Menschenrechte und Repression in Chiapas

LN: Die Repression in Chiapas hat ja schon eine längere Geschichte. Worauf beruht sie?
Barragán: Das Regierungssystem hat immer die privilegierten Familien oder Kasten begünstigt, das politische Kazikentum in allen öffentlichen Ämtern gestärkt, die ohnehin von derselben politischen Klasse kontrolliert werden.
Im allgemeinen wurde den Indiogemeinschaften die Möglichkeit, Landkonflikte gerichtlich klären zu lassen, verwehrt. Die bundesstaatliche Justiz wird nach wie vor von der herrschenden Klasse verwaltet.
Jeder Widerstand und jeder Protest wurde mit Waffengewalt durch die Polizei, und in den letzten Monaten das Militär, unterdrückt.

Hat das Eingeifen der Militärs in der Region nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen?
In der Tat ist der militärische Eingriff in der Region illegal, da er eigentlich der Genehmigung des Kongresses bedarf, so wie es in der Verfassung steht.
Nach Zeugenaussagen, die wir erhalten haben, wird bestätigt, daß Zivilisten ermordet wurden, daß Verletzte sterbend liegen gelassen wurden oder ihnen eine medizinische Behandlung nur bei dem medizinischen Personal des Militärs erlaubt war.

Hat es in Mexiko schon früher ähnlich bedeutende Guerilla-Bewegungen gegeben?
Die letzte wichtige Guerillabewegung war vor 20 Jahren im Bundesstaat Guerrero, die damals zuerst von Génaro Vázquez und dann von Lucio Cabañas angeführt wurde. Der General, der Lucio Cabañas besiegte, hieß Absalón Castellanos, und er wurde zur Belohnung Gouverneur von Chiapas. Daher kann seine Entführung zu Beginn des Aufstandes der EZLN in Verbindung mit den Ereignissen von damals gebracht werden.

Worin unterscheidet sich denn die EZLN von der damaligen Guerilla?
Vielleicht liegt der wichtigste Unterschied darin, daß die EZLN besser vorbereitet ist und über einen größeren Anhang verfügt.

Kam der Aufstand der Zapatisten überraschend?
Schon vor 6 Monaten war bekannt, daß es Guerilla-Aktivitäten gab. Es gab sogar Konfrontationen mit dem Militär. Dies teilte die stellvertretende Innenministerin Socorro Díaz mit, und der neue Innenminister Carpizo bestätigte es.

Inwieweit haben die Militärs sich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt?
Immer gab es eine starke Militärpräsenz wegen der Gefahr, daß die guatemaltekische Guerilla in Chiapas eindringen könnte. Doch die Repression gegen die Indios und Bauern ging hauptsächlich von den “guardias blancas” (paramilitärische Einheiten, Anm. d. Red.) aus, die im Dienste der Großgrundbesitzer arbeiten. Diese “guardias blancas” genießen die Unterstützung der staatlichen Behörden. Genaue Angaben über ihre Stärke gibt es nicht, da sie immer wieder neu rekrutiert werden.

Was hat die staatliche Menschenrechtskommission (CNDH) gegen die Menschenrechtsverletzungen in Chiapas getan?
Die Kommission hat sich vor den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit vielen Problemen in Zusammenhang mit den Landkonflikten, der Repression und dem Zugang zu den Justizbehörden befaßt. Sie veröffentlichte zahlreiche Studien dazu. Sie hat sogar 29 schriftliche Empfehlungen zu über 200 Beschwerden gemacht, aber ohne Erfolg, da niemand sie beachtet. Nun hat sich die Kommission aufgrund der bewaffneten Konflikte um humanitäre Hilfen bemüht: wie durch die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften, durch die Registrierung von Übergriffen, z.B. der Erschießung von Guerilleros und Zivilisten. Sie hat aber nichts getan, um die Massaker gegen die Zivilbevölkerung und die Repression gegen JournalistInnen und die Presse zu verhindern.
Unabhängige Menschenrechtsgruppen haben über Menschenrechtsverletzungen berichtet und sind nach Chiapas gereist, doch sie werden ebenso wie die Presse zurückgehalten. Für viele MexikanerInnen ist die CNDH nur eine Fassade, um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der Regierung dahinter zu verbergen.

