Chronik eines angekündigten Ausverkaufs

Die staatliche Telefongesellschaft ENTEL wurde für den Verkauf in zwei Teile, Telco Sur und Telco Norte, aufgeteilt. Das Konsortium aus der US-Bank Citi­corp und der schweizerisch-argentinischen Frima Techint unter der Führung der spanischen Telefónica sichert sich 60% der Aktien von Telco Sur für 114 Mil­lionen US-Dollar und 2,27 Mrd. US-Dollar in Auslandsschuldscheinen. Diese Schuld­scheine Argentiniens kaufen die Firmen auf dem Sekundärmarkt für 13% ihres Nominalwertes, also für ganze 354 Millionern US-Dollar. Dept-to-equity-swaps heißt das in der Sprache der WirtschaftswissenschaftlerInnen – als Farce könnte mensch es auch bezeichnen. Für den Kauf der anderen Hälfte, Telco Norte, legte das Konsortium von Bell Atlantic und Hannover Trust, zwei US-amerikanischen Firmen legt lediglich 100 Millionen US-Dollar in bar und 300 Millionen für den Kauf von Schuldscheinen mit einem Nominalwert von 2,3 Mrd. US-Dollar auf den Tisch. Insgesamt verkauft also der argentinische Staat sein wohl lukrativstes Unternehmen für 868 Millionen Dollar, reduziert dabei allerdings seine Aus­landverschuldung um 4,6 Mrd. US-Dollar.

Ruinöser Deal als Vorbild für weitere Maßnahmen

Doch damit nicht genug der Tragödie: Der argentinische Staat garantiert den Käufern in den ersten drei Jahren einen jährlichen Reingewinn von 16%. Die Schulden von ENTEL in Höhe von 1,7 Mrd. US-Dollar(!), die in den letzten 1 1/2 Jahren angehäuft wurden, übernimmt ebenfalls der Staat. Und zu alledem sind die neuen Betreiber lediglich zu Investitionen in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar in den ersten drei Jahren verpflichtet. Das entspricht einer Installation von 620.000 neuen Telefonleitungen, bei derzeit 1,8 Millionen Anschlüssen, von denen ein Drittel seit längerer Zeit nicht funktioniert. Somit wird das, was sich die argenti­nischen TelefonbesitzerInnen von der Privatisierung versprechen, nämlich end­lich funktionierende Telefone, weiterhin auf absehbare Zeit ein Traum bleiben. Und die Menschen, die gerne ein Telefon hätten und es sich leisten könnten, brauchen sich wohl gar nicht erst um einen Anschluß bemühen. Eine über die drei Jahre hinausgehende langfristige Investitionsverpflichtung für die Käufer gibt es nicht. So dämpften die neuen Gesellschafter bereits eine Woche nach dem Verkauf allzu große Erwartungen mit der schlichten Feststellung, daß bessere Dienste frühestens in zwei Jahren zu erwarten seien. Vorleistungen für diese eventuellen Verbesserungen müssen die argentinischen TelefonbesitzerInnen allerdings schon bald in Form von saftigen Tariferhöhungen erbringen. Die 46.000 Angestellten von ENTEL werden ebenfalls mit einer Negativentwicklung zu rechnen haben: ein Teil von ihnen wird sicherlich im Zuge der Rationalisie­rung entlassen werden. Ein derart skandalöser Privatisierungs-Deal dürfte selbst in der Geschichte der “freien Marktwirtschaft” bisher einmalig sein. Wo auch sonst stürzt sich der Staat für eine kurzfristige Verringerung der Auslandsschul­den freiwillig in ein solch ruinöses Geschäft? – In den USA, dem Land mit der größten Auslandsverschuldung sicherlich nicht.
Das Fatale ist, daß dieses Privatisierungsschema von ENTEL das Modell für alle weiteren Verkäufe von Staatsbetrieben Argentiniens darstellen soll. Und diese weiteren Aus­verkäufe werden nicht lange auf sich warten lassen: 10.000 Kilometer National­straßen sind bereits an fünf ausländische Firmen vergeben, die ihre Investitions­kosten über die Einführung einer Autobahngebühr wieder reinbekommen wol­len. Die nationale Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas wird ein Konsortium unter der Führung der spanischen Fluglinie Iberia aufkaufen. Thyssen und das spanische Staatsunternehmen (!) Renfe wollen sich hingegen die profitable Eisenbahnlinie von der Pampa zum Hafen in Bahia Blanca, auf der 85% der argentinischen Getreideexporte befördert werden, unter den Nagel reißen. Das staatliche Erdölmonopol YPF lädt ausländische Firmen zwecks Bildung von Gemeinschaftsunternehmen zur Förderung der profitablen Erdölvorkommen ein…

Loch in der Kasse und Strangulierung durch den IWF

Begründet werden diese Verkäufe immer wieder mit dem chronischen Haus­haltsdefizit des argentinischen Staates. 8,4 Mrd. US-Dollar beträgt dieses Loch in der Haushaltskasse – die Defizite der Staatsbetriebe haben daran einen Anteil von fast 50%. Kein Wunder also, wenn der Staat diese lästigen Firmen loswerden will. Geschieht dies allerdings wie bei ENTEL nach der Devise: Gewinne privati­sieren – Defizite verstaatlichen, geht dies an dem eigentlichen Problem vorbei.
Der IWF macht diese Verringerung des Haushaltsdefizits immer wieder zur Bedingung für eine Kreditgewährung. Den bereits im November 1989 beschlos­senen Überbrückungskredit für Argentinien in Höhe von 1,4 Mrd. US-Dollar ver­sah der Fond bei den erneuten Verhandlungen in diesem Jahr allerdings mit weiteren Auflagen. Neben der Veringerung des Defizits auf 1% verpflichtete sich Argentinien die Steuern weiter anzuheben, die Löhne zu senken, die Preise für öffentliche Dienstleistungen erneut zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben für diese Staatsdienste sowie die Zuschüsse an die Provinzregierungen zu verrin­gern. Darüberhinaus mußte Argentinien Anfang Juni zum ersten Mal seit April 1988 in Umschuldungsverhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken ein­treten. Seit 1988 hat Argentinien faktisch keinen Cent an Zinszahlungen geleistet, wodurch die Zinsen für die 60 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden auf 6,5 Mrd US-Dollar angewachsen sind. Als Geste des guten Willens tätigte Argentinien im Mai eine symbolische Zahlung von 100 Millionen US-Dollar Zinstilgung. Bei den derzeitigen Verhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken wird eine solche Summe wohl allerhöchstens als wöchentliche Zahlung angenommen werden.
Die härteste Bedingung des IWF ist allerdings die Verpflichtung, die Inflation ab August auf unter 2% monatlich zu verringern. Ein schier unmögli­ches Unternehmen. Führte die Hyperinflation im Februar und März dieses Jahres (fast 100% monatlich) zur Blockierung des schon vereinbarten IWF-Kredites, so konnte durch den neuen Wirtschaftsplan von Wirtschaftminister Gonzales (LN 192) die monatliche Inflation im April immerhin auf 11,4% gesenkt werden. Doch damit war’s auch schon wieder vorbei. Im Mai stieg die Monats-Inflation auf 13,6%, der Juni schlug mit 15% zu Buche – Tendenz steigend. Für die erste Jahreshälfte 1990 akkumuliert sich somit die Inflation auf 617%. Dennoch konnte Argentinien die Auszahlung von 240 Millionen US-Dollar des erwähnten 1,4 Mrd.US-Dollar Stand-By-Kredites erreichen – die zweite Tranche nach den 140 Millionen im November. Der IWF geht anscheinend kein Risiko ein und gibt Argentinien immer wieder kleine Häppchen des ohnehin nicht gerade großen Kuchens, um wenige Monate später eine weitere Auszahlungen mit neuen, noch härteren Bedingungen zu verknüpfen.

