. Das ist okay. Persönlich denke ich, dass diese Etiketten die Literatur nicht bereichern, aber in manchen Bereichen haben sie eine Funktion für analytische Zwecke. Letztendlich können die Lektoren mit dem Text machen, was sie wollen.

Sie sind weit weg von der US-Grenze im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Woher stammt Ihr Interesse für den Norden Mexikos und die Grenze zu den USA?
Ich habe zwischen 2000 und 2003 an der Grenze zwischen El Paso und Ciudad Juárez gelebt, aber das war nicht mein erster Kontakt. In Mexiko hat fast jeder Familienmitglieder, die mal in die Vereinigten Staaten immigriert sind, ob sie nun zurückgekehrt oder auf der anderen Seite geblieben sind.

Vor einigen Wochen hat eine deutsche Wochenzeitung Monterrey und Indianapolis miteinander verglichen. Ein Unternehmen aus Indianapolis hat letzten Februar 1.000 Arbeitsplätze nach Mexiko umgesiedelt, wie auch
andere. Mondelez produziert seine Oreos nicht mehr in Chicago, sondern in Monterrey. Er liebe Oreos, aber er werde sie nie wieder essen, sagte Donald Trump. Glauben Sie, dass der neue US-Präsident das Thema der Arbeitsplätze, die ins Ausland gehen, wirklich verändern wird? Wird er seine Rhetorik beibehalten?
Das werden wir sehen. Ich bezweifle stark, dass er die Beschäftigungen, die die Malereibetriebe in vielen Orten Mexikos geschaffen haben, zurückholen will. Zum Beispiel: Unglaublich schlecht bezahlte Arbeiten, zu viele Stunden, wenig oder gar kein Rechtsschutz, wenig oder gar keine medizinische Versorgung. Sicher wird Trump einige weitere spektakuläre Mittel ergreifen, einige Unternehmen unter Druck setzen, damit sie ihre Investitionen zurücknehmen. Aber um die wirtschaftliche Dynamik zwischen den zwei Ländern zu verändern, bedarf es weit mehr als einen Ausstoß von Testosteron. Ich habe den Eindruck, dass das Geschrei rund um das Freihandelsabkommen Nafta eher den hysterischen Versprechen des Wahlkampfs entspricht als einer Bewertung dessen, wie Nafta funktioniert hat. Es wird ohne Zweifel Veränderungen geben, aber nicht in der Schnelligkeit, die er versprochen hat.

Hat Sie das Tempo überrascht, mit dem Trump die ersten, spektakulären Entscheidungen getroffen hat?
Nein, aber viele dieser Entscheidungen entstammen eher seinem Versuch, entschlossen zu wirken als einem konkreten Plan. Viele davon werden nicht einmal realisiert werden. Trump wird herausfinden, dass es deutlich
mehr braucht, als Papiere zu unterschreiben, damit die Dinge in Bewegung kommen. Aber vielleicht kommt es ihm darauf nicht an, seine Sache ist das Spektakel.

Ist es möglich, die Problematik um die Migration zu verschlimmern, anstatt sie zu lösen?
Wenn man die Migration ausschließlich als ein Problem betrachtet und nicht als ein Phänomen, das die Gesellschaften bereichert, ist es natürlich möglich. In Europa ist das passiert, und wir können bereits sehen, dass der mit dem Aufstieg Trumps entstandene Hass die Situation der Migranten verschlimmert, die in den Obama-Jahren schon ziemlich schlecht war.

Was denken Sie über die Rolle der mexikanischen Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Migrant*innen aus Zentralamerika?
Das ist eine passive Komplizenschaft. Es hätte eine viel größere Reaktion auf den Missbrauch geben müssen, den die Migranten aus Zentralamerika auf ihrem Weg durch Mexiko und bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten erleiden mussten.

Die Reaktion der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung auf Präsident Peña Nietos Ablehnung von Trumps Ideen und seiner Absage des geplanten Staatsbesuchs in Washington – war das ein kurzer Moment von Einigkeit in Mexiko?
Einigkeit kommt nicht auf magische Weise zustande. Ja, es gibt eine Einheit in der Ablehnung von Trump. Diese darf aber nicht als unbegrenzte Unterstützung des Präsidenten verstanden werden, mehr noch: Wenn diese ganze Episode etwas bewiesen hat, ist es die Unfähigkeit Peña Nietos eine Vision des Staates aufzuzeigen.


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