Was kann sich in Bezug auf die Menschenrechtssituation durch das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada verändern?
Einen politischen Richtungswechsel wird es praktisch nicht geben, da die USA auf ihre wirtschaftlichen Interessen achten werden. Und das Fehlen einer wirklichen Demokratie in Mexiko interessiert die USA zumindest zur Zeit nicht, nicht einmal die gravierenden Menschenrechtsverletzungen.
Das Freihandelsabkommen wird für das Land andere Veränderungen bringen, vor allem wirtschaftliche und juristische. In wirtschaftlicher Hinsicht wird sich die Handelsbilanz nachteilig verändern und die Arbeitslosigkeit verstärken, wodurch der informelle Sektor weiter anwachsen wird. In Sachen Justiz werden die Veränderungen sehr wichtig sein, da das mexikanische Recht dem kanadischen und US-amerikanischen untergeordnet wird. Auf diese Weise kann ein Mexikaner (im wirtschaftspolitischen Bereich, Anm.d.Red.) in Zukunft seine Konflikte vor den Gerichten dieser beiden Länder schlichten lassen und so die sehr schlechte mexikanische Justiz übergehen.

In welcher Weise kontrolliert die Regierung die Opposition? In welcher Weise wird sie vereinnahmt?
Die Regierung charakterisiert sich durch ihr Bemühen, sozialen Protest über die Kontrolle der institutionellen Organe zu vereinnahmen. Daher wurde zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode das Nationale Solidaritätsprogramm (PRONASOL) geschaffen, das wie CARITAS oder eine Einrichtung für das öffentliche Wohl wirkt, aber letztendlich Wahlziele (für die PRI, Anm. d. Red.) verfolgt. Doch selbst die Studien von PRONASOL verdeutlichen, wie schwierig es für die Regierung ist, den Unmut in der Bevölkerung abzubauen.
Die Kontrolle über die politischen Parteien ist zudem komplett, nicht zuletzt wegen der jüngsten Wahlreform, die Parteikoalitionen verbietet. Diese Wahlreform begünstigt die PRI, die auch, wenn Unvorgesehenes eintreten sollte, die Wahlgerichte kontrolliert, da diese dem Innenministerium unterstellt sind. Mensch kann sagen, daß, wenn Wahlbetrug notwendig werden sollte, dieser wie bisher auch ohne Schwierigkeiten und ohne Verstösse gegen geltendes Recht stattfinden kann.

Innerhalb der mexikanischen Regierung scheinen Veränderungen stattgefunden zu haben, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chiapas stehen. So wurde beispielsweise als neuer Innenminister Jorge Carpizo ernannt, der vormals Vorsitzender der CNDH war. Gleichzeitig wurde Camacho Solís, der dem linken Flügel der PRI angehört, als Emissär nach Chiapas entsandt. Welche Bedeutung haben diese Veränderungen? Könnten sie zu einer Demokratisierung führen?
Im allgemeinen wurden die Veränderungen, die zur Ernennung von Jorge Carpizo geführt haben, sehr begrüßt. Insgesamt scheint jedoch die Regierung mit Ausnahme von Camacho über keine guten Politiker zu verfügen. Jorge Carpizo ist ein sehr schlechter politischer Unterhändler, wie er bewiesen hat, als er Rektor der UNAM (Nationalen Autonomen Universität von Mexiko in Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) war. Er ist hervorragend, um die Korruption aufzudecken und um auf die Schlechtigkeiten des Systems hinzuweisen, aber dann trägt er zu nichts Nützlichem bei, da er sich zurückzieht und sich dem System anpaßt, das ihn begünstigt. So war es, als er Präsident der CNDH und der Bundesstaatsanwaltschaft war: in letzterer Funktion brachte er in Mexiko das Corcuera Gesetz ein, das ja sehr kritisiert wurde.

Was beinhaltet dieses Gesetz?
Dieses Gesetz ermächtigt das Innenministerium (ministerio público), das über der Justizpolizei steht, in schweren Fällen oder in solchen, wenn es kein Gericht in der Nähe gibt, Haftbefehle und Hausdurchsuchungsbefehle zu erlassen. Darüber hinaus ermöglicht es, MexikanerInnen und AusländerInnen bis zu 96 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung in Haft nehmen zu können.