Neoliberale Logik für “nicht-kapitalistische Kapitalisten”

Wirtschaftsminister Ermán Gonzales verkündete entsprechend Ende Juni mit ernster Mine gemäß dem Diktat des IWF, neben der Verlängerung des seit Juli 1989 bestehenden ökonomischen Ausnahmezustandes um ein weiteres Jahr, eine erneute Anpassung der Anpassung an seinen Wirtschaftsplan vom März…
Eine erneute Blockierung des Kredits und somit weitere wirtschaftliche “Liberalisierungsmaßnahmen” stehen gewiß schon bald wieder ins Haus, denn die Bedingung des IWF, die Inflation ab August auf 2% monatlich zu drücken ist schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Daß Argentiniens Wirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres mit 1,79 Mrd. US-Dolllar einen unerwartet hohen Export­überschuß erbracht hat, verdeckt die Tatsache, daß das Land sich in einer schwe­ren Rezession befindet. In keine Branche sind die Kapazitäten der Unternehmen auch nur annähernd ausgelastet. Stattdessen führen massenhafte Entlassungen und Betriebsschließungen zur weiteren Verstärkung der Wirtschaftskrise. Der industrielle Ausstoß verringerte sich in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 13% und das Investitionsvolumen der argentinischen Wirtschaft ist so niedrig wie nie zuvor.
Der Reallohn der ArbeiterInnen hat sich seit Januar um über 30% verringert und das in einer Situation, in der das Land mit den einst höchsten Löhnen Lateinameri­kas schon im Jahr zuvor auf ein Niveau unterhalb von Chile oder Paraguay abge­sunken ist. Entsprechend sucht ein Großteil der ArgentinierInnen, die nicht nach Europa auswandern können, sein Glück und vor allem Arbeit in den angrenzen­den Ländern und wandert aus. Die Lebenshaltungskosten steigen permanent durch die inflationsbedingten Preissteigerungen. Doch Präsident Menem argu­mentiert diesbezüglich ganz in seiner neoliberalen Logik: “Viele Grundnah­rungsmittel sind im Ausland billiger als in Argentinien. Wir werden all diese Produkte, die billiger auf dem heimischen Markt verkauft werden können importieren”. “Der Fall Argentinien hat das Interesse der weltbesten und bekanntesten Ökonomen geweckt, die immer noch nicht erklären können, was in diesem Land passiert”, äußerte kürzlich der frühere Minister für öffentliche Dienste der Regierung Alfonsín, Rodolfo Terragno. “Argentinien ist das einzige Land der Welt, wo eine schwere Rezession, die in der Theorie die Märkte stabili­siert und die Inflation beseitigt, von einer Hyperinflation begleitet ist.” Selbst die Experten des IWF und der Weltbank stehen vor einem Rätsel. Sie akzeptierten im Juli das Argument der Regierung, daß die Unternehmen in Argentinien ihre Preise enorm überhöhen und sich somit überhaupt nicht an die Regeln der “freien Marktwirtschaft” halten und zur Inflation beitragen. “Auf diesem Niveau der Inflation könnte jeglicher interne Schock oder eine externe Agitation der Auslöser für eine Hyperinflation sein”, meinte IWF-Chef Michel Camdesus im Juli. Die argentinischen Kapitalisten sind eben nicht kapitalistisch genug.
Die beginnenden Streiks in der Provinz Buenos Aires, an denen im Moment 500.000 ArbeiterInnen, unter anderem die Metalle­rInnen, beteiligt sind, sind ein Beispiel für die Herausforderungen, denen sich Präsident Menem in den näch­sten Wochen und Monaten stellen muß. Die argentinische Bevölkerung kann und will die Politik seiner Regierung nicht mehr länger ertragen. Die Plünderungen während der nächtlichen WM-Feiern in Buenos Aires Anfang Juli sind ein Indiz für die Hoffnungslosigkeit der sozialen Situation in Argentinien. Daß Menem dabei auf die repressive Karte setzt ist sehr wahrscheinlich und wird durch das Ergebnis der nächtlichen Ausschreitungen vom Juli verdeutlicht: um 3500 Mann verstärkte Polizeipräsenz in Buenos Aires, über 200 Festnahmen und mehrere Tote.


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Die Toten von Pisagua beginnen zu sprechen

