DIE RUHE VOR DEM STURM
Die chilenische Regierung versucht vergebens, in der Ferienzeit Normalität zu demonstrieren
Foto: Frente Fotográfico
Wie jedes Jahr richten sich Ende Februar die Augen der Chilen*innen nach Viña del Mar, wo sechs Tage lang das internationale Songfestival stattfindet, eines der meist beachteten Musikereignisse Lateinamerikas. Doch dieses Mal ist alles anders: #SinJusticiaNoHayFestival, „Ohne Gerechtigkeit kein Festival“, meinen viele und fordern zunächst erfolglos die Absage des kommerziellen Großereignisses. Tausende protestieren, doch von Beginn an kontrollieren Sicherheitskräfte den Eingang zum Festivalgelände Quinta Vergara streng und weisen mutmaßlich Protestwillige ab. Einige Plakate schmuggeln sie dennoch hinein, und Künstler*innen wie Mon Laferte oder Ricky Martin solidarisieren sich von der Bühne aus mit den Protesten. Ein Rückschlag für die Regierung, die mit dem Festival Normalität demonstrieren möchte. In der chilenischen Presse wird anschließend besonders über Ausschreitungen abseits des eigentlichen Festivals berichtet: Auf das Nobelhotel O’Higgins in der Nähe werden Steine geworfen, Scheiben zerbrechen und Tränengas gelangt nach drinnen, Gäste werden evakuiert und mehrere Autos in Brand gesetzt. „Dies ist nicht die beste Art des Protestes“, sagt eine Frau hinterher Efe TV gegenüber, „aber die Leute sind müde, denn für das Festival wird sehr viel Geld ausgegeben, das eigentlich in das Gesundheitssystem und in die Bildung gesteckt werden müsste.“
Viele rechtfertigen den Einsatz von Gewalt gegen Gegenstände als Antwort auf die staatliche Repression, die weiterhin wahrnehmbar ist. Über die sozialen Medien werden immer wieder neue Aggressionen der Sicherheitskräfte bekannt, vor allem im Großraum Santiago. Da ist zum Beispiel das Video, in dem man sieht, wie sieben Carabineros – einige davon in Zivil – aus einem Polizeifahrzeug aussteigen, um brutal auf den Studenten Matías Soto einzuprügeln und zu -treten. Oder die Berichte von Matías Pérez, der nach Faustschlägen in einem Polizeifahrzeug einen Nasen- und Augenhöhlenbruch erlitt. Seine Verletzungen wurden in dem Polizeibericht darüber jedoch nicht erwähnt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Laut nationalem Menschenrechtsinstitut (INDH) sind in der Hauptstadtregion bisher etwa 90 Prozent solcher Angriffe von den Carabineros verübt worden, die restlichen von der zivilen Polizei PDI und vom Militär, welches nur während des neuntägigen Ausnahmezustands im Oktober 2019 eingesetzt wurde.
Mitte Februar forderten die Menschen bei den Protesten auf der Plaza de la Dignidad daher unter dem Motto „Un San Valentín Sin Rozas“ („Valentinstag ohne Rozas/Rosen“) den Rücktritt von Mario Rozas, dem Generaldirektor der Carabineros. Während auf dem Platz nach wie vor Tausende zusammenkommen, sind es doch keine riesigen Massen mehr wie anfangs – allerdings ist im Februar auch Ferien- und Urlaubszeit in Chile. Größere Proteste finden mittlerweile nur noch an Freitagen statt, dem Wochentag, an dem am 18. Oktober alles begann. Noch stehen laut der Umfrage Plaza Pública 56 Prozent der Chilen*innen hinter den Protesten – ein Rückgang um 16 Punkte seit Oktober. Beginnen die Proteste sich also totzulaufen, wie der rechtsgerichtete Präsident Sebastián Piñera zweifellos hofft?
„Noch haben wir nichts erreicht!“, ist ein Satz, den man auch nach vier Monaten unter den Protestierenden oft hört – es ist das Gefühl, dass immer noch alles vergeben gewesen sein kann. „Ich lade die Leute dazu ein, mobilisiert zu bleiben“, sagte im November vorausahnend ein Spitzenpolitiker, „wenn sie nicht aufpassen, werden viele die Veränderungen nicht umsetzen.“ Der Politiker war nicht etwa ein Linker, sondern Mario Desbordes, Präsident der Nationalen Erneuerung (RN), einer der Regierungsparteien aus dem rechten Spektrum. Er wird es wohl wissen.
Die Polizeigewalt könnte noch ein Fall für die internationale Justiz werden
Gleichzeitig hat die Justiz begonnen, die übergeordnete Verantwortung von Präsident Sebastián Piñera und weiterer Autoritäten, wie Innenminister Gonzalo Blumel, seinem Vorgänger Andrés Chadwick sowie dem Generaldirektor der Carabineros, Mario Rozas, zu untersuchen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie aufgrund von 30 Anzeigen wegen des Todes von Mauricio Fredes, der auf der Flucht vor der Polizei in ein Loch stürzte, des Einquetschens von Óscar Pérez zwischen zwei Polizeifahrzeugen (siehe LN 548) sowie weiterer schwerer Verletzungen von Demonstrant*innen. Ein Gericht hat bereits die Vernehmung von Mario Rozas genehmigt. Aufgrund der drohenden hohen Strafen von bis zu 20 Jahren für Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben die Carabineros bereits mehrere Anwälte für die Verteidigung abgestellt. Weitere Anwälte aus renommierten Kanzleien des Landes boten sogleich ihre (zum Teil unentgeltliche) Hilfe an und gründeten die NGO Nos Importan („Ihr bedeutet uns etwas“), die für angeklagte Mitglieder der Sicherheitskräfte juristische Hilfe organisiert und finanziert. Viele Mitglieder dieser NGO haben geschäftliche Verbindungen zu großen Unternehmen, die ihre Interessen durch die Proteste bedroht sehen. Darunter ist etwa der Anwalt Juan Francisco Gutiérrez Irarrázaval, der als Berater der Luksic-Unternehmensgruppe und der Reorganisation der Energiefirma Enersis 2015 gewirkt hat (die Nachfolgefirma Enel wird heute von einem Cousin Piñeras geleitet).