Was ist die Regierungsstrategie, um die Probleme in der Region zu lösen und den Konflikt zu beenden?
Zunächst setzte die Regierung nur auf Repression und entsandte deswegen Truppen dorthin.
Danach bildete sie einen runden Tisch, um eine Lösung für die sozialen Probleme der Region zu suchen. An diesen runden Tisch wurden Vertreter des Verteidigungs-, Sozial-, und Innenministeriums und der Bundesstaatsanwaltschaft berufen.
Wie man sieht, handelt es sich hier – mit Ausnahme des Sozialministeriums – um eine Repressionsrunde. Es gibt bis jetzt keinen tiefgreifenden Vorschlag. Zum Beispiel müßte eine echte Agrarreform in Chiapas durchgeführt werden, die die Indiogemeinschaften und generell die Bauern begünstigt. Es muß eine politische Initiative unternommen werden, mit dem Ziel, die Ethnien anzuerkennen, mehr Selbstbestimmung und politische Partizipation einzuräumen. Ihnen muß ein Minderheitenvotum bei allen lokalen und bundesstaatlichen Regierungsentscheidungen ermöglicht werden. Und es muß eine tiefgreifende Sozialreform begonnen werden, die ihnen die minimalen sozialen Dienstleistungen (Trinkwasser, Strom, medizinische Versorgung, Schulen usw.) garantiert. Nichts von dem wird jedoch gemacht, da die Haushaltsmittel in die Präsidentschaftswahlkampagne fließen werden, und weil solche Reformen dem neoliberalen Kurs der Regierung widersprechen. Hier sagt man, daß zuerst Reichtum geschaffen werden muß, damit die Reichen den Armen gegenüber wohltätig sein können. Dies ist absurd.

Basta!

Freiheit statt Coca-Cola

Natürlich geht es in materieller Hinsicht, wie auch dem ‘Tagesspiegel’ klar sein dürfte, nicht um koffeinhaltige Erfrischungsgetränke, sondern um einen verzweifelten Aufschrei gegen Hunger und Verelendung. Natürlich geht es um den Kampf gegen Landraub und Massenarmut. Schon im Landesdurchschnitt lebt die Hälfte der MexikanerInnen unterhalb der Armutsgrenze. In Chiapas, einem bedeutenden Rohstofflager des Landes, ist es aufgrund von Rassismus, Flüchtlingselend und einem perfekt geschmierten Kazikensystem ein bedeutend höherer Anteil der Bevölkerung, der um das tägliche Überleben bangen muß. Und natürlich war das neoliberale Schockprogramm der 80er Jahre, inklusive der Reprivatisierung von Gemeinschafts- und ejido-Land, nicht nur die Eintrittskarte zu NAFTA, sondern außerdem Ursache von verstärkter Ausbeutung und Unterdrückung des indigenen Teils der Bevölkerung.
Eine rein ökonomische Betrachtungsweise jedoch versperrt den Blick auf das Freiheitsbedürfnis der Aufständischen. Der Schlachtruf “Tierra y Libertad” ist weder nur aus revolutionärer Tradition heraus gewählt worden, noch als alleiniger Protest gegen die Raffgier von Großgrundbesitzern, Viehzüchtern und Holzunternehmen. Der Schrei nach Freiheit richtet sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und gerade in Chiapas, gegen die Repression organisierten Protests, gegen Bevormundung, illegale Verhaftungen, Folter und Morde. Da diese Verbrechen erst mit der Duldung oder Förderung durch lokale und regionale PRI-PolitikerInnen möglich sind, ist der Aufstand zugleich eine Herausforderung des politischen Systems, eines Herrschaftsapparates, dessen Funktion die organisierte Unterdrückung freier Meinungsäußerung ist. Jede Bombe auf ZivilistInnen und jede Exekution von gefangenen Zapatistas legitimiert diesen Aufstand aufs Neue.