Diese Reaktion ist insofern überraschend, als seit Jahren bekannt ist, daß die Diktatur Hunderte von Gegnern spurlos verschwinden ließ. Daß sie tot waren, damit mußte man rechnen; ungewiß war nur, wie, wann und wo sie umge­bracht wurden. Jahrelang hatten Angehörige und Freunde der “verschwundenen Verhafteten” vergeblich mit kleinen Demonstrationen unter dem Motto “Donde están?” “Wo sind sie?” Rechenschaft vom Regime und Gehör in der chilenischen Gesellschaft gesucht.
Es scheint, daß die Toten von Pisagua den Verdrängungsprozeß, den sich große Teile der chilenischen Gesellschaft bisher leisteten, aufgehalten haben.
Daß der Mantel des Vergessens zerrissen werden konnte, mag an den Besonder­heiten des Fundorts in der Wüste liegen: der salzhaltige Wüstensand hatte die Leichen mumifiziert. Das bedeutet: nicht irgendwelche menschlichen Knochen wurden ausgegraben, Skelette freigelegt, sondern identifizierbare menschliche Körper. Das erleichterte die Identifizierung durch die Angehörigen. Aber die Medien berichteten auch weitere Details, und sie machen auch den Nicht-Betrof­fenen individuelles Leiden vorstellbar: Die Hände gefesselt, die Augen verbun­den oder der Kopf in einer Plastikhülle; eine Bibel in der Jackentasche oder eine Zigarette. Diese Details aber beweisen auch unleugbar, hier wurden keine “Kriegsgegner” verscharrt, hier liegen ermordete Gefangene.
Die Frage, die jetzt nicht nur von den Angehörigen gestellt wird: Wer trägt die Verantwortung für die Morde?
Pisagua, ein kleines Fischerdorf nördlich von Iquique diente in den ersten Mo­naten nach dem Putsch als Konzentrationslager für politische Gefangene; als KZ hat es insofern traurige Geschichte in Chile gemacht, als schon Ende der 40er Jahre, als die KP in Chile infolge des Kalten Krieges verboten wurde, KP-Mitglie­der dorthin verbannt wurden.
Die Männer, deren Leichen im Juni gefunden wurden, waren Gefangene in die­sem Lager. Überlebende berichten jetzt von den Abschiedsstunden. Einigen der Angehörigen wurde damals mitgeteilt, die Gefangenen seien “auf der Flucht” er­schossen oder vom Kriegsgericht verurteilt worden – in keinem Fall wurde den Verwandten mitgeteilt, wo die Gräber lagen.
Damit ist klar, daß nicht irgendwelche angeblich anonymen Gruppen verant­wortlich sind, sondern “die Verantwortung” ist innerhalb der militärischen Hier­archie, genauer des Heeres, zu suchen – und dessen Oberbefehlshaber heißt heute, wie 1973 Augusto Pinochet. Das verschafft dem Auffinden der Gräber auch politischen Sprengstoff.

Schwierigkeiten beim Aufdecken der Wahrheit

Das Aufdecken der Gräber zu diesem Zeitpunkt war kein Zufall. Ein ehemaliger Gefangener, der als Arzt den Tod der Gefangenen feststellen mußte, hatte bereits im vergangenen Jahr sein Wissen der Vicaria de la Solidaridad anvertraut. Mit gutem Grund wartete sie bis zum Ende der Diktatur damit, das Grab offenzule­gen, zumal das Gelände bis vor kurzen noch militärisch gesperrt war. Aber es ist bezeichnend für die Situation in Chile, daß weitere Zeugen, die sich inzwischen gemeldet haben, wie der ehemalige stellvertretende Gefängnisdirektor von Pisagua, auch jetzt noch besondere Sicherheitsvorkehrungen zu ihrem Schutz brauchen.
Der Oberste Gerichtshof hat, wie in Chile bei spektakulären Verbrechen üblich, eigens einen Richter mit der Untersuchung dieses Falles beauftragt. Ganz im Ge­gensatz dazu haben die Anwälte der Vicaria in ihrer Anzeige den Fall bewußt verharmlost: “Illegale Bestattungen wollen sie untersucht wissen… Dahinter steckt offenbar die begründete Sorge, die Militärjustiz könne die weiteren Untersu­chungen an sich ziehen und wie gehabt im (Wüsten-)Sand verlaufen lassen. Das zumindest lehrt das Beispiel Lonquen aus dem Jahre 1978. Die Polizisten, die einen Monat nach dem Putsch 15 verhaftete Bauern erschossen und die Leichen in einen stillgelegten Kalkofen warfen, kamen dank der Amnestie unbehelligt davon. Die Reaktion in der Öffentlichkeit blieb damals gering. Ob es diesmal ge­lingen wird, die Morde trotz Amnestiegesetz und trotz der Militärgerichtsbar­keit juristisch aufzuklären, ist fraglich. Aber es besteht eine reale Chance, in den Medien detailliert die Angehörigen und Mithäftlinge berichten zu lassen. Und da immer mehr Menschen frühere Ängste verlieren, beginnen sich Zeugen zu mel­den, auch über andere Fälle “verschwundener” Häftlinge: Allein in der 1. Region, in der Pisagua liegt, “verschwanden” in den Wochen nach dem Putsch 50 Perso­nen. Somit ist davon auszugehen, daß weitere Gräber gefunden werden.
Die Beisetzung der Toten auf dem Friedhof von Iquique wurde zu einer Massen­demonstration, bei der die Bestrafung der Schuldigen verlangt wurde. Der christdemokratische Innenminister Krauss erschien zur Beerdigung und erklärte den Willen seiner Regierung, die Umstände restlos aufzuklären…
Davor eine gespenstische Begegnung: Als die Leichen nach Iquique überführt wurden begegneten sie am Stadtrand einer Kolonne gepanzerter Mercedeslimou­sinen – Pinochet, der sich seit dem Regierungswechsel in Iquique eingebunkert hat, fuhr in die Stadt ein.

“Das unentschuldbare Entschuldigen”

Während das Ständige Komitee der (katholischen) Bischofskonferenz anläßlich der Leichenfunde dazu aufruft, sich der schmerzlichen Wahrheit zu stellen und nicht das unentschuldbare zu entschuldigen, versuchen Pinochet und seine Ge­neräle genau das.
14 Tage nach dem Auffinden der Massengräber sah sich das Heer angesichts der öffentlichen Diskussionen genötigt, eine Stellungnahme abzugeben. Die mehr­seitige Erklärung wurde vor der versammelten Generalität bekanntgegeben. Auf den konkreten Anlaß wurde lediglich mit der Formulierung “die Umstände, die heute die nationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen” Bezug genommen.
Tenor der Erklärung: Die Streitkräfte hätten auf Verlangen der “überwältigenden Mehrheit der Chilenen” das Vaterland vor dem marxistischen Chaos gerettet. – Mit dieser Behauptung mögen sie im bürgerlichen Lager ja immer noch auf Zu­stimmung stoßen. Nur die zweite These der Generäle, es habe sich um einen “inneren Krieg” gehandelt, findet immer weniger AnhängerInnen. Selbst einst aktive PutschistInnen haben inzwischen mehrfach erklärt, um “Krieg” gegen einen bewaffneten Gegner habe es sich allenfalls in den ersten drei, vier Tagen nach dem Putsch gehandelt; dann hätten die Streitkräfte die Situation absolut unter Kontrolle gehabt. Genau das aber bringt die Militärs mit ihrer patriotischen Legende in arge Bredouille: Was ist heldenhaftes daran, “Kriegs”-Gefangene hin­zurichten? Welche rechtliche Grundlage gab es für die zahllosen “Kriegsgerichtsprozesse” mit Todesurteil? Abgesehen davon, daß diese Prozesse in der Überzahl der Fälle nicht einmal rechtliche Minimalbedingungen erfüllten bzw. im Fall der berüchtigten “Todeskaravane” des Generals Arrellano Stark: Ge­fangene, gegen die noch gar kein Prozeß eröffnet war oder die zu einer Haftstrafe verurteilt worden waren, wurden in die Wüste geführt und erschossen.
Es ist zu wünschen, daß die verantwortlichen Retter des Vaterlands sich in dieser Schlinge fangen: Nach internationalem Recht, das die Diktatur für Chile über­nommen hat, verjähren Kriegsverbrechen nicht…


