Angst vor einem neuen Acteal
Zehn Jahre nach dem Massaker ist die Verantwortung der Politik in der mexikanischen öffentlichen Meinung weiterhin kein Thema
Am 21. Dezember waren sie alle da: die Überlebenden und die Angehörigen der Toten, Menschenrechts- und indigene Organisationen, über Tausend Menschen aus ganz Mexiko und anderen Teilen der Welt, der amtierende Bischof und die ehemaligen Bischöfe Raúl Vera und Samuel Ruiz. Ein Chor sang, ein traditionelles Orchester spielte. Doch ein fröhlicher Tag war es nicht im Dorf Acteal im Hochland von Chiapas. Nicht nur jährte sich an diesem Tag zum zehnten Mal das grausame Massaker, das Paramilitärs hier 1997 verübten. Das Gedenken war auch geprägt von der erneuten Zuspitzung des Konflikts in Chiapas in den letzten Monaten – und der Angst, dass sich so auch ein Verbrechen wie in Acteal wiederholen könnte.
Schon Monate zuvor hatte die indigene Organisation Las Abejas (Die Bienen) angekündigt, anlässlich des zehnten Jahrestags des Massakers zu einem Nationalen Treffen gegen Straflosigkeit einzuladen. Zwei Tage diskutierten die TeilnehmerInnen schließlich in Acteal die aktuelle Situation der Menschenrechte in Mexiko, überlegten gemeinsam, wie Menschenrechtsverletzungen bekannt gemacht werden können. Die Anwältin des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé des Las Casas, genannt Frayba, erläuterte den aktuellen Stand der juristischen Aufarbeitung des Massakers, Kleingruppen arbeiteten Vorschläge aus, wie die Erinnerung der Opfer im öffentlichen Bewusstsein wachgehalten werden könnte. Dann endeten die Debatten und es begann das Gedenken: Mit Andachten und Prozessionen, Redebeiträgen und Berichten der Überlebenden.
Das Massaker von Acteal war trauriger Höhepunkt einer von der mexikanischen Regierung seit 1995 umgesetzten Strategie der Aufstandsbekämpfung. Obwohl deren zentrales Ziel die Zermürbung der zivilen Unterstützungsbasis der EZLN war und ist, so waren doch immer auch AnhängerInnen oppositioneller Parteien und regierungsunabhängiger Organisationen von der Repression betroffen. Wichtigster Bestandteil des Konzepts, dessen Umsetzung auch als „Krieg niederer Intensität“ bezeichnet wird, ist die Schaffung, Ausbildung und materielle Unterstützung paramilitärischer Gruppierungen, die die mexikanische Armee als „Selbstverteidigungsgruppen“ bezeichnet. Diese bestehen in der Mehrzahl aus Indígenas, die meist aus denselben Dörfern wie die ZapatistInnen kommen, aber auf der Seite der Regierung stehen. Häufig spielen dabei wohl ein geringes Ansehen in der Gemeinde sowie ökonomische Faktoren eine Rolle für ihre Entscheidung.
Zunächst wurde die Aufstandsbekämpfung ab 1995 in Norden von Chiapas angewandt. Im Hochland des Bundesstaats wurde 1996 mit dem Aufbau paramilitärischer Gruppen begonnen; ab diesem Zeitpunkt nahmen die Konflikte zwischen regierungstreuen auf der einen und oppositionellen und zapatistischen Indígenas auf der anderen Seite zu. In den Monaten vor dem Massaker provozierten AnhängerInnen der damaligen Regierungspartei Institutionelle Revolutionäre Partei PRI mehrere Zusammenstöße mit den ZapatistInnen, bei denen vor allem Letztere mehrere Tote zu beklagen hatten.
Insofern gab es Alarmzeichen, die auf eine gewalttätige Zuspitzung hindeuteten. Doch weder die Regierung des Bundesstaats Chiapas noch die Zentralregierung in Mexiko-Stadt schritten ein. Wenige Tage vor dem 22. Dezember fanden mehrere Treffen von Paramilitärs in Nachbardörfern von Acteal statt. Auf diesen Treffen wurde der Überfall geplant. Die Paramilitärs kesselten dann die Gemeinde von allen Seiten ein und metzelten die Opfer mit Schusswaffen und Macheten nieder.
