REFORMIEREN, UM NICHT ABZUSTÜRZEN
Ökonomische Reformen sollen neue Weichen stellen
Vorbild auch für andere Sektoren? Die Finca Marta bei Havana (Foto: Knut Henkel)
Seiner Wohnung gegenüber ist der Bauernmarkt, wo Ricardo Torres das Gros seiner Lebensmittel einkauft. „Das Angebot ist deutlich besser als noch im Mai und Juni – es kommen mehr Produkte in Havanna an“, beobachtet der Sozialwissenschaftler vom Studienzentrum der kubanischen Ökonomie (CEEC). Ein positives Signal inmitten der Pandemie, die in Kuba mit massiven Versorgungsengpässen einherging. Speiseöl, Hühner- und Schweinefleisch waren über Monate genauso knapp wie Reinigungsmittel, Seife und Shampoo. Doch Speiseöl, auch Schweinefleisch und Grundnahrungsmittel wie Gemüse, Reis und Kartoffeln seien auf den Bauernmärkten wieder vorhanden, die Schlangen deutlich kürzer als noch vor ein paar Monaten, meint Torres.
Allerdings kommt die Verbesserung der Versorgungslage doch etwas überraschend angesichts der massiven Sanktionen von Seiten der USA, deren Regierung die finanziellen Daumenschrauben im Wahlkampf bis zum Äußersten anzieht. Die remesas, die Dollartransfers aus den USA nach Kuba, haben die Verantwortlichen im Weißen Haus und im State Department im Visier. Die jüngsten Ankündigungen aus Washington sind dafür bezeichnend. „Personen, die der US-Gerichtsbarkeit unterliegen, sind nicht länger berechtigt, Überweisungen nach oder von Kuba zu bearbeiten, an denen ein Unternehmen oder eine Unterorganisation auf der ‘Cuba Restricted List’ des Außenministeriums beteiligt ist“, hieß es in einem Statement von US-Außenminister Michael Pompeo Ende Oktober 2020. Auf dieser US-Sanktionsliste finden sich neben kubanischen Regierungsstellen auch die Unternehmen des kubanischen Militärs (FAR). Dieses kontrolliert auf der sozialistischen Insel über ihre Finanzdienstleister die Geldsendungen aus dem Ausland. US-Überweisungen nach Kuba könnten „immer noch fließen, aber sie werden nicht durch die Hände des kubanischen Militärs fließen, das diese Mittel verwendet, um das kubanische Volk zu unterdrücken und Kubas Einmischung in Venezuela zu finanzieren“, begründete Washington die Maßnahme. Doch die treffe die ganz normalen Kubaner, die oftmals auf das Geld von den Verwandten im Ausland angewiesen seien, so Pavel Vidal, kubanischer Finanzexperte mit einem Lehrauftrag an der Universität Javeriana im kolumbianischen Cali. „Das wird bewusst in Kauf genommen, um die Stimmen der Exilgemeinde in Florida zu gewinnen“, kritisiert Vidal, der seine Eltern auf der Insel unterstützt.
