Chronik eines angekündigten Ausverkaufs

Die staatliche Telefongesellschaft ENTEL wurde für den Verkauf in zwei Teile, Telco Sur und Telco Norte, aufgeteilt. Das Konsortium aus der US-Bank Citi­corp und der schweizerisch-argentinischen Frima Techint unter der Führung der spanischen Telefónica sichert sich 60% der Aktien von Telco Sur für 114 Mil­lionen US-Dollar und 2,27 Mrd. US-Dollar in Auslandsschuldscheinen. Diese Schuld­scheine Argentiniens kaufen die Firmen auf dem Sekundärmarkt für 13% ihres Nominalwertes, also für ganze 354 Millionern US-Dollar. Dept-to-equity-swaps heißt das in der Sprache der WirtschaftswissenschaftlerInnen – als Farce könnte mensch es auch bezeichnen. Für den Kauf der anderen Hälfte, Telco Norte, legte das Konsortium von Bell Atlantic und Hannover Trust, zwei US-amerikanischen Firmen legt lediglich 100 Millionen US-Dollar in bar und 300 Millionen für den Kauf von Schuldscheinen mit einem Nominalwert von 2,3 Mrd. US-Dollar auf den Tisch. Insgesamt verkauft also der argentinische Staat sein wohl lukrativstes Unternehmen für 868 Millionen Dollar, reduziert dabei allerdings seine Aus­landverschuldung um 4,6 Mrd. US-Dollar.

Ruinöser Deal als Vorbild für weitere Maßnahmen

Doch damit nicht genug der Tragödie: Der argentinische Staat garantiert den Käufern in den ersten drei Jahren einen jährlichen Reingewinn von 16%. Die Schulden von ENTEL in Höhe von 1,7 Mrd. US-Dollar(!), die in den letzten 1 1/2 Jahren angehäuft wurden, übernimmt ebenfalls der Staat. Und zu alledem sind die neuen Betreiber lediglich zu Investitionen in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar in den ersten drei Jahren verpflichtet. Das entspricht einer Installation von 620.000 neuen Telefonleitungen, bei derzeit 1,8 Millionen Anschlüssen, von denen ein Drittel seit längerer Zeit nicht funktioniert. Somit wird das, was sich die argenti­nischen TelefonbesitzerInnen von der Privatisierung versprechen, nämlich end­lich funktionierende Telefone, weiterhin auf absehbare Zeit ein Traum bleiben. Und die Menschen, die gerne ein Telefon hätten und es sich leisten könnten, brauchen sich wohl gar nicht erst um einen Anschluß bemühen. Eine über die drei Jahre hinausgehende langfristige Investitionsverpflichtung für die Käufer gibt es nicht. So dämpften die neuen Gesellschafter bereits eine Woche nach dem Verkauf allzu große Erwartungen mit der schlichten Feststellung, daß bessere Dienste frühestens in zwei Jahren zu erwarten seien. Vorleistungen für diese eventuellen Verbesserungen müssen die argentinischen TelefonbesitzerInnen allerdings schon bald in Form von saftigen Tariferhöhungen erbringen. Die 46.000 Angestellten von ENTEL werden ebenfalls mit einer Negativentwicklung zu rechnen haben: ein Teil von ihnen wird sicherlich im Zuge der Rationalisie­rung entlassen werden. Ein derart skandalöser Privatisierungs-Deal dürfte selbst in der Geschichte der “freien Marktwirtschaft” bisher einmalig sein. Wo auch sonst stürzt sich der Staat für eine kurzfristige Verringerung der Auslandsschul­den freiwillig in ein solch ruinöses Geschäft? – In den USA, dem Land mit der größten Auslandsverschuldung sicherlich nicht.
Das Fatale ist, daß dieses Privatisierungsschema von ENTEL das Modell für alle weiteren Verkäufe von Staatsbetrieben Argentiniens darstellen soll. Und diese weiteren Aus­verkäufe werden nicht lange auf sich warten lassen: 10.000 Kilometer National­straßen sind bereits an fünf ausländische Firmen vergeben, die ihre Investitions­kosten über die Einführung einer Autobahngebühr wieder reinbekommen wol­len. Die nationale Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas wird ein Konsortium unter der Führung der spanischen Fluglinie Iberia aufkaufen. Thyssen und das spanische Staatsunternehmen (!) Renfe wollen sich hingegen die profitable Eisenbahnlinie von der Pampa zum Hafen in Bahia Blanca, auf der 85% der argentinischen Getreideexporte befördert werden, unter den Nagel reißen. Das staatliche Erdölmonopol YPF lädt ausländische Firmen zwecks Bildung von Gemeinschaftsunternehmen zur Förderung der profitablen Erdölvorkommen ein…