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Mi rebeldía es vivir – Leben ist meine Revolte

Dies ist der Titel einer Sammlung von 43 Gedichten, die Arinda Ojeda Aravena während ihrer Zeit als politische Gefangene im Gefängnis von Coronel/Chile geschrieben hat. Sie kehrte 1981 aus dem Exil zurück nach Chile und wurde wegen illegaler Einreise festgenommen und zu zwanzig Jahren und einem Tag Gefängnis verurteilt. Ende 1989 wurde sie freigelassen. Mehr als 3oo politische Häftlinge sitzen weiter.
Das Chilenisch-Französische Solidaritätskomitee in Grenoble, das sich jahrelang um ihre Freilassung bemühte, hat diese Gedichte 1988 unter dem Titel Vivre est ma révolte in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht (Editions La pensée sauvage).

Fünfzehn

Frau,
du bist eingeschlafen,
hast noch die Glattheit
des abgewaschenen Geschirrs gespürt
und den Geruch des Waschmittels.
Die Müdigkeit hat dich daran gehindert,
die Zärtlichkeit
des halb eingeschlafenen Mannes
an deiner Seite zu erwidern.
Die Müdigkeit, oder der Überdruß?
Das Weinen des Kleinsten
um Mitternacht
bringt zu bald
den Morgen
und wieder beginnt die Routine
von neuem.
Deine Mädchenträume
und die beinahe möglichen Träume
der Jugendlichen
sind schon verflogen
bei dieser Wirklichkeit:
Mutter-Frau
Ehefrau-Frau
Köchin-Frau
Wäscherin-Frau
aber
wann wirst du Frau sein?
Vor allem
Frau.

Quince

Mujer,
te has dormido sintiendo
aún la suavidad
de los platos lavados,
y el olor del detergente.
El cansancio te ha impedido
responder la caricia
del hombre semidormido
a tu lado.
El cansancio, ?o el hastío?
El llanto del pequeño
a medianoche
traerá demasiado pronto
la mañana,
y recomenzará otra vez
la rutina.
Tus sueños de niña,
y los casi posibles sueños
de adolescente
ya se habrán esfumado
con esta realidad:
Madre-mujer
Esposa-mujer
Cocinera-mujer
Lavandera-mujer…
pero,
?cuándo vas a ser mujer?
antes que todo:
mujer.


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FRAUEN UND DEMOKRATIE

Das Thema Demokratie kann mühelos diskutiert werden, ohne daß die Geschlechterdifferenz thematisiert wird. Das heißt, daß eine Mehrheit des Volkes, das da herrschen soll, einfach übersehen wird: die Frauen.
Im alten Griechenland, dem “Mutterland der Demokratie” waren Frauen selbstverständlich vom Wahlrecht ausgeschlossen. Logisch, denn Demokratie verstand Mann als Herrschaft der Armen (vgl. Artikel in dieser Nummer).
Inzwischen ist Mann moderner und 1äßt die Frauen mitwählen, ohne daß sich an der Machtverteilung viel geändert hätte: Männer sitzen auf den höheren Posten, egal ob in Regierungen, Gewerkschaften, Konzernen, Oppositionsbewegungen oder Guerillas. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Und die Frauen? Sie bewältigen die verschiedenen Alltage, baden Wirtschaftsprogramrne aus und Subventionsstreichungen, definieren ihre gesellschaftliche Position über die “ihrer” Männer, sorgen fürs Familienwohl und lassen sich be-herrschen, egal, in welcher Regierungsform. So scheint es.
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Alltagsformen und gesellschaftliche Einflußmöglichkeiten, Lebensentwürfe und Wertvorstellungen von und für Frauen sind weltweit sehr unterschiedlich. So ist die Feststellung platt, daß Frauen immer den kürzeren ziehen. Außerdem stellt sich die Frage an der Mittäterinnenschaft der Frauen. Doch so etwas wie ein gemeinsamer Nenner der Frage, was Demokratisierung mit Frauen zu tun hat, ist folgende Tatsache: Frauen sind in verschiedenen Ländern und Situationen für die Organisation des Alltags wesentlich stärker zuständig als Männer. Und Frauen haben Mitbestimmung und Gleichberechtigung eben nicht nur in Parlamenten und Chefetagen zu erkämpfen, sondern auch und vor allem in ganz alltäglichen Situationen: zuhause, bei der Arbeit, bei Kindererziehung und im Bett. Ohne die Abschaffung von geschlechtlicher Diskriminierung wird es bei der Herrschaft der Männer bleiben.
Frauen und Demokratie in Lateinamerika -das heißt, sich die Frage nach den Alltagen von Frauen zu stellen. Es gibt nicht DEN oder DIE Alltage von Frauen. Und es muß auch bezweifelt werden, ob Alltagserfahrungen so ohne weiteres vergleichbar sind.
In diesem Heft möchten wir zwei extreme Erfahrungen von Frauen vorstellen, die sehr weit auseinanderliegen: Positionen von Prominentengattinnen auf der einen Seite und auf der anderen: Erfahrungen von Frauen, die gefoltert werden.
Prominentengattinnen stehen auf der Seite der gesellschaftlichen Macht, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern als Frau von … Durch die gesellschaftlich geforderte Identifikation mit dem Mann geben sie oft -wie Mathilde Neruda -bereitwillig eigene Identitäten auf, die sich andere Frauen erkämpfen wollen, und sind somit deutliche Beispiele von Mittäterinnenschaft.
Ein Artikel und eine Rezension beschäftigen sich mit dem Thema der Prominentengattinnen, welche sonst bezeichnenderweise vorwiegend in “Frauen-” und Unterhaltungszeitschriften und nicht in so “politischen” Blättern wie den Lateinamerika Nachrichten thematisiert werden.
Frauen und Folter ist wohl ein absolutes Extrem von männlicher Gewalt, denn im Verhältnis zwischen Folterer und weiblichem Opfer erreicht das gesellschaftliche und private Herrschaftsverhältnis einen absoluten Punkt. Da Folter immer mit sexueller Erniedrigung verbunden ist, werden bei Frauen andere Lebenserfahrungen berührt, wenn sie gefoltert werden, als bei Männern. Wir meinen, daß der Zusammenhang zwischen Folter und Geschlecht thematisiert werden muß, auch wenn bei der Darstellung immer die Gefahr besteht, daß Artikel voyeuristisch gelesen werden können.
Zwischen den Extrempunkten bewegen sich die Themen von zwei weiteren Artikeln. Der eine beschäftigt sich mit Frauen und (sexueller) Gewalt in Chile, wobei dies genauso gut für jedes andere lateinamerikanische Land thematisiert werden könnte.
Ein weiterer Artikel beschäftigt sich ebenfalls mit Gewalt: mit der alltäglichen Gewalt im “demokratischen” Kolumbien. In diesem Artikel wird ganz besonders deutlich, daß Frauen stärker von der “Misere” betroffen sind als Männer, weil sie und nicht die Herren, den Alltag bewältigen müssen.