Der Verrat des revolutionären Erbes

Als im November 1991 der Artikel 27 der mexikanischen Verfassung über Landverteilung und Eigentumsrechte modifiziert wurde, um eine Privatisierung von Gemeinschaftsland und damit eine Ausdehnung von Großgrundbesitz zu ermöglichen, fiel eine zentrale rechtliche Säule des sozialen Teils der Verfassung von 1917. Vergebens appellierte der Vorsitzende der Linksopposition PRD, Cuauhtémoc Cárdenas, an das revolutionäre Erbe und folgerte: “Es ist wieder an der Zeit, sich mit den Fahnen von Emiliano Zapata zu erheben, für wirtschaftliche Unabhängigkeit und nationale Souveränität”. Der Erfolg von Cárdenas bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 war ein deutliches Zeichen an die PRI, daß weite Teile der Bevölkerung das einfordern, was die Verfassung aus der Revolutionszeit vorschreibt: Soziale Gerechtigkeit, nationale Unabhängigkeit und ein Vorgehen des Staates gegen die Privilegien der Eliten. Daß die PRI, wie ihr Name vorgibt, die Revolution ‘institutionalisiert’ habe, wollte eine stetig steigende Zahl von MexikanerInnen nicht mehr glauben. Die Dominanz von ausländischem, besonders US-amerikanischem Kapital, die Verquikkung von Wirtschaftselite und politischer Führung und der undemokratische Charakter des Systems sprechen eine andere Sprache.
Die Erhebung mit den Fahnen Zapatas, die Cárdenas gefordert hatte, findet nun statt, allerdings anders, als sich das die linkspopulistischen Neocardenistas vorgestellt hatten. Tiefgreifende Veränderungen, so das Signal aus Chiapas, lassen sich nicht über Wahlen erreichen, sondern nur über eine Erhebung des Volkes, in dessen Namen, aber gegen dessen Interessen, regiert wird. Zu tief sitzt das Mißtrauen gegenüber dem politischen System. Dieser militante Widerstand, so betonen die Zapatistas, ist nicht nur notwendig, sondern entspricht dem eigentlichen Geist der Verfassung. So wird im ersten Aufruf der EZLN die Verfassung zitiert: “Das Volk hat zu jeder Zeit das unveräußerliche Recht, die Form seiner Regierung zu wechseln oder zu ändern”. Der PRI wird somit das Recht abgesprochen, als Treuhänderin der Revolution zu regieren, als deren legitime VertreterInnen sich die Zapatistas betrachten. Die Revolte von Chiapas ist somit ein Fanal, das die PRI innenpolitisch weiter schwächt und außenpolitisch diskreditiert. Von der EZLN wird Salinas in einem Atemzug mit General Porfirio Díaz genannt, dem Diktator, gegen den sich Zapata vor 80 Jahren erhob. Die Parallelen zu dessen Aufstand sind so offenkundig, daß das Emblem ‘Verräter der Revolution’ nun dauerhaft an der PRI kleben bleiben wird.

“An das Volk von Mexiko”

Das Berufen auf revolutionäre Traditionen gilt seit fünf Jahren im internationalen politischen Diskurs als äußerst unfein. Von daher hat Mario Vargas Llosa in seinem Kommentar zum Aufstand in ‘El Pais’ aus seiner Sichtweise heraus natürlich völlig recht, wenn er von der EZLN als einer “anachronistischen Bewegung” spricht. Es ist in der Tat kaum anzunehmen, daß ein ‘Marsch auf Mexiko-Stadt’ die Regierung Salinas stürzt und im Gegenteil zu befürchten, daß das brutale Vorgehen der Militärs noch zahlreiche Opfer fordern wird, bis Chiapas ‘befriedet’ ist und der Repressionsapparat mit gesteigerter Gründlichkeit wieder arbeiten kann. Mit dem “ideologischen Salto rückwärts” (der ultimativen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und radikaler Demokratisierung), den Llosa anprangert, müssen sich die Verfechter der ‘Strukturanpassungsprogramme’, zu denen der peruanische Schriftsteller gehört, schon auseinandersetzen. Offensichtlich ist der Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit zu populär, um ihn noch glaubwürdig in die Mottenkiste der Geschichte verbannen zu können.
Wie also kann eine Wirtschaftspolitik gerechtfertigt werden, die nur einer dünnen Oberschicht zugute kommt? Llosas Argumentation schwankt zwischen der Alternativlosigkeit nationaler Wirtschaftspolitik angesichts der Rahmenbedingungen des Weltmarkts (was auf staatlicher Ebene schwer zu bestreiten ist) und den auf lange Sicht wohltätigen Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik für alle. Der Anspruch der PRI, die ganze Nation zu vertreten, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn der proklamierte Sprung des Landes in die ‘Erste Welt’ allen Bevölkerungsschichten Vorteile bringt. Die sozioökonomischen Realitäten Mexikos widersprechen dieser Lesart neoliberaler Schockprogramme grundlegend, und diesen Widerspruch betonen die Aufständischen. Der PRI wird nicht nur abgesprochen, legitime Vertreterin des revolutionären Erbes zu sein, sondern ebenso, ‘nationale’ Politik zu betreiben.
Die EZLN prangert in ihrem Aufruf nicht nur die “Abhängigkeit von ausländischen Mächten” und die Politik der Regierungskreise an, die “bereit sind, unsere Heimat zu verkaufen”. Dieser Vorwurf wurde zwar medienwirksam durch das zeitgleiche Inkrafttreten von NAFTA und dem Beginn des Aufstandes unterstrichen, doch die Zielrichtung ist eine andere, innenpolitische. Warum sonst, wenn die Mobilisierung der EZLN bereits seit Jahren läuft, fand die Revolte nicht vor der Abstimmung des US-amerikanischen Senats über NAFTA statt? Der Aufruf der Zapatistas wendet sich bewußt “an das Volk von Mexiko”, und, so betonen die Kämpfer, “wir haben ein Vaterland, und die Trikolore wird geliebt und respektiert”. In einem Interview führt Commandante Marcos explizit aus: “Wir sind MexikanerInnen, das eint uns, außerdem die Forderung nach Freiheit und Demokratie. Wir wollen unsere wirklichen RepräsentantInnen wählen”. Die EZLN besetzt auf diese Weise den Begriff ‘Nation’, und prangert zugleich die politische Elite als ‘Verräter’ und ‘unpatriotische’ Vertreter von Partikularinteressen an. Mehr als alles andere greift dieser Vorwurf die ideologische Hegemonie der PRI an.
NAFTA gewinnt durch diese Lesart eine andere Bedeutung: Über Jahrzehnte ist der ‘Antiimperialismus’ gegen die ‘Gringos’ aus dem Norden ein zentraler Bestandteil der nationalen Ideologie Mexikos gewesen. Durch die Öffnung der Grenzen ist diese Haltung von seiten der Regierung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Durch das Brandmarken des ‘Ausverkaufs’ des Landes erhält so die Opposition ein wirkungsvolles propagandistisches Instrument in die Hand, um generell die Defizite der PRI-Politik aufzuzeigen.