Loch in der Kasse und Strangulierung durch den IWF

Begründet werden diese Verkäufe immer wieder mit dem chronischen Haus­haltsdefizit des argentinischen Staates. 8,4 Mrd. US-Dollar beträgt dieses Loch in der Haushaltskasse – die Defizite der Staatsbetriebe haben daran einen Anteil von fast 50%. Kein Wunder also, wenn der Staat diese lästigen Firmen loswerden will. Geschieht dies allerdings wie bei ENTEL nach der Devise: Gewinne privati­sieren – Defizite verstaatlichen, geht dies an dem eigentlichen Problem vorbei.
Der IWF macht diese Verringerung des Haushaltsdefizits immer wieder zur Bedingung für eine Kreditgewährung. Den bereits im November 1989 beschlos­senen Überbrückungskredit für Argentinien in Höhe von 1,4 Mrd. US-Dollar ver­sah der Fond bei den erneuten Verhandlungen in diesem Jahr allerdings mit weiteren Auflagen. Neben der Veringerung des Defizits auf 1% verpflichtete sich Argentinien die Steuern weiter anzuheben, die Löhne zu senken, die Preise für öffentliche Dienstleistungen erneut zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben für diese Staatsdienste sowie die Zuschüsse an die Provinzregierungen zu verrin­gern. Darüberhinaus mußte Argentinien Anfang Juni zum ersten Mal seit April 1988 in Umschuldungsverhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken ein­treten. Seit 1988 hat Argentinien faktisch keinen Cent an Zinszahlungen geleistet, wodurch die Zinsen für die 60 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden auf 6,5 Mrd US-Dollar angewachsen sind. Als Geste des guten Willens tätigte Argentinien im Mai eine symbolische Zahlung von 100 Millionen US-Dollar Zinstilgung. Bei den derzeitigen Verhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken wird eine solche Summe wohl allerhöchstens als wöchentliche Zahlung angenommen werden.
Die härteste Bedingung des IWF ist allerdings die Verpflichtung, die Inflation ab August auf unter 2% monatlich zu verringern. Ein schier unmögli­ches Unternehmen. Führte die Hyperinflation im Februar und März dieses Jahres (fast 100% monatlich) zur Blockierung des schon vereinbarten IWF-Kredites, so konnte durch den neuen Wirtschaftsplan von Wirtschaftminister Gonzales (LN 192) die monatliche Inflation im April immerhin auf 11,4% gesenkt werden. Doch damit war’s auch schon wieder vorbei. Im Mai stieg die Monats-Inflation auf 13,6%, der Juni schlug mit 15% zu Buche – Tendenz steigend. Für die erste Jahreshälfte 1990 akkumuliert sich somit die Inflation auf 617%. Dennoch konnte Argentinien die Auszahlung von 240 Millionen US-Dollar des erwähnten 1,4 Mrd.US-Dollar Stand-By-Kredites erreichen – die zweite Tranche nach den 140 Millionen im November. Der IWF geht anscheinend kein Risiko ein und gibt Argentinien immer wieder kleine Häppchen des ohnehin nicht gerade großen Kuchens, um wenige Monate später eine weitere Auszahlungen mit neuen, noch härteren Bedingungen zu verknüpfen.

