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REISE DER REBELLION

Die Zapatistas kommen nach Europa

Diesen Sommer wird eine Delegation der Zapatistas Europa bereisen. Die indigenen Revolutionär*innen planen, sich vor Ort „von unten und links“ mit sozialen Bewegungen zu treffen und auszutauschen. Über mehrere Monate hinweg wollen sie in unterschiedlichen Konstellationen den ganzen Kontinent besuchen. Diese Reise ist nicht nur für die zapatistische Bewegung historisch, sondern könnte auch zum Meilenstein in der Geschichte der internationalen Solidarität werden.

Von Philipp Leserer

In internationalen Gewässern Das Segelschiff der Zapatistas ist auf dem Weg nach Europa (Foto: Enlace Zapatista)

Am 3. Mai ist eine siebenköpfige Delegation der zapatistischen Autonomiebewegung mit einem Segelschiff von Südmexiko in Richtung Europa aufgebrochen. Das Schiff erreichte am 11. Juni die Azoren. Doch die sieben Segler*innen sind nur die Vorhut, die gesamte Delegation soll aus über 150 Vertreter*innen der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) und des CNI (Nationaler Indigener Kongress) bestehen. Mindestens drei Viertel von ihnen sollen Frauen und Queers sein. In Europa angekommen, werden sie in verschiedenen Konstellationen unterschiedliche Orte, soziale Bewegungen und Kämpfe „von unten und links“ besuchen. Ein zentraler Termin der Reise wird der 13. August in Madrid sein: 500 Jahre nach der Eroberung des Gebietes des heutigen Mexikos durch Spanien ist das Ziel dieses Stopps, symbolisch zu verdeutlichen, dass der indigene Widerstand gegen den Kolonialismus anhält. Die Zapatistas betonen, dass vor 500 Jahren damit begonnen wurde, die Menschen in den Amerikas zu kolonisieren, aber es nie geschafft wurde, sie zu unterwerfen.

Aber was ist das Besondere an dieser Reise? Eine Delegation indigener Aktivist*innen, die durch Europa fahren und soziale Bewegungen besuchen? Die Bilder von den Revolutionär*innen in Sturmhauben sind vom Süden Mexikos aus längst um die Welt gegangen und doch sind die Hintergründe ihres Kampfes für viele immer noch ein Mysterium. So hängt die Bedeutung dieser Reise eng mit der Geschichte der zapatistischen Bewegung, einem Vierteljahrhundert des Aufstands und der Strahlkraft ihres inspirierenden Charakters für soziale Bewegungen weltweit zusammen. Der Beginn dieses Aufstandes der EZLN fand nicht ohne Grund am 1. Januar 1994 statt, dem Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA). Es ist ein Aufstand, der sich nicht nur gegen die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung richtet, sondern auch gegen den internationalen neoliberalen Kapitalismus, für den das NAFTA-Abkommen so exemplarisch steht.

Nach über zehn Jahren Vorbereitung hatten die bewaffneten Kämpfer*innen der EZLN am 1. Januar 1994 fünf Bezirkshauptstädte in Chiapas, einem Bundesstaat im südlichen Mexiko, besetzt und damit der mexikanischen Regierung den Krieg erklärt. Der Aufstand kam für internationale Beobachter*innen wie aus dem Nichts. Niemand hatte ihn vorhergesagt oder auch nur mit ihm gerechnet. Nach wenigen Tagen zogen sich die Zapatistas aus den Bezirkshauptstädten in die ländlichen Regionen zurück.