Auf den begonnenen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen ruhen hohe Erwartungen. Der derzeit suspendierte spanische Richter Baltasar Garzón, für die Verhaftung Pinochets im Jahr 1998 verantwortlich, hat die Polizeigewalt in Chile kürzlich als ein nach dem internationalen Strafrecht relevantes Verbrechen eingeschätzt, das auch vor einem internationalen Gericht verhandelt werden könnte, falls in Chile keine adäquate Aufarbeitung erfolge.
Während die Regierung einerseits besorgt auf die Anklagen blickt, setzt sie an anderer Stelle Hoffnungen in die Justiz: Gleich am Tag des Inkrafttretens des mit Hilfe von Teilen der Opposition verabschiedeten „Anti-Plünderungs-Gesetzes“ erfolgten Ende Januar auf dessen Basis 12 Festnahmen von Demonstrant*innen. „Dieses beschämende neue Gesetz versucht, die Gefängnisse mit Demonstranten in Untersuchungshaft zu füllen und den gleichen Carabineros, die die Menschenrechte verletzen, zu ermöglichen, ihre Opfer ohne Beweise zu beschuldigen“, erklärte daraufhin der grüne Abgeordnete Félix González.
Doch die Protestierenden kritisieren nicht nur die jüngst verabschiedeten Gesetze: Ihre wichtigste Forderung nach einer neuen Verfassung bleibt auch vier Monate nach dem Ausbruch der Proteste bestehen. Die Vorbereitungen für die Kampagne zum Verfassungsreferendum am 26. April haben bereits begonnen. Die Chilen*innen sind dann aufgerufen zu entscheiden, ob es eine neue Verfassung geben soll und wie sich die Versammlung bilden soll, die diese im Falle einer Zustimmung ab Oktober ausarbeiten wird: mit 50 Prozent Parlamentsabgeordneten oder mit ausschließlich neu gewählten Delegierten. Das nahende Plebiszit hat im Februar nun auch die Gegenseite auf die Straße gebracht, es demonstrierten bis zu 2.000 Gegner*innen einer neuen Verfassung – nicht auf der Plaza de la Dignidad, sondern im Reichenviertel Las Condes, hochgehaltene Pinochet-Porträts inklusive.
Vom 27. März bis 23. April wird es eine Fernsehkampagne mit täglich zwei 15-minütigen Blöcken zu je einer der beiden Fragen des Referendums geben, beiden Antwortoptionen steht jeweils die Hälfte der Zeit zur Verfügung. Anders als im Referendum 1988, das zur Abwahl Pinochets führte, wird es jedoch nicht jeweils einen Pro- und einen Contra-Beitrag geben, sondern mehrere. Politische Parteien oder Parteienkoalitionen sowie unabhängige Abgeordnete bekamen in beiden Sendeblöcken auf Antrag Sendezeit für eine oder beide Antwortoptionen zugeteilt, insgesamt proportional zu ihrer parlamentarischen Repräsentanz. Dies führte allerdings dazu, dass in einigen Fällen extrem kurze Sendezeiten zugeteilt wurden. Eine Abgeordnetengruppe um den ehemaligen Mitte-Links-Präsidentschaftskandidaten Alejandro Guillier bekam etwa eine halbe Sekunde bzw. 17 “Bilder”. Für die Optionen „Pro neue Verfassung“ sowie „Pro 100 Prozent gewählte Versammlung“ registrierten sich zudem mehr Parteien und Abgeordnete als für die jeweilige Gegenposition, was dazu führte, dass die einzelnen progressiven Gruppen weniger Zeit zugeteilt bekamen als die konservativen, am meisten Zeit bekam mit ca. vier Minuten die ultrarechte Unabhängige Demokratische Union (UDI). Ein Drittel ihrer zugeteilten Zeit müssen die Parteien zudem an zivilgesellschaftliche Gruppierungen abgeben, die mit ihnen an der Kampagne teilnehmen wollen.
75 Prozent der Chilen*innen wollen eine neue Verfassung
Demgegenüber bleiben die Umfragewerte für die Regierung schlecht: Nur noch sieben Prozent der Chilen*innen sind mit Präsident Piñera zufrieden, 4,6 Punkte weniger als im Januar, hinter Piñeras Kabinett stehen sogar nicht einmal sechs Prozent (Pulso Ciudadano).
Zumindest die Umfragen lassen derzeit also Grund zur Hoffnung. Mit dem Ende der Sommerferien und mehreren Anlässen mit hohem Mobilisierungspotenzial im März – Frauen*kampftag, der zweite Jahrestag von Piñeras Amtsantritt und ein Gedenktag für die Opfer der Militärdiktatur – kann außerdem erwartet werden, dass es vor dem Plebiszit Ende April noch richtig rund geht.