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Demokratie und Marktwirtschaft – real existierend

Zwischen Liberalismus und Sozialismus

Den verbissenen Liberalen war die Demokratie schon im­mer unheimlich. Demo­kratie bedeutet zunächst einmal Po­litik. Demokraten maßen sich an, in das freie Leben der Gesellschaft und vor allem der Wirtschaft politisch einzugreifen. De­mokratie bedeutet weiter das Bemühen um kollektive Entscheidungen. Demo­kraten maßen sich an, sich über die freien Entscheidungen der Individuen und vor allem der Wirtschaftssub­jekte gemeinsam hinwegzu­setzen. Und schließlich bedeutet Demokratie eine Begün­stigung der Mehrheit. Demokraten dulden oder begrüßen es gar, daß den Interessen der zahlenmäßigen Mehrheit mehr Rech­nung getragen wird als der zahlungsfähigen Nachfrage.
Wo Demokratie überhaupt wirksam wird, greift sie in den freien Markt ein, setzt sie ihm Grenzen, reguliert sie ihn. Insofern erscheint eine funktionierende Demo­kratie den verbissenen Liberalen bereits als das Schlimmste, was sie sich vorstel­len können: als Sozialismus. Die Mili­tärputsche, die zwischen 1964 und 1976 in Südame­rika die demokrati­schen Regierungen Brasiliens, Boli­viens, Uruguays, Chiles und Argenti­niens hinwegfegten, wurden deshalb von ihnen als antisozia­listische “Befreiungsaktionen” begrüßt.
Nun steht Demokratie aber nicht umsonst unter dem So­zialismusverdacht. Was immer in den kapitalistischen Industriegesell­schaften an sozialem Fortschritt und so­zialer Gerechtigkeit gegen den Widerstand der Manche­sterkapitalisten und anderer erreicht worden ist, konnte nur in dem Maße erkämpft und gesichert werden, wie gleichzei­tig die Demokratie als politisches System erkämpft und ge­sichert wurde. Umverteilung zugunsten der zahlenmäßig starken, aber ökono­misch schwachen Schichten kann dauerhaft nur wirksam sein, wo aner­kannt ist, daß die Mehrheit das Recht hat, in einem kollektiven Ent­scheidungsprozeß ihre Interessen durch­zusetzen. Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß die internatio­nale Arbeiterbewegung Demokratie immer als eine Voraussetzung für Sozialis­mus und diesen als die Vollendung der Demokratie begriffen hat.
Der real existierende Sozialismus osteuropäischer Prä­gung hat diesen Anspruch, Vollendung der Demokratie zu sein, durchaus aufrechterhalten. Aber er hat die Be­weisführung einfach umgedreht, um sich diesen Vorzug möglichst lange in die Tasche lügen zu können: Schon weil eine Entscheidung im vorgestellten Interesse oder auch nur im Namen einer strukturellen Mehrheit gefällt wurde, konnte sie nach dem dort geltenden Schema als sozialistisch und damit auch als demo­kratisch gelten. Schon weil das System den Kräften des Marktes keinen Raum ließ und alle Handlungen als bewußte politische Maßnahmen wer­tete und einem Plan unterordnete, glaubte es, den Anspruch auf Ver­wirklichung des Sozialismus und daraus dann auch noch den Anspruch auf Vollendung der Demokratie ab­leiten zu können. Es ist gerade diese An­maßung, die bei der ersten Befragung des wirklich exi­stierenden Volkswillens in den meisten Ländern Osteuro­pas zum Sturz des Systems geführt und die verheerende Diskreditierung des Begriffs So­zialismus offengelegt hat.

Marktwirtschaft – fast allenthalben

Spätestens seither hat sich das Generalthema der welt­weiten politisch-ökonomi­schen Debatte gründlich ver­schoben. Statt eines Kampfes zwi­schen den extremen Po­len eines Manchesterkapitalismus einerseits und einer alle Marktmechanismen ablehnenden Planwirtschaft gibt es, sieht man von Fidel Castros Kuba ab, nur noch die allgemeine Akzeptanz der Marktwirtschaft. Und noch mehr: Auch daß sie sozial und ökolo­gisch orientiert sein muß, ist von Alaska bis Kamtschatka, von Spitzber­gen bis Feuerland völlig unumstritten. Der Streit geht nur noch darum, was das denn nun im einzelnen heißen soll: sozial und ökolo­gisch orien­tiert.
Diese Debatte ist auf merkwürdige Weise einförmig geworden. Als ob die Welt bereits eine einzige geworden sei, dreht sie sich in allen Län­dern, ob reich, ob arm, ob stark, ob schwach, nur um die scheinbar überall gleiche Frage nach dem grundsätzlich richtigen Ausmaß der Regulierung oder Deregulierung. Dabei wird übersehen, daß in einem armen, unterentwickelten Land im Rahmen der Marktwirtschaft mit keinem Grad von Regulierung oder Deregulierung auch nur ein Bruch­teil dessen erreicht werden kann, was etwa in der Bundesrepublik Deutschland an sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft im Prinzip durchsetzbar und finanzierbar wäre.
Es gibt eben nicht eine einzige, weltweite Marktwirt­schaft, über deren soziale und ökologische Orientierung weltweit gestritten werden könnte, sondern es gibt viele verschiedene Marktwirtschaften, die mit den in­ternationalen Märkten für Waren, Dienstleistungen, Ka­pital, Technolo­gien und Arbeitskräfte in unterschiedli­chem Ausmaß verbunden sind. Welche Marktwirtschaften sich von welchen internationalen Märkten abkoppeln dür­fen – wie Westeuropa von den internationalen Märkten für Arbeitskräfte und für Agrarprodukte – und welche Marktwirtschaften von welchen internationalen Märkten ausgeschlossen werden – wie Ost­europa von bestimmten Technologien -, darüber entscheiden allein die Regie­rungen der reichsten Länder. Sie sind deshalb die ein­zigen, die innerhalb dieses halbfreien Weltmarktes noch über ein Minimum an Kontrolle über die Koordinaten der eigenen Marktwirtschaft verfügen und damit im Prinzip für eine soziale und ökologische Orientierung sorgen könnten.
In den lateinamerikanischen Ländern dagegen erleben wir die Markt­wirtschaft, wie sie real existiert. Die für ein auch nur normales Funk­tionieren der inneren Markt­kräfte erforderliche Kontrolle der äußeren Bedingungen ist den Regierun­gen unmöglich gemacht. Dem Fluchtkapi­tal können keine Grenzen gesetzt wer­den, ihm sind die Tore der inter­nationalen Banken weit geöffnet. Dagegen haben Arbeitslose keine Chance, als Wirtschaftsflücht­linge im reichen Ausland Auf­nahme zu finden. Um auch nur die Zinsen für die enormen Auslandsschulden bezah­len zu können, müssen unentwegt riesige Exportüber­schüsse erzielt wer­den, während die reichen Länder gleichzeitig den Import bestimmter Produkte erschweren oder verwehren. Intensive Ausbeutung aller men­schlichen und na­türlichen Ressourcen, das Gegenteil also von so­zialer und ökologischer Orientie­rung, werden zur Pflicht.
Jede auf Wachstum zielende wirtschaftspolitische Stra­tegie hat zur Vorausset­zung eine noch tiefere Verbeu­gung vor der Macht des in- und ausländischen Ka­pitals und einen Panzerschutz gegen das Aufkommen sozialer Ge­fühle. Und Wachstum ist nicht nur gefordert, weil man gern etwas umverteilen würde, son­dern schon, weil die Zinsen zu bezahlen sind. Politik beschränkt sich auf die Ein­sicht in die Notwendigkeit des Sachzwangs.