Internationaler Imageverlust

Fortwährend hatte die liberale Presse in den USA für die Annahme von NAFTA getrommelt. Zwar wurde in Kommentaren von Zeit zu Zeit auch die Wahrung der Menschenrechte in Mexiko gefordert, aber grundsätzlich war dies eine zu vernachlässigende Größe. Nunmehr finden endlich die progressiven Kräfte in den Medien Widerhall, die von jeher ein Überdenken des Freihandelsabkommens mit einem repressiven Regime gefordert haben, und die relativ wenig mit dem Nationalpopulismus eines Ross Perot gemeinsam haben. Das Konzept von Salinas, sein Regime als aufstrebende Demokratie auf dem Sprung in die ‘Erste Welt’ auszugeben, wird durch den Aufstand empfindlich geschwächt. Mehr als alle Wirtschaftsdaten zeigt der militante Protest der Ausgebeuteten, daß die Ungleichheit in Mexiko strukturell ist, und nicht etwa ein unbedeutender Schönheitsfleck einer im wesentlichen erfolgreichen ‘Modernisierung’. Die Massaker durch Militärs, die Bombardierung der Zivilbevölkerung, die Verletzungen von Pressefreiheit und Genfer Konvention zeigen auch dem blauäugigsten Freihandelsenthusiasten auf, mit was für einem Regime hier Handel getrieben wird. Dies wird aller Voraussicht nach NAFTA nicht kippen. Aber die mexikanische Regierung kann den internationalen Druck nicht ignorieren, und sei es auch nur, um InvestorInnen nicht zu verschrecken.
Die Legitimität der PRI-Dominanz ist durch den Aufstand in Chiapas ein weiteres Mal und in unübersehbarer Form in Frage gestellt worden. Noch ist nicht absehbar, ob die Vorherrschaft der PRI so stark geschwächt wurde, daß die Tage der ‘Demokratur’ bereits gezählt sind. Aber die Parteibonzen sind durch den Aufruf der EZLN gewarnt: “Heute haben wir gesagt: Basta!”

Was wird aus den guatemaltekischen Flüchtlingen?