Neoliberale Logik für “nicht-kapitalistische Kapitalisten”

Wirtschaftsminister Ermán Gonzales verkündete entsprechend Ende Juni mit ernster Mine gemäß dem Diktat des IWF, neben der Verlängerung des seit Juli 1989 bestehenden ökonomischen Ausnahmezustandes um ein weiteres Jahr, eine erneute Anpassung der Anpassung an seinen Wirtschaftsplan vom März…
Eine erneute Blockierung des Kredits und somit weitere wirtschaftliche “Liberalisierungsmaßnahmen” stehen gewiß schon bald wieder ins Haus, denn die Bedingung des IWF, die Inflation ab August auf 2% monatlich zu drücken ist schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Daß Argentiniens Wirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres mit 1,79 Mrd. US-Dolllar einen unerwartet hohen Export­überschuß erbracht hat, verdeckt die Tatsache, daß das Land sich in einer schwe­ren Rezession befindet. In keine Branche sind die Kapazitäten der Unternehmen auch nur annähernd ausgelastet. Stattdessen führen massenhafte Entlassungen und Betriebsschließungen zur weiteren Verstärkung der Wirtschaftskrise. Der industrielle Ausstoß verringerte sich in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 13% und das Investitionsvolumen der argentinischen Wirtschaft ist so niedrig wie nie zuvor.
Der Reallohn der ArbeiterInnen hat sich seit Januar um über 30% verringert und das in einer Situation, in der das Land mit den einst höchsten Löhnen Lateinameri­kas schon im Jahr zuvor auf ein Niveau unterhalb von Chile oder Paraguay abge­sunken ist. Entsprechend sucht ein Großteil der ArgentinierInnen, die nicht nach Europa auswandern können, sein Glück und vor allem Arbeit in den angrenzen­den Ländern und wandert aus. Die Lebenshaltungskosten steigen permanent durch die inflationsbedingten Preissteigerungen. Doch Präsident Menem argu­mentiert diesbezüglich ganz in seiner neoliberalen Logik: “Viele Grundnah­rungsmittel sind im Ausland billiger als in Argentinien. Wir werden all diese Produkte, die billiger auf dem heimischen Markt verkauft werden können importieren”. “Der Fall Argentinien hat das Interesse der weltbesten und bekanntesten Ökonomen geweckt, die immer noch nicht erklären können, was in diesem Land passiert”, äußerte kürzlich der frühere Minister für öffentliche Dienste der Regierung Alfonsín, Rodolfo Terragno. “Argentinien ist das einzige Land der Welt, wo eine schwere Rezession, die in der Theorie die Märkte stabili­siert und die Inflation beseitigt, von einer Hyperinflation begleitet ist.” Selbst die Experten des IWF und der Weltbank stehen vor einem Rätsel. Sie akzeptierten im Juli das Argument der Regierung, daß die Unternehmen in Argentinien ihre Preise enorm überhöhen und sich somit überhaupt nicht an die Regeln der “freien Marktwirtschaft” halten und zur Inflation beitragen. “Auf diesem Niveau der Inflation könnte jeglicher interne Schock oder eine externe Agitation der Auslöser für eine Hyperinflation sein”, meinte IWF-Chef Michel Camdesus im Juli. Die argentinischen Kapitalisten sind eben nicht kapitalistisch genug.
Die beginnenden Streiks in der Provinz Buenos Aires, an denen im Moment 500.000 ArbeiterInnen, unter anderem die Metalle­rInnen, beteiligt sind, sind ein Beispiel für die Herausforderungen, denen sich Präsident Menem in den näch­sten Wochen und Monaten stellen muß. Die argentinische Bevölkerung kann und will die Politik seiner Regierung nicht mehr länger ertragen. Die Plünderungen während der nächtlichen WM-Feiern in Buenos Aires Anfang Juli sind ein Indiz für die Hoffnungslosigkeit der sozialen Situation in Argentinien. Daß Menem dabei auf die repressive Karte setzt ist sehr wahrscheinlich und wird durch das Ergebnis der nächtlichen Ausschreitungen vom Juli verdeutlicht: um 3500 Mann verstärkte Polizeipräsenz in Buenos Aires, über 200 Festnahmen und mehrere Tote.