Warum eigentlich Demokratie?

Seit langem ist die Abhängigkeit Lateinamerikas von den Zentren des Weltkapi­talismus nicht so eindeutig und so sichtbar gewesen wie heute, aber noch nie wurde so we­nig davon gesprochen. Die demokratisch ge­wählten Präsi­denten und Regierungen des Subkontinents erheben den Anspruch und erwecken den Anschein unbezweifelbarer Souveränität – und beugen sich vor dem Sachzwang, frei­willig, aus Einsicht in die Notwendigkeit. Von Abhän­gigkeit zu sprechen gilt nicht mehr als fein.
Nun hat Demokratie ja eigentlich nicht die Funktion, den Sachzwang zu vollzie­hen, sondern dem Volkswillen Ausdruck zu verschaffen. Und wo der Sachzwang ganz ein­deutig den unmittelbaren Interessen der großen Mehrheit entgegensteht, wäre eigentlich die große Revolte zu er­warten, die sich dann auch gegen eine als ungenügend oder betrüge­risch empfundene Demokratie richten würde. Es fehlt auch nicht an Revolten. Die heftigen Unruhen in Caracas vom Februar 1989, die poli­tischen Proteste in Mexiko nach den letzten Präsidentschaftswahlen, die Gue­rilla-Bewegungen in Peru oder die Streiks in Managua vom Juli 1990 sind Anzei­chen einer großen sozialen und politischen Unzufrieden­heit bei breiten Bevölkerungs­schichten. Aber sie verdecken nicht den anhaltenden Trend eines breiten Siegeszugs der Demokratisierung in (fast) ganz Lateinamerika. In einem Kontinent, in dem vor zehn Jahren Generäle in den meisten Ländern das un­beschränkte Sagen hatten, ver­geht heute kaum ein Monat, in dem nicht irgendwo das Volk zur Wahl­urne gerufen wird. Wer hat daran ein Interesse?
Die Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaft­ler, die sich mit den De­mokratisierungsprozessen in La­teinamerika beschäftigt haben, haben sich in der Regel auf die Logik der inneren Entwicklung der Militärdikta­turen konzentriert und aus dem sich kumulierenden Legi­timationsdefizit die geradezu zwangsläu­fig sich erge­benden Demokrati­sierungstendenzen erklärt. Auf diese Art sind viele kluge und differen­zierende Analysen ent­standen, über denen aber die hi­storisch-soziale Bedeu­tung der Militärdiktaturen nicht verloren gehen darf: Zwi­schen den Demokratien vorher und hinterher klafft ein himmelweiter Unter­schied.
Die lateinamerikanischen Demokratien, die in den sech­ziger Jahren mit der Hilfe ausländischen Kapitals die Strategie der importsubstituieren­den Industrialisie­rung verfolgten und dann Anfang der siebziger Jahre zusammen mit anderen Ländern der Dritten Welt für die Schaffung ei­ner Neuen Weltwirtschaftsordnung eintraten, haben sich unter dem Druck der Wählerinnen und Wähler bemühen müssen, ihrer Marktwirt­schaft eine soziale Orientierung zu geben – von ökologi­scher Orientie­rung sprach damals noch niemand. Die sozialisierenden Tenden­zen der Demokratien bedrohten die freie Bewegung des Kapitals.
Die historisch-soziale Bedeutung der Militärdiktaturen – mit der Aus­nahme der peruanischen von Velasco Alva­rado 1968-1975 – bestand un­ter diesen Umständen in der Herstellung der vollen Bewegungsfreiheit des Kapitals, einer völligen oder doch – im Fall Brasilien – weitge­henden Integration in den Weltmarkt und der Ausrottung aller soziali­sierenden Tendenzen. Diese liberale Revo­lution, die zwei­fellos in Chile am gründlichsten be­trieben wurde, aber in den anderen Diktatu­ren kaum we­niger effektiv funktioniert hat, hat zum Ergebnis ge­habt, daß die neu erstandenen Demokratien auf einer völlig neuen Basis operie­ren, gewisser­maßen auf einer tabula rasa. Die heute real existierende Demokratie ba­siert auf der nackten Marktwirtschaft. Wo der Sach­zwang dieser real existierenden Marktwirtschaft regiert, be­darf es der Militärs nicht mehr.
Das hindert nun nicht, daß der Volkswille etwas anderes fordert: Die Präsident­schaftskandidaten Menem in Argen­tinien, Aylwin in Chile oder Fujimori in Peru haben sich in der letzten Zeit mit der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit eindeutig gegen neoliberale Ri­valen durchgesetzt, die die herrschende Ungleich­heit auch noch zum Pro­gramm erhoben haben. Wenn man aber auch nur ihre er­sten Maßnah­men und Ankündigungen analy­siert, wird deutlich, mit welcher Konse­quenz sie sich dem Sachzwang der Marktgesetze gebeugt haben. Ihre wirt­schaftspolitischen Berater waren früher in der Re­gel die schärfsten Kritiker der neoliberalen Politik der Militärs. Heute dagegen warnen sie gelegentlich schon vor demagogischen Forderungen nach sozialer Ge­rechtigkeit wegen der damit verbundenen Gefahren für die frisch er­rungene Demokra­tie.
Und dennoch gibt es bei den Massen der Bevölkerung nur wenig wirkli­chen Überdruß. Sie wissen, daßie einzige reale Alternative die Dikta­tur ist, von der sie keine Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Situa­tion, wohl aber politische Unterdrückung und Menschenrechtsverlet­zungen erwarten können. Und man­che mögen immer noch hoffen, daß die innere Logik der Demokratie doch noch zu sozialer Gerechtigkeit oder zum Sozialismus führt.


