Law and Order in Chile
Unter Linkspräsident Boric werden die Befugnisse der Polizei Carabineros ausgebaut
Neue Freunde Der ehemalige Studierendenanführer Boric sucht den Schulterschluss mit der Polizei (Foto: Marcelo Segura/Prensa Presidencia Chile)
Am 8. April erschossen Carabineros in der chilenischen Küstenstadt San Antonio den 19jährigen David Toro. Er hatte mit dem Auto versucht, einer Polizeikontrolle zu entgehen. Die Polizei behauptet, Toro habe sie überfahren wollen, Augenzeug*innen berichten jedoch, er hätte bereits angehalten und sei mit erhobenen Händen aus dem Auto gestiegen, als ihn eine Salve von sieben Schüssen direkt ins Gesicht traf.
Toro ist der erste von mittlerweile drei Toten durch Waffengebrauch der Carabineros, seitdem das chilenische Parlament Anfang April das umstrittene Gesetz Nain-Retamal angenommen hat. Die in Rekordtempo verabschiedete Bestimmung gibt den Sicherheitskräften für den Fall der Selbstverteidigung mehr Handlungsspielraum. So wird bei Schusswaffengebrauch grundsätzlich von der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ausgegangen. Folglich müssen Opfer von Polizeigewalt die Unverhältnismäßigkeit von Schusswaffengebrauch vor Gericht beweisen.
Dreieinhalb Jahre nach der sozialen Revolte und damit auch den massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Carabineros (siehe LN 547) hat sich die Stimmung in Chile gewendet. Momentan richten sich die Sorgen der Bevölkerung auf das Thema Kriminalität durch Migration. In einer am 23. April veröffentlichten CADEM-Studie äußerten rund 73 Prozent der Befragten, dass Migrant*innen die wirtschaftliche und soziale Situation des Landes verschlechtern würden.
Solche Umfrageergebnisse belegen die weite Verbreitung einer migrationsfeindlichen und rassistischen Stimmung im Land. Nachdem Expräsident Sebastián Piñera (2018-2022) die Migration aus lateinamerikanischen Ländern mit speziellen Visa gefördert, aber gleichzeitig Ressourcen im Migrationsdienst abgebaut hatte, stehen viele Migrant*innen nun vor einem Scherbenhaufen. Die langen Bearbeitungszeiten der Visaanträge treiben viele von ihnen in den informellen Arbeitsmarkt, wo Verfolgung und Ausbeutung an der Tagesordnung sind. Ein jüngster Entscheid der Staatsanwaltschaft, alle Personen ohne Aufenthaltspapiere in Präventivhaft zu nehmen, hat die Situation für viele Migrant*innen unhaltbar gemacht.
Doch auch die Wege zurück in ihre Heimatländer sind versperrt. An der Grenze zwischen Peru und Chile sind nunmehr Hunderte Menschen mit haitianischer und venezolanischer Staatsbürgerschaft gestrandet, die zwar aus Chile ausgereist sind, aber nicht mehr nach Peru einreisen dürfen. Zudem haben beide Länder das Militär an den Grenzen stationiert. Es heißt, die normalen Grenzschutzkräfte seien sonst überfordert. Bei der Bevölkerung kommt die harte Hand der Regierung anscheinend gut an: In der CADEM-Umfrage waren 87 Prozent der Befragten der Meinung, undokumentierte Personen sollten festgenommen und die Grenzen vollständig geschlossen werden.
Im chilenischen Norden und bei den Mapuche im Süden ist der Einsatz des Militärs bereits zum Alltag geworden. Seit Jahresbeginn fordern rechte Parlamentarier*innen das Gleiche für die Hauptstadt Santiago. Medien wie Tele13, TVN und sogar der linksliberale El Mostrador sprechen mittlerweile von einer „Krise der öffentlichen Sicherheit“. Berichte über Diebstähle im Stadtzentrum, Autoüberfälle auf der Autobahn und Einbrüche sollen diese Stimmung untermauern. Die Situation heizte sich besonders auf, als der Streifenpolizist Daniel Palmer am 5. April bei einem Einsatz erschossen wurde. Nachdem in diesem Jahr der dritten Polizist im Dienst starb, versprach die Regierung verstärkte Polizeipräsenz in besonders von Kriminalität betroffenen Gemeinden. Eine solche Stärkung der Polizeiarbeit ist seit mehreren Monaten zu beobachten (siehe LN 583). Und so lobte Carabineros-Generaldirektor Ricardo Yañez beim 96. Gründungsjubiläum der Polizei am 27. April, „diese Regierung hat viele Verbesserungen vorangetrieben und wichtige finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt“. Gegen Yañez, der die Carabineros seit November 2019 leitet, wird derzeit wegen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Revolte ermittelt.
Auch das Gesetz Nain-Retamal ist Teil dieser Stärkung der Polizeiarbeit. Macarena Silva vom Menschenrechts- und Erinnerungsort Londres38 spricht in diesem Zusammenhang „von einem Gesetz der Straflosigkeit“. Noch vor Inkrafttreten warnte sie gegenüber (siehe LN 583), dass dieser Bestimmung ein Wiederaufleben der Polizeigewalt rechtfertigen und beschuldigte Carabineros dadurch freigesprochen werden könnten.
Das Gesetz sollte ursprünglich den Waffeneinsatz großflächig erlauben; beispielsweise, wenn das Leben von Polizist*innen oder anderen Menschen gefährdet sei. Nach zähen Verhandlungen konnte die Regierung viele kritische Sätze aus dem Gesetz streichen. Jedoch haben Polizist*innen weiterhin die Möglichkeit, ihr Recht auf Selbstverteidigung breiter anwenden zu dürfen als andere Personen. Die Folge sind bereits jetzt drei Todesfälle durch Carabineros, die angeblich lebensgefährlich bedroht worden sind. Außerdem sprach ein Gericht am 27. April fünf Polizisten frei, die 2019 eine Person festnahmen und mit einem Schuss verletzten. Im Urteil hieß es, die Carabineros hätten sich selbst verteidigt – das Gesetz Nain-Retamal macht es möglich.
Die linke Regierung unter Präsident Boric sieht sich derweil paradoxerweise dem Vorwurf der Opposition ausgesetzt, sie habe sich zu sehr auf linke Kernthemen konzentriert und zu wenig um die Sicherheit und kontrollierte Grenzen gekümmert. Und das, obwohl sich viele Probleme schon unter der Vorgängerregierung angestaut haben. Als Reaktion auf die Vorwürfe übernimmt Gabriel Boric zunehmend eine rechte Law-and-Order-Agenda.
Dabei liegt das Problem deutlich tiefer: Der Sicherheitsexperte und ehemalige Polizist Daniel Soto kritisiert seit Jahren, dass es in der Polizeiinstitution an Ausbildung und korrekten Handlungsprotokollen fehlt. Kurz nach Bekanntwerden der Todesfälle durch Schusswaffengebrauch der Carabineros kursierte die Nachricht, dass Mitte April ein weiterer Polizist starb, weil eine Kollegin die Schusswaffe falsch bediente. Wie eine linke Antwort auf dieses eingefahrene Szenario aussehen könnte, ist weiterhin unklar.