Die Toten von Pisagua beginnen zu sprechen

Diese Reaktion ist insofern überraschend, als seit Jahren bekannt ist, daß die Diktatur Hunderte von Gegnern spurlos verschwinden ließ. Daß sie tot waren, damit mußte man rechnen; ungewiß war nur, wie, wann und wo sie umge­bracht wurden. Jahrelang hatten Angehörige und Freunde der “verschwundenen Verhafteten” vergeblich mit kleinen Demonstrationen unter dem Motto “Donde están?” “Wo sind sie?” Rechenschaft vom Regime und Gehör in der chilenischen Gesellschaft gesucht.
Es scheint, daß die Toten von Pisagua den Verdrängungsprozeß, den sich große Teile der chilenischen Gesellschaft bisher leisteten, aufgehalten haben.
Daß der Mantel des Vergessens zerrissen werden konnte, mag an den Besonder­heiten des Fundorts in der Wüste liegen: der salzhaltige Wüstensand hatte die Leichen mumifiziert. Das bedeutet: nicht irgendwelche menschlichen Knochen wurden ausgegraben, Skelette freigelegt, sondern identifizierbare menschliche Körper. Das erleichterte die Identifizierung durch die Angehörigen. Aber die Medien berichteten auch weitere Details, und sie machen auch den Nicht-Betrof­fenen individuelles Leiden vorstellbar: Die Hände gefesselt, die Augen verbun­den oder der Kopf in einer Plastikhülle; eine Bibel in der Jackentasche oder eine Zigarette. Diese Details aber beweisen auch unleugbar, hier wurden keine “Kriegsgegner” verscharrt, hier liegen ermordete Gefangene.
Die Frage, die jetzt nicht nur von den Angehörigen gestellt wird: Wer trägt die Verantwortung für die Morde?
Pisagua, ein kleines Fischerdorf nördlich von Iquique diente in den ersten Mo­naten nach dem Putsch als Konzentrationslager für politische Gefangene; als KZ hat es insofern traurige Geschichte in Chile gemacht, als schon Ende der 40er Jahre, als die KP in Chile infolge des Kalten Krieges verboten wurde, KP-Mitglie­der dorthin verbannt wurden.
Die Männer, deren Leichen im Juni gefunden wurden, waren Gefangene in die­sem Lager. Überlebende berichten jetzt von den Abschiedsstunden. Einigen der Angehörigen wurde damals mitgeteilt, die Gefangenen seien “auf der Flucht” er­schossen oder vom Kriegsgericht verurteilt worden – in keinem Fall wurde den Verwandten mitgeteilt, wo die Gräber lagen.
Damit ist klar, daß nicht irgendwelche angeblich anonymen Gruppen verant­wortlich sind, sondern “die Verantwortung” ist innerhalb der militärischen Hier­archie, genauer des Heeres, zu suchen – und dessen Oberbefehlshaber heißt heute, wie 1973 Augusto Pinochet. Das verschafft dem Auffinden der Gräber auch politischen Sprengstoff.