Die Antwort von Ricardo Curtz, einer der Vertreter der CCPP, ist immer die gleiche: “Mit den Vorgängen in Chiapas haben die Flüchtlinge nichts zu tun”. Um dies zu unterstreichen, betont ein Kommuniqué der CCPP: “Falls ein/e JournalistIn, ein/e RepräsentantIn einer Institution oder irgend eine andere Person in den Lagern nach der aktuellen Situation fragt, muß man/frau klarstellen, daß die guatemaltekischen Flüchtlinge dazu keine Informationen oder Meinung haben.”
Die abweisende Haltung der CCPP zu dem Aufstand der Zapatistas ist verständlich und drückt die schwierige Lage der guatemaltekischen Flüchtlinge in Chiapas, aber auch in Mexiko überhaupt, aus. Auch wenn das Ausmaß der Auswirkungen auf die GuatemaltekInnen in Mexiko noch nicht abzusehen ist, hat sich deren Situation ohne Zweifel verschlimmert.
Obwohl die Flüchtlinge in dem Abkommen zwischen den CCPP und der guatemaltekischen Regierung vom Oktober 1992 eindeutig als Zivilbevölkerung anerkannt sind, ziehen mexikanische und guatemaltekische Behörden, aber auch die Presse im In- und Ausland, erneut eine angebliche Verbindung zwischen den Flüchtlingen, der guatemaltekischen Guerilla URNG und den Zapatistas der EZLN.
Sprecher der Regierungen in Mexiko und Guatemala behaupten immer wieder, GuatemaltekInnen und SalvadorianerInnen seien an dem Konflikt beteiligt. Der einzige “Beweis” ist bislang die Festnahme von Jesús Sánchez Galicia, von dem gesagt wird, er sei Guatemalteke und einer der Chefs der EZLN. Der guatemaltekische Arzt Rubén Alejandro Bailey, der in Mexiko ein Stipendium zur Ausbildung zum Facharzt hat, wurde unter ähnlicher Anschuldigung verhaftet.

Propaganda gegen Flüchtlinge

Da nach Meinung der mexikanischen Regierung der Konflikt “importiert” wurde, berichteten guatemaltekische JournalistInnen aus Chiapas von einer aggressiven Stimmung gegenüber ihren Landsleuten. “Wenn wir uns als GuatemaltekInnen zu erkennen gaben, wurden wir von vielen Leuten in Comitán und San Christobal de las Casas beschimpft”, so Mariano Gálvez von der Radiostation Patrullaje Informativo.
Die Flüchtlingslager in Chiapas liegen nicht direkt in dem umkämpften Gebiet. Da jedoch die Zufahrtswege zu den Lagern während der ersten Tage des Konflikts abgeschnitten waren, war die Besorgnis um die Flüchtlinge sehr groß. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß es dort keine Zwischenfälle gegeben hat.
Nach Angaben einiger BeobachterInnen in Guatemala-Stadt ist nicht auszuschließen, daß guatemaltekische Flüchtlinge an dem Aufstand der Zapatistas beteiligt sein könnten. Als Mayas fühlen sie sich mit ihren Brüdern und Schwestern in Chiapas, die sie nach ihrer Flucht aus Guatemala vor 10 Jahren solidarisch aufgenommen hatten, eng verbunden. Und die soziale und ethnische Problematik im Hochland Guatemalas und in Chiapas unterscheidet sich nur unwesentlich.
Aus einigen Lagern wird berichtet, daß sich mehrere mexikanische Familien aus den Kampfgebieten dorthin geflüchtet hätten, eine genaue Zahl ist jedoch nicht bekannt.
Wie sich der Konflikt auf die Arbeit der humanitären Organisationen in den Lagern auswirken wird, läßt sich nicht absehen. Dort ist es vor allem der Bischof Samuel Ruiz von der Diözese in San Cristobal de las Casas, der sich seit Anfang der 80er Jahre stark für die humanitäre Unterstützung der Flüchtlinge eingesetzt hat. Es wird befürchtet, daß die Arbeit der Kirche in Chiapas in Zukunft streng kontrolliert wird. Auch eine Absetzung von Monseñor Ruiz, die schon vor Monaten im Gespräch war, ist nicht auszuschließen.
In diesem Zusammenhang fordert auch die Nationale Koordinationsstelle der mexikanischen NROs zur Unterstützung der Flüchtlinge in Mexiko (CONONGAR) die Respektierung ihrer Arbeit in den Lagern und Sicherheitsgarantien für ihre MitarbeiterInnen, von denen die NROs lange Zeit keine Nachricht hatten.
Auch für die Flüchtlinge in den Bundesstaaten Campeche und Quintana Roo bleibt der Konfllikt nicht ohne Folgen. Mitglieder einer Delegation von Flüchtlingen aus diesen beiden Gebieten, die für den 10. Januar eine Reise nach Guatemala zur Vorbereitung der für April geplanten Rückkehr in die Provinz Petén beabsichtigten, erhielten von den mexikanischen Behörden keine Erlaubnis, ihre Lager zu verlassen.