Der zapatistische Aufstand als „Einladung zur Rebellion“ weltweit

Unterstützt durch die mexikanische Zivilgesellschaft konnten sie nach zwölf Tagen eine Waffenruhe mit der mexikanischen Regierung erreichen. Die nach langen Verhandlungen 1996 im Vertrag von San Andrés vereinbarte Anerkennung der Rechte und Autonomie indigener Bevölkerungsgruppen wurde nie in die mexikanische Verfassung eingeschrieben. Trotzdem hat die EZLN im Osten Chiapas eine faktische Autonomie umgesetzt, doch bis heute sind die Zapatistas immer wieder Angriffen der mexikanischen Regierung und paramilitärischer Einheiten ausgesetzt (siehe LN 543/544). Die zapatistischen Gemeinden in den autonomen Gebieten zeichnen sich durch ihre basisdemokratische Selbstorganisation aus. Hier wird der Versuch gewagt, eine andere Form des Zusammenlebens auszuprobieren.

Für soziale Bewegungen weltweit sind das Erproben neuer Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens geschichtlich immer inspirierende Momente gewesen und auch die zapatistische Befreiung ist hier keine Ausnahme. Schon seit 1996 finden regelmäßig internationale Treffen in Chiapas statt und Menschen verschiedenster sozialer Bewegungen weltweit sind den Einladungen gefolgt. Zudem reisen immer wieder Menschen und Delegationen nach Chiapas, um beim Aufbau der Infrastruktur zu helfen. Zapatistischer Kaffee für die finanzielle Unterstützung ist quasi schon Pflicht für viele europäische Aktivist*innen.

„Finden, was uns gleich macht.“

Dass die Zapatistas bis heute einen so großen Einfluss auf diverse soziale Bewegungen haben, ist aber vor allem ihrem Politikverständnis anzurechnen. Sie verbinden feministische, ökologische, anti-koloniale und anti-neoliberale Perspektiven mit einem machtkritischen und zutiefst selbstreflexiven Verständnis. Dieses spiegelt sich auch in ihrem Motto „Fragend schreiten wir voran!“ wider: Der zapatistische Aufstand ist in seiner Idee nicht auf sich bezogen, sondern versteht sich vielmehr als „Einladung zur Rebellion“ auf der ganzen Welt, dem es nicht darum geht, die Macht über Institutionen oder den Staat zu übernehmen, sondern eine andere autonome gesellschaftliche Organisation des Alltags aufzubauen. Die Zapatistas wollen verschiedene Perspektiven nicht gegeneinander diskutieren, sondern diese solidarisch nebeneinander stellen, sich aufeinander beziehen lassen, ohne sich auszuschließen, auch wenn sie sich oft widersprechen. Es geht für die indigenen Revolutionär*innen darum, aus gemeinsamen Kämpfen „von unten und links“ zu lernen. Internationale Solidarität ist demnach nicht der einfache Blick auf die Orte widerständiger Kämpfe, sondern darüber hinaus eine Einladung zur gegenseitigen Inspiration.

Als am 5. Oktober vergangenen Jahres ein Kommuniqué der EZLN erschien, in dem sie ankündigten, alle fünf Kontinente zu bereisen und sich im April dieses Jahres Richtung Europa auf den Weg zu machen, löste das eine große Aufregung innerhalb europäischer sozialer Bewegungen aus. Inmitten einer Pandemie machten die Zapatistas wie so oft eine unerwartete Ankündigung: „Verschiedene zapatistische Delegationen aus Männern, Frauen und Anderen der Farbe unserer Erde werden die Welt bereisen. Wir werden gehen oder segeln, bis hin zu weit entfernten Ländern, Meeren und Himmeln. Wir wollen weder die Unterschiede suchen, noch die Überlegenheit oder die Konfrontation, noch viel weniger Vergebung und Mitleid. Wir werden finden, was uns gleich macht.“

In Europa laufen unterdessen die Vorbereitungen für eine Reise, die schwer zu planen ist und deren Realisierbarkeit Unterstützer*innenorganisationen schon in Frage gestellt hatten. Obwohl der erste Teil der Delegation bereits in See gestochen ist, sind viele Fragen zur Route und dem Ablauf der Veranstaltungen und Aktionen offen. Bis jetzt ist nur klar, dass die gesamte Delegation am 13. August in Madrid sein, sich im Laufe der Reise aber auf verschiedene Orte aufteilen wird.