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Demokratie – Anmerkungen zur Geschichte eines Kampfbegriffes

Antike Aufladung

Die ersten systematischen und in der Ideengeschichte folgenreichsten Überle­gungen zum “Wesen der Demokratie” – so die antike Fragestellung – hat zwei­felsohne Aristoteles angestellt. Bei Aristoteles finden sich mehrere Versuche diese Frage zu lösen; der schlüssigste geht von der Fragestellung aus, daß es trotz viel­fältiger Erscheinungsformen im Grunde nur zwei Verfassungen gibt: Demokratie und Oligarchie. Denn die Bürgerschaft besteht zwar aus verschiedenen Teilen, aber diese Teile sind austauschbar: Ein Bauer kann auch Krieger sein und umge­kehrt, aber ein Armer kann nicht zugleich reich sein. Die grundlegende Unter­scheidung in einem Gemeinwesen ist also die zwischen Armen und Reichen. Ari­stoteles definiert nun Demokratie als Herrschaft der Vielen und Armen (Oligarchie demnach als Herrschaft der Wenigen und Reichen). Bei der Diskus­sion der Frage welches dieser beiden Kriterien, Zahl oder Vermögen, ausschlag­gebend ist, entscheidet sich Aristoteles für das Kriterium Vermögen. In der Pra­xis, so meint Aristoteles, spiele das zwar keine Rolle, denn die Vielen sind auch die Armen, aber systematisch ist es für ihn wichtig: Demokratie ist Herrschaft der Armen. Und mit Herrschaft meint Aristoteles tatsächlich die Ausübung von Herrschaft, nicht deren Regulierung.
Wahlen sind für Aristoteles ein aristokratisches Mittel, weil sie zwangsweise zur Auswahl der “Besten” führen. Das genuin demokratische Mittel ist das Los. In ei­ner Demokratie werden Ämter verlost.
Es ist klar, daß mit einem solchen Konzept der Demokratie kein Staat zu machen war (unter gegebenen Machtverhältnissen!), Aristoteles war natürlich ein Anti­demokrat, wie praktisch die gesamte griechische Elite antidemokratisch war. (Bei den Überlegungen Aristoteles sollte man/frau natürlich nicht vergessen, daß er nur über Frei-Bürger redet: Sklaven und Frauen – die Mehrheit der Bevölkerung also – sind von vornherein ausgeschlossen.)

Moderne Entlastungen

Für die gesamte Folgezeit, das Mittelalter und die frühe Neuzeit, war die antike Erfahrung und Theorie der Ausgangspunkt, wenn über Demokratie geredet wurde. Und es war ein negativer Ausgangspunkt. Die Demokratie wurde allge­mein als unmöglich verworfen, sie sei allenfalls in kleinen Stadtstaaten möglich, in denen sich die Bürger in Vollversammlungen treffen können. Demokratie war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ein durchweg negativ besetzter Begriff, De­mokrat ein Schimpfwort. Das lag aber auch daran, daß man/frau unter Demo­kratie in antiker Tradition die unmittelbare Herrschaftsausübung durch das Volk verstand. Charakteristisch sind einige Äußerungen Rousseaus, der im Grunde der Demokratie positiver gegenüberstand als die herrschende Meinung seiner Zeit:
“Die Wörter tun nichts zur Sache, wenn das Volk Oberhäupter hat, die für es re­gieren, ist es immer eine Aristokratie, welche Namen die Oberhäupter auch tra­gen.”
Daher:
“Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.”
Die Idee der Demokratie drohte an solchen Vollkommenheitsansprüchen zu scheitern. Die Rettung kam aus England. Etwa zur gleichen Zeit wie Rousseau jene Sätze geschrieben hat, taucht in England der Begriff der “repräsentativen Demokratie” auf, das heißt der Demokratie via Parlament. Diese Vorstellung von Demokratie hat einen beispiellosen, wenn auch schwierigen Siegeszug angetre­ten. Herzstück der Demokratie sind die freien, gleichen und allgemeinen Wahlen.
Ideengeschichtlich bedeutet das ein großes Umdeutungsmanöver. In einer “repräsentativen Demokratie” herrscht das Volk nicht, es wird beherrscht, wenn auch von gewählten Herrschern. Aristoteles und Jahrhunderte nacharistoteli­scher Tradition hätten eine solche Herrschaft als Aristokratie mit demokratischen Elementen bezeichnet. Die Idee der Demokratie tritt ihren Siegeszug an, nach­dem sie von weitreichenden Implikationen entlastet worden ist. Gegen alle Be­schönigungen haben die Elitetheoretiker dies auf den Begriff gebracht. Die Ver­treter des Elitedenkens, geschichtlich immer die schärfsten Kritiker der Demo­kratie, wurden in diesem Jahrhundert im angelsächsischen Bereich die herr­schenden Theoretiker der Demokratie.
Schumpeter hat 1942 vielleicht das einflußreichste Buch über Demokratie ge­schrieben. Dessen entscheidende Thesen sind:
1.Es regiert nicht das Volk, sondern die vom Volk gebilligte Regierung
2.Die Demokratie ist die Herrschaft des Politikers
3.Die Demokratie ist eine Methode, die darauf abzielt, eine starke entschei­dungs- und durchsetzungsfähige Regierung hervorzubringen.
Damit ist nicht nur das Volk von der Last zu herrschen befreit, sondern auch die Idee der Demokratie von allen inhaltlichen Implikationen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität. Sie ist zu einer Methode zur Auswahl der Elie degradiert.
Solche Demokratietheorien waren natürlich nicht konkurrenzlos. Eine wichtige prinzipielle und einflußreiche Gegenposition, die an die klassische Tradition an­knüpft, ist die sogenannte Identitätstheorie. Demokratie ist demnach die “Identität von Regierung und Volk”. Ihre bedeutendsten Vertreter waren Georg Lukasz und Carl Schmitt. Lukasz Hauptwerk “Geschichte und Klassenbewußt­sein” war aber nur als Rechtfertigung des Stalinismus zu lesen und Carl Schmitt, von dem die gerade zitierte Definition stammt, war Vordenker und Bejubeler des Nationalsozialismus.
Zum Siegeszug der Elitetheoretiker hat sicherlich beigetragen, daß sich der iden­titätstheoretische Einwand durch die historischen Erfahrungen von Faschismus und Stalinismus gründlich diskreditiert hatte. So wurde nach dem zweiten Welt­krieg der reduzierte Demokratiebegriff auch für eine ernüchterte Linke als “kleineres Übel” tragbar. Der in den 20iger Jahren von rechten und linjken Intel­lektuellen gegeißelte und verspottete Parlamentarismus war hoffähig geworden.
Aber die Elitetheorie entspricht auch nicht den demokratischen Sonntagsreden und Selbststilisierungen der Demokraten. Die vielleicht am häufigsten zitierte Kurzformel über Demokratie ist die sogenannte Gettysburg-Formel von Abra­ham Lincoln: “Gouvernment of the people, by the people, for the people” Dieser Satz wurde 1949 weltweit zur Diskussion gestellt. Ergebnis:
– Es gab keine antidemokratischen Antworten
– Aber viele Antworten ließen nur den ersten Teil gelten, die beiden anderen Bestimmungen wurden als problematisch angesehen.
Hier erreichen wir einen wichtigen Punkt für alle populären Demokratiediskus­sionen: Die demokratische Praxis im Parlamentarismus entspricht dem sachlich-zynischen Blick der Elitetheorie: Gleichzeitig ist aber der Begriff Demokratie em­phatisch aufgeladen, an die Demokratie werden normative Erwartungen ge­knüpft und in deren Verfassungen in der Regel auch formuliert. Diese unrettbare Verknüpfung im Begriff macht es so schwer, aus “Demokratisierung” ein Kon­zept zu entwickeln.