Schwierigkeiten beim Aufdecken der Wahrheit

Das Aufdecken der Gräber zu diesem Zeitpunkt war kein Zufall. Ein ehemaliger Gefangener, der als Arzt den Tod der Gefangenen feststellen mußte, hatte bereits im vergangenen Jahr sein Wissen der Vicaria de la Solidaridad anvertraut. Mit gutem Grund wartete sie bis zum Ende der Diktatur damit, das Grab offenzule­gen, zumal das Gelände bis vor kurzen noch militärisch gesperrt war. Aber es ist bezeichnend für die Situation in Chile, daß weitere Zeugen, die sich inzwischen gemeldet haben, wie der ehemalige stellvertretende Gefängnisdirektor von Pisagua, auch jetzt noch besondere Sicherheitsvorkehrungen zu ihrem Schutz brauchen.
Der Oberste Gerichtshof hat, wie in Chile bei spektakulären Verbrechen üblich, eigens einen Richter mit der Untersuchung dieses Falles beauftragt. Ganz im Ge­gensatz dazu haben die Anwälte der Vicaria in ihrer Anzeige den Fall bewußt verharmlost: “Illegale Bestattungen wollen sie untersucht wissen… Dahinter steckt offenbar die begründete Sorge, die Militärjustiz könne die weiteren Untersu­chungen an sich ziehen und wie gehabt im (Wüsten-)Sand verlaufen lassen. Das zumindest lehrt das Beispiel Lonquen aus dem Jahre 1978. Die Polizisten, die einen Monat nach dem Putsch 15 verhaftete Bauern erschossen und die Leichen in einen stillgelegten Kalkofen warfen, kamen dank der Amnestie unbehelligt davon. Die Reaktion in der Öffentlichkeit blieb damals gering. Ob es diesmal ge­lingen wird, die Morde trotz Amnestiegesetz und trotz der Militärgerichtsbar­keit juristisch aufzuklären, ist fraglich. Aber es besteht eine reale Chance, in den Medien detailliert die Angehörigen und Mithäftlinge berichten zu lassen. Und da immer mehr Menschen frühere Ängste verlieren, beginnen sich Zeugen zu mel­den, auch über andere Fälle “verschwundener” Häftlinge: Allein in der 1. Region, in der Pisagua liegt, “verschwanden” in den Wochen nach dem Putsch 50 Perso­nen. Somit ist davon auszugehen, daß weitere Gräber gefunden werden.
Die Beisetzung der Toten auf dem Friedhof von Iquique wurde zu einer Massen­demonstration, bei der die Bestrafung der Schuldigen verlangt wurde. Der christdemokratische Innenminister Krauss erschien zur Beerdigung und erklärte den Willen seiner Regierung, die Umstände restlos aufzuklären…
Davor eine gespenstische Begegnung: Als die Leichen nach Iquique überführt wurden begegneten sie am Stadtrand einer Kolonne gepanzerter Mercedeslimou­sinen – Pinochet, der sich seit dem Regierungswechsel in Iquique eingebunkert hat, fuhr in die Stadt ein.

“Das unentschuldbare Entschuldigen”

Während das Ständige Komitee der (katholischen) Bischofskonferenz anläßlich der Leichenfunde dazu aufruft, sich der schmerzlichen Wahrheit zu stellen und nicht das unentschuldbare zu entschuldigen, versuchen Pinochet und seine Ge­neräle genau das.
14 Tage nach dem Auffinden der Massengräber sah sich das Heer angesichts der öffentlichen Diskussionen genötigt, eine Stellungnahme abzugeben. Die mehr­seitige Erklärung wurde vor der versammelten Generalität bekanntgegeben. Auf den konkreten Anlaß wurde lediglich mit der Formulierung “die Umstände, die heute die nationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen” Bezug genommen.
Tenor der Erklärung: Die Streitkräfte hätten auf Verlangen der “überwältigenden Mehrheit der Chilenen” das Vaterland vor dem marxistischen Chaos gerettet. – Mit dieser Behauptung mögen sie im bürgerlichen Lager ja immer noch auf Zu­stimmung stoßen. Nur die zweite These der Generäle, es habe sich um einen “inneren Krieg” gehandelt, findet immer weniger AnhängerInnen. Selbst einst aktive PutschistInnen haben inzwischen mehrfach erklärt, um “Krieg” gegen einen bewaffneten Gegner habe es sich allenfalls in den ersten drei, vier Tagen nach dem Putsch gehandelt; dann hätten die Streitkräfte die Situation absolut unter Kontrolle gehabt. Genau das aber bringt die Militärs mit ihrer patriotischen Legende in arge Bredouille: Was ist heldenhaftes daran, “Kriegs”-Gefangene hin­zurichten? Welche rechtliche Grundlage gab es für die zahllosen “Kriegsgerichtsprozesse” mit Todesurteil? Abgesehen davon, daß diese Prozesse in der Überzahl der Fälle nicht einmal rechtliche Minimalbedingungen erfüllten bzw. im Fall der berüchtigten “Todeskaravane” des Generals Arrellano Stark: Ge­fangene, gegen die noch gar kein Prozeß eröffnet war oder die zu einer Haftstrafe verurteilt worden waren, wurden in die Wüste geführt und erschossen.
Es ist zu wünschen, daß die verantwortlichen Retter des Vaterlands sich in dieser Schlinge fangen: Nach internationalem Recht, das die Diktatur für Chile über­nommen hat, verjähren Kriegsverbrechen nicht…