Trotz dieser Herausforderungen und der geringen Planbarkeit sagt Uli vom Ya-Basta-Netz, einer deutschlandweit agierenden Unterstüt-*zer*innenorganisation: „Wir werden Vieles auf die Beine stellen und es sind unglaublich viele Menschen, die mitmachen wollen“. Bereits jetzt nähmen Hunderte an der Vorbereitung teil. Ya Basta geht davon aus, dass sich noch weitaus mehr interessierte Menschen mobilisieren lassen werden, wenn die Delegation erst einmal angekommen ist. Dass so viele Menschen in die Reise involviert sind, läge daran, dass es nicht nur um das Organisatorische, sondern auch darum geht, „zusammen zu kommen und trotz aller Unterschiede hier gemeinsam weiter zu machen“, erklärt Uli. An den verschiedenen Orten laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren und die Pläne verstetigen sich, je näher die Ankunft der Zapatistas rückt. Auch Bewegungen und Organisationen aus unterschiedlichen Ländern vernetzen sich dafür. Zu Themenfeldern wie Antirassismus, Feminismus und Klimagerechtigkeit haben sich sowohl lokal als auch überregional Arbeitsgruppen gebildet. Die Vorbereitungsgruppen achten insbesondere darauf, basisdemokratisch zu entscheiden und zu handeln.

Am Jahrestag des zapatistischen Aufstandes, am ersten Januar 2021, veröffentlichte die EZLN unter dem Titel „Eine Erklärung für das Leben“ ihr letztes von sechs Kommuniqués zur Reise – diesmal an der Seite internationaler Unterstützer*innenorganisationen. Im gemeinsamen Kommuniqué wird einmal mehr deutlich: Was diese Reise ausmacht, ist das Verständnis der zapatistischen Politik. Es geht den indigenen Revolutionär*innen nicht um das bloße Bereisen Europas und der sozialen Bewegungen vor Ort, sondern darum, einen Austausch mit den Menschen zu initiieren, zu inspirieren, selbst Inspiration einzuholen und aktiv gemeinsame Kämpfe zu führen. Die Zapatistas verstehen die Vielfalt und Widersprüchlichkeiten verschiedener linker Positionen als Stärke, in der sich Möglichkeiten für die einzelnen Kämpfe bieten. Sie wollen von den europäischen sozialen Bewegungen nicht glorifiziert werden. Vielmehr soll es für jene darum gehen, die Einladung zur „Rebellion für das Leben“ anzunehmen und mit den Zapatistas neue Impulse für gemeinsame Kämpfe zu finden.

Internationale Solidarität ist gegenseitige Inspiration

Es bleibt abzuwarten, was auf dieser Reise passieren wird und welche Herausforderungen auf die Zapatistas und die einladenden Gruppen zukommen. So sind nach wie vor eine Reihe von Ungereimtheiten offen, zum Beispiel bezüglich der Einreise in die EU oder die Frage, wie der gesamte Ablauf koordiniert werden kann.

Die Zapatistas werden auch auf dieser Reise für Überraschungen gut sein. Wenn sie in wenigen Wochen vor der Küste Spaniens anlegen, wird das Abenteuer, welches sie nach Europa tragen, erst richtig beginnen. Offen bleibt, welchen Einfluss dies auf die sozialen Bewegungen vor Ort haben wird. Wird eine neue Form der Zusammenarbeit, Organisation und des internationalen gemeinsamen Kampfes entstehen? Werden diese neue Stärke gewinnen und neue kreative Wege einschlagen? Vieles bleibt spannend, daher wird es sich lohnen, die Reise aufmerksam zu verfolgen. Die zapatistische Bewegung hat seit ihrem Beginn die sozialen und linken Bewegungen weltweit inspiriert. Es lässt sich vermuten, dass ihre Reise ein neues Kapitel der internationalen Solidarität aufschlagen wird.

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