Die US-Sanktionen treffen diejenigen, die auf das Geld von Verwandten im Ausland angewiesen sind
Dass nun der US-Dollar zurückkehrt, wenn auch nur partiell, ist alles andere als ein wünschenswertes Signal, aber der prekären finanziellen Situation geschuldet. Der Regierung von Präsident Miguel Díaz-Canel steht aus finanzpolitischer Perspektive das Wasser bis zum Hals. Altschulden beim Pariser Club konnten im Dezember 2019 nicht bedient werden, Finanzministerin Meisi Bolaños Weiss hat den Club der staatlichen Schuldner gebeten, die Schuldenzahlung angesichts der Pandemie auszusetzen und auch bei den Lieferanten steht die Insel knietief im Dispo. Bis zu zwei Milliarden US-Dollar an Schulden sollen Schätzungen von Experten zufolge aufgelaufen sein. In dieser Situation treffen die US-Sanktionen die Insel hart. Hinzu kommt, dass der Tourismus zwischen Ende März und Ende August 2020 kaum Einnahmen generiert hat. Mit der seit Mitte Oktober erfolgten Wiedereröffnung der wichtigsten Tourismusdrehscheibe der Insel, Varadero, kann sich das langsam wieder ändern. Doch die Entscheidung birgt trotz ausgeklügelter Hygienekonzepte, obligatorischer Tests am Flughafen von Varadero und medizinischen Teams in jedem Hotel durchaus Risiken. Bisher ist Kuba mit 7184 offiziell registrierten Infektionen und 129 Toten (Stand 06.11.2020) deutlich besser durch die Pandemie gekommen als viele Nachbarn. Das sei, so die Weltgesundheitsorganisation (WHO), auch darauf zurückzuführen, dass Medizinstudent*innen durch die Stadtteile gehen, Haus für Haus nach Infektionssymptomen fragen und Infektionsketten nachgegangen wird. Diese aufsuchende medizinische Hilfe ist eine Besonderheit und basiert auf einem flächendeckenden Gesundheitssystem, das nur wenige Länder in der Region vorweisen können. Trotzdem ist die Wiederöffnung des Flughafens von Varadero, der alsbald die des Airports von Havanna folgen soll, ein Risiko, da es vor allem Besucher*innen aus den USA, Kanada und Europa sind, die zu den typischen Gästen gehören – außer Kanada alles Regionen mit hohen Infektionszahlen.
Ökonomische Reformen bieten Chancen für kleine und mittlere Unternehmen
Die sollen nun kommen, wie Wirtschaftsminister Alejandro Gil und Präsident Miguel Díaz-Canel erstmals im Juli 2020 ankündigten. Kleine Schritte wie die Zulassung von angestellten Arbeiter*innen in der Landwirtschaft ohne bürokratisches Procedere oder die Legalisierung von Exporten durch Agrargenossenschaften haben dabei Signalcharakter, so Pavel Vida. „Ökonomisch fallen sie nicht ins Gewicht, aber sie zeigen, was zukünftig gehen könnte“, sagt er und befindet sich damit in Gesellschaft von Ricardo Torres und dem unabhängigen Analysten Omar Everleny Pérez, der früher an der Universität Havanna arbeitete. „Fruta Selecta heißt ein kubanisches Unternehmen, das kleinen und mittleren Produzenten den Export von Limonen, Avocados und anderen Agrarprodukten nach Italien und Spanien ermöglicht, bei Verpackung und Verschiffung hilft. Das sind Modelle, die zukünftig neue Dynamik bringen können“, so Everleny Pérez. Davon können Genossenschaften im Agrarsektor profitieren, so wie der Vivero Organopónico von Alamar, der seit Mitte der 1990er Jahre existiert und mit innovativen Produktionsstrukturen ein Beispiel sein könnte. Ein anderes Agrarunternehmen ist die Finca Marta von Fernando Funes, der mit seinem Team Restaurants mit frischem Gemüse beliefert. Optionen, die seit mehr als zehn Jahren auch für den staatlichen Tourismussektor diskutiert, aber eben nicht realisiert wurden.
„Reformen, um nicht in den Abgrund zu stürzen” hat das Raúl Castro einmal genannt und nun scheint die Insel zögerlich in eine neue vielfältigere Ökonomie zu starten. Doch Pavel Vidal und Ricardo Torres sind skeptisch. Sie wissen nur zu genau, dass es innerhalb der kommunistischen Partei erhebliche Widerstände gibt und weisen darauf hin, dass konkrete Programme und Maßnahmen noch nicht erlassen wurden. Darauf warten die rund 11 Millionen Kubaner*innen. Klar ist, dass die nationale Währung, der Peso nacional, abgewertet werden muss und parallel dazu die Löhne steigen sollten. Doch in welchem Verhältnis stehe in den Sternen, so Ricardo Torres. „Ich gehe von einem Wechselkurs vom Peso zum US-Dollar in etwa von 1:40 aus. Das wird viele hart treffen, könnte den Reformen aber einen Schub geben“, meint der Ökonom der Universität Havanna. Positiv dabei ist, dass in der Landwirtschaft viele in den Startlöchern stehen, die Verteilung der Produkte besser läuft als noch vor Monaten und mehr angebaut wird als früher. Das könnte die Reformen auch etwas abfedern.