Mi rebeldía es vivir – Leben ist meine Revolte

Dies ist der Titel einer Sammlung von 43 Gedichten, die Arinda Ojeda Aravena während ihrer Zeit als politische Gefangene im Gefängnis von Coronel/Chile geschrieben hat. Sie kehrte 1981 aus dem Exil zurück nach Chile und wurde wegen illegaler Einreise festgenommen und zu zwanzig Jahren und einem Tag Gefängnis verurteilt. Ende 1989 wurde sie freigelassen. Mehr als 3oo politische Häftlinge sitzen weiter.
Das Chilenisch-Französische Solidaritätskomitee in Grenoble, das sich jahrelang um ihre Freilassung bemühte, hat diese Gedichte 1988 unter dem Titel Vivre est ma révolte in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht (Editions La pensée sauvage).

Fünfzehn

Frau,
du bist eingeschlafen,
hast noch die Glattheit
des abgewaschenen Geschirrs gespürt
und den Geruch des Waschmittels.
Die Müdigkeit hat dich daran gehindert,
die Zärtlichkeit
des halb eingeschlafenen Mannes
an deiner Seite zu erwidern.
Die Müdigkeit, oder der Überdruß?
Das Weinen des Kleinsten
um Mitternacht
bringt zu bald
den Morgen
und wieder beginnt die Routine
von neuem.
Deine Mädchenträume
und die beinahe möglichen Träume
der Jugendlichen
sind schon verflogen
bei dieser Wirklichkeit:
Mutter-Frau
Ehefrau-Frau
Köchin-Frau
Wäscherin-Frau
aber
wann wirst du Frau sein?
Vor allem
Frau.

Quince

Mujer,
te has dormido sintiendo
aún la suavidad
de los platos lavados,
y el olor del detergente.
El cansancio te ha impedido
responder la caricia
del hombre semidormido
a tu lado.
El cansancio, ?o el hastío?
El llanto del pequeño
a medianoche
traerá demasiado pronto
la mañana,
y recomenzará otra vez
la rutina.
Tus sueños de niña,
y los casi posibles sueños
de adolescente
ya se habrán esfumado
con esta realidad:
Madre-mujer
Esposa-mujer
Cocinera-mujer
Lavandera-mujer…
pero,
?cuándo vas a ser mujer?
antes que todo:
mujer.