Verkehrte Verhältnisse: Flucht nach Guatemala

Die guatemaltekische Zeitung “La República” berichtete am 10. Januar, Hunderte von Familien, guatemaltekische Flüchtlinge, guatemaltekische SaisonarbeiterInnen und mexikanische Campesinos/as seien aus Angst vor der Repression aus Chiapas nach Guatemala geflohen. Offiziell wurde diese Meldung nicht bestätigt, doch auch ein Mitglied der CCPP in Guatemala-Stadt vermutet, daß viele der nicht anerkannten und verstreut lebenden Flüchtlinge von sich aus nach Guatemala zurückgekehrt, und nun Flüchtlinge im eigenen Land sind.
Lange Zeit war die für den 12. Januar geplante Rückkehr von 201 Familien (947 Personen) aus Lagern im Landkreis Comalapa in Chiapas unklar. Anfang Januar sprachen sich VertreterInnen der UNHCR und der mexikanischen Flüchtlingsorganisation COMAR für eine Verschiebung der Rückkehr aus. CCPP, mit Unterstützung von Rigoberta Menchú, hielten jedoch an dem ursprünglichen Termin fest. Schließlich erklärten sich die mexikanischen Behörden bereit, einige der Vorbereitungen von Comitán zum Grenzort La Mesilla zu verlegen, und die Flüchtlinge kehrten ohne nennenswerte Probleme zurück. In Chaculá, im Landkreis Nentón der Provinz Huehuetenango, werden sie sich neu ansiedeln. Nach der Rückkehr von 350 Familien im Januar vergangenen Jahres in die Region Ixcán, Provinz Quiché, war dies die dritte organisierte und kollektive Rüchkehr von guatemaltekischen Flüchtlingen.

Der Druck wächst – Die Schwierigkeiten bleiben

Die Ereignisse in Chiapas werden den Druck der Flüchtlinge auf die CCPP, möglichst schnell die Bedingungen für die Rückkehr weiterer Gruppen zu eröffnen, verstärken. Doch die beiden Hauptprobleme für sie in Guatemala bleiben bestehen: Die Schwierigkeiten, Land zu bekommen und die Militarisierung, die ihr Leben bedroht.
Als Beispiel sei hier die Situation der 200 Mitglieder der Kooperative “Ixcán Grande” in Quiché genannt, die am 8. Dezember 1993 in die Ortschaft “Tercer Pueblo” ihrer Kooperative zurückkehren wollten. Hier befindet sich ein Stützpunkt des Militärs, und die Streitkräfte zeigten sich nicht bereit, diesen zu verlegen, angeblich “zum Schutz der Bevölkerung”. Aus diesem Grund mußten die RückkehrerInnen provisorisch und unter unwürdigen Bedingungen in der Ortschaft Vera-cruz untergebracht werden.
Die Flüchtlinge stammen meist aus den Grenzregionen zu Mexiko, die nach wie vor Gebiete des militärischen Konfliktes zwischen dem Militär und der URNG sind. Mit dem Konflikt in Chiapas und unter dem Vorwand, das Eindringen von Zapatistas nach Guatemala zu verhindern, hat die militärische Präsenz im Grenzgebiet der Provinzen Huehuetenango, San Marcos, Quiché und Petén zugenommen. Die guatemaltekischen Streitkräfte schließen auch gemeinsame Aktionen mit dem mexikanischen Militär nicht aus.
Rigoberta Menchú, die nach Guatemala kam, um die Rückkehr der Flüchtlinge am 12. Januar zu begleiten, drückte ihre Besorgnis aus, daß das guatemaltekische Militär den Konflikt in Mexiko als Vorwand benutzen könnte, die Rückkehrer stärker zu kontrollieren und die Repression in den Konfliktgebieten zu verstärken.
Der Konflikt in Chiapas macht eine verstärkte internationale Aufmerksamkeit für die Situation der guatemaltekischen Flüchtlinge, offiziell anerkannt oder nicht, und die der RückkehrerInnen in Guatemala dringend notwendig.

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