Auch zehn Jahre nach dem Massaker sind die Täter noch nicht rechtskräftig verurteilt. Derzeit laufen verschiedene Prozesse gegen über 80 Indígenas, Angehörige verschiedener Polizeieinheiten und staatliche Funktionäre jener Zeit, die sich entweder durch direkte Tatbeteiligung oder unterlassene Hilfeleistung schuldig gemacht haben. Die höheren Ebenen der Regierung, die Ende 1997 im Amt war, sind von den Prozessen nicht betroffen. Doch die Angehörigen der Opfer und die Organisationen, die sie unterstützen, sind überzeugt, dass sowohl der damalige mexikanische Präsident Zedillo, sein Innenminister und Verteidigungsminister sowie der damals amtierende Gouverneur von Chiapas, Julio César Ruiz Ferro, als die geistigen Urheber angeklagt und verurteilt werden müssten. Das Menschenrechtszentrum Frayba hat mehrfach betont, dass es sich bei dem Massaker wegen der Planung und des Tat-hergangs um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handele und Zedillo als Oberbefehlshaber der Streitkräfte daher zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Frayba hat den Fall vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte gebracht, deren Entscheidung über die Verhandlung des Falls noch aussteht.
Ähnlich unbefriedigend wie die juristische Aufarbeitung des Massakers verläuft für die Opfer, ihre Angehörigen und UnterstützerInnen derzeit auch die öffentliche Debatte in Mexiko. Im Oktober 2007 starteten verschiedene mexikanische Medien eine Kampagne, die die Ereignisse in Acteal in einer Weise darstellte, die die mexikanische Regierung von jeglicher Verantwortung freispricht. In der regierungsnahen Monatszeitschrift Nexos erschien eine dreiteilige Artikelserie mit dem Titel Regreso a Acteal („Rückkehr nach Acteal“). Die These: Das Massaker von Acteal sei allein auf Konflikte zwischen dem Dorf und Nachbargemeinden zurückzuführen. Die Serie löste ein breites mediales Echo aus; ihr Autor, Héctor Aguilar Camín, wurde in der Folge ein gefragter Interviewgast in Radio und Fernsehen.
Die Opfer hatten es wesentlich schwerer, Gehör zu finden. Lediglich einige wenige Zeitschriften sowie die linke Tageszeitung La Jornada boten kritischen Intellektuellen ein Forum, um gegen die Vertuschung staatlicher Schuld zu argumentieren. Hermann Bellinghausen, der seit über einem Jahrzehnt aus den aufständischen indigenen Gemeinden in Chiapas berichtet, erläuterte in 21 aufeinander folgenden Artikeln ausführlich, wie sich die paramilitärischen Strukturen in der Hochlandregion von Chiapas entwickelten, wie der Staat die Zuspitzung des Konflikts in den Gemeinden unterstützte und dieser schließlich in das Massaker von Acteal mündete. Eine Resonanz wie seinem Kollegen Aguilar Camín von Nexos war Bellinghausen jedoch nicht beschieden.
Dabei wäre eine Diskussion über das bisher schlimmste Ergebnis der Aufstandsbekämpfung in Chiapas derzeit dringend angebracht. Denn ein Jahrzehnt nach dem Massaker mehren sich die Zeichen, die auf eine erneute heiße Phase des „Kriegs niederer Intensität“ hindeuten. Um den Jahreswechsel waren ein zapatistisches Dorf und das erste zapatistische Naturschutzreservat nahe San Cristóbal von gewaltsamer Räumung bedroht. Besonders unter Druck steht derzeit die Gemeinde Bolon Ajaw nahe den Wasserfällen von Agua Azul; die Mitglieder der paramilitärisch strukturierten Organisation zur Verteidigung der Rechte der Indígenas und Bauern OPDDIC haben schon häufiger den dort lebenden ZapatistInnen aufgelauert und mehrere von ihnen schwer verletzt. Allen Brennpunkten ist der Streit um Land gemeinsam, das 1994 von den Aufständischen besetzt, verteilt und seitdem bewirtschaftet wurde. Der Sprecher und militärische Kopf der EZLN, Subcomandante Marcos, hat zudem bei einem internationalen Kolloquium in San Cristóbal Mitte Dezember 2007 erklärt, dass dies sein vorerst letzter Auftritt sei, da die momentane Entwicklung in Chiapas auf eine Rückkehr des Krieges hindeute. Ob dies wirklich eintritt, wird sich zeigen. Im Moment sollten die mexikanische und die internationale Öffentlichkeit jedenfalls wieder verstärkt die Augen auf den Südosten Mexikos richten.