FRAUEN UND DEMOKRATIE

Das Thema Demokratie kann mühelos diskutiert werden, ohne daß die Geschlechterdifferenz thematisiert wird. Das heißt, daß eine Mehrheit des Volkes, das da herrschen soll, einfach übersehen wird: die Frauen.
Im alten Griechenland, dem “Mutterland der Demokratie” waren Frauen selbstverständlich vom Wahlrecht ausgeschlossen. Logisch, denn Demokratie verstand Mann als Herrschaft der Armen (vgl. Artikel in dieser Nummer).
Inzwischen ist Mann moderner und 1äßt die Frauen mitwählen, ohne daß sich an der Machtverteilung viel geändert hätte: Männer sitzen auf den höheren Posten, egal ob in Regierungen, Gewerkschaften, Konzernen, Oppositionsbewegungen oder Guerillas. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Und die Frauen? Sie bewältigen die verschiedenen Alltage, baden Wirtschaftsprogramrne aus und Subventionsstreichungen, definieren ihre gesellschaftliche Position über die “ihrer” Männer, sorgen fürs Familienwohl und lassen sich be-herrschen, egal, in welcher Regierungsform. So scheint es.
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Alltagsformen und gesellschaftliche Einflußmöglichkeiten, Lebensentwürfe und Wertvorstellungen von und für Frauen sind weltweit sehr unterschiedlich. So ist die Feststellung platt, daß Frauen immer den kürzeren ziehen. Außerdem stellt sich die Frage an der Mittäterinnenschaft der Frauen. Doch so etwas wie ein gemeinsamer Nenner der Frage, was Demokratisierung mit Frauen zu tun hat, ist folgende Tatsache: Frauen sind in verschiedenen Ländern und Situationen für die Organisation des Alltags wesentlich stärker zuständig als Männer. Und Frauen haben Mitbestimmung und Gleichberechtigung eben nicht nur in Parlamenten und Chefetagen zu erkämpfen, sondern auch und vor allem in ganz alltäglichen Situationen: zuhause, bei der Arbeit, bei Kindererziehung und im Bett. Ohne die Abschaffung von geschlechtlicher Diskriminierung wird es bei der Herrschaft der Männer bleiben.
Frauen und Demokratie in Lateinamerika -das heißt, sich die Frage nach den Alltagen von Frauen zu stellen. Es gibt nicht DEN oder DIE Alltage von Frauen. Und es muß auch bezweifelt werden, ob Alltagserfahrungen so ohne weiteres vergleichbar sind.
In diesem Heft möchten wir zwei extreme Erfahrungen von Frauen vorstellen, die sehr weit auseinanderliegen: Positionen von Prominentengattinnen auf der einen Seite und auf der anderen: Erfahrungen von Frauen, die gefoltert werden.
Prominentengattinnen stehen auf der Seite der gesellschaftlichen Macht, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern als Frau von … Durch die gesellschaftlich geforderte Identifikation mit dem Mann geben sie oft -wie Mathilde Neruda -bereitwillig eigene Identitäten auf, die sich andere Frauen erkämpfen wollen, und sind somit deutliche Beispiele von Mittäterinnenschaft.
Ein Artikel und eine Rezension beschäftigen sich mit dem Thema der Prominentengattinnen, welche sonst bezeichnenderweise vorwiegend in “Frauen-” und Unterhaltungszeitschriften und nicht in so “politischen” Blättern wie den Lateinamerika Nachrichten thematisiert werden.
Frauen und Folter ist wohl ein absolutes Extrem von männlicher Gewalt, denn im Verhältnis zwischen Folterer und weiblichem Opfer erreicht das gesellschaftliche und private Herrschaftsverhältnis einen absoluten Punkt. Da Folter immer mit sexueller Erniedrigung verbunden ist, werden bei Frauen andere Lebenserfahrungen berührt, wenn sie gefoltert werden, als bei Männern. Wir meinen, daß der Zusammenhang zwischen Folter und Geschlecht thematisiert werden muß, auch wenn bei der Darstellung immer die Gefahr besteht, daß Artikel voyeuristisch gelesen werden können.
Zwischen den Extrempunkten bewegen sich die Themen von zwei weiteren Artikeln. Der eine beschäftigt sich mit Frauen und (sexueller) Gewalt in Chile, wobei dies genauso gut für jedes andere lateinamerikanische Land thematisiert werden könnte.
Ein weiterer Artikel beschäftigt sich ebenfalls mit Gewalt: mit der alltäglichen Gewalt im “demokratischen” Kolumbien. In diesem Artikel wird ganz besonders deutlich, daß Frauen stärker von der “Misere” betroffen sind als Männer, weil sie und nicht die Herren, den Alltag bewältigen müssen.

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