Vor- und Nachteile der Demokratie

In wichtigen Ländern Lateinamerikas (Brasilien und Chile) war die Demokrati­sierung kein Erfolg von Volkskämpfen gegen die Elite, sondern ein bewußtes Konzept (von Teilen) der militärisch-politischen und ökonomischen Elite. Ihr Verlauf ist dann allerdings nicht mehr so recht kontrolliert worden. Dies wider­spricht der gängigen Annahme, die Demokratisierung sei der Elite in Kämpfen des Volkes abgerungen worden. Man/frau darf aber zwei Sachen nicht überse­hen:
1.Die USA sind das Produkt einer demokratischen Revolution, die Demokratie steht im Mittelpunkt der nationalen Identität. Die USA sind demokratisch und wollen daß andere Länder auch demokratisch sind.
2.Diktaturen haben große Schwiergikeiten bei der dauerhaften Sicherung bür­gerlicher Herrschaft.
Punkt eins wird oft übersehen, da sich die USA offensichtlich ganz anders ver­halten, sie unterstützen Putsche und schicken Folterspezialisten in die Welt. Aber das wird erklärbar, wenn wir uns an die Kernaussagen der Elitetheorie erinnern. Die demokratische Methode soll stabile Legitimation von Eliteherrschaft ermög­lichen. Demokratie ist eine Methode, die einem anderen Ziel dient, der Stabilität. Wenn also die Stabilität in einer konkreten historischen Situation bedroht ist, dann sind die USA auch bereit, zu putschen und zu foltern. Das tangiert aber gar nicht den Glauben, daß Demokratie prinzipiell die beste Methode zur Herr­schaftssicherung ist.
Damit sind wir bei Punkt zwei. Grundproblem von Diktaturen ist, Herrschaft dauerhaft zu legitimieren. Diktatorische Herrschaftslegitimationen neigen dazu, transistorisch zu sein, d.h. sie verzehren ihre eigene Basis. Beispiel: “Wir mußten die Macht ergreifen, um der kommunistischen Subversion Herr zu werden.” Nun – entweder beseitigt der Repressionsapparat die Subversion – und damit entfiel die Legitimationsgrundlage – oder er beseitigt sie nicht, und müßte damit sein Versagen zugeben. Diktatorische Regimes personalisieren daher oft die Legiti­mationsfrage, die personalisierten Diktaturen überleben, aber meist nicht die Person des Diktators (Franco). Diktaturen sind im höchsten Grad zusammen­bruchsgefährdet, wenn sie eine aktuelle Krise nicht lösen können (Argentinien, Griechenland).
Aus den strukturellen Problemen diktatorischer Herrschaft ergeben sich dtarke Argumente für Demokratien. Das sind freilich andere Demokratien, als ein emanzipatorisch aufgeladener Demokratiebegriff sie herbeisehnt. Im Prozeß der Demokratisierung fallen aber für eine gewisse Zeit Befreiungssehnsüchte und technologische Herrschaftskonzepte zusammen. Diese Aussage markiert, denke ich, das grundlegende Dilemma des Redens über Demokratisierung in Latein­amerika.
Zum Schluß noch der Hinweis auf einen Vorteil der Demokratie, der etwas aus dem Rahmen der bisherigen Betrachtung fällt. Die Demokratie hat nioch einen ganz anderen Vortreil: Sie ist unterhaltsamer als Diktaturen. Nur in demokrati­schen Systemen können wir erfahren, welch ein Lotterbube der Kerl ist, der US-amerikanischerVerteidigungsminister werden wollte, und was bei Menems alles los ist. Insbesondere Wahlen entwickeln einen hohen Unterhaltungswert. Sie sind quasi Pferderennen, in denen menschliche Schicksale entschieden werden.
Man sollte diesen Punkt angesichts der Gewalt des Fernsehens nicht unterschät­zen. Demokratische Politiker können Stars sein, Pinochet hat bei Wahlen keine Chance, ein Collor oder Menem schon. Es gibt den Verdacht, daß all dies eigent­lich das entscheidende ist, daß in “modernen” westlichen Demokratien die Politik vom Showgeschäft überwuchert ist, daß die großen püolitischen Auseinander­setzungen nur Teil einer gigantischen Simulation sind, während die Apparate , die Bürokratie, die Wirtschaft und die Technik längst von der Politik unbeein­flußt agieren. Die Politik kann diese Entscheidungen nur noch nachvollziehen und agonal in Scheinalternativen auflösen. Die Politik wäre dann eine Institution, die auf vollen Touren im Leerlauf läuft. In Lateinamerika ist die Demokratie in den letzten Jahren sehr ernst genommen worden. Sie hat ihre Würde aus dem Blut der Diktaturen bezogen. Ob das für die Zukunft reicht, ist fraglich.


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