TIEFE GRÄBEN

2017 ist Wahljahr in Chile. Am 19. November wird ein*e neue*r Präsident*in gewählt, und auch das Parlament sowie ein Großteil des Senats werden neu besetzt. Dabei ist völlig unklar, wer diesmal das Rennen macht: Wird es zum zweiten Mal seit Ende der Diktatur 1990 eine Regierung des Mitte-rechts-Bündnisses Chile Vamos geben, kann sich die Mitte-links-Koalition Nueva Mayoría durchsetzen oder eventuell sogar ein*e unabhängige*r Kandidat*in? Eine Vielzahl an Bewerber*innen hat sich bereits in Stellung gebracht. In den Vorwahlen im Juli könnte es heiße Debatten geben, denn die sozialen Probleme im Land sind groß und die Gräben, die sich zwischen Gesellschaft und politischer Klasse aufgetan haben, sind tief.

Das Vertrauen in die Regierung ist verschwunden.

Klar ist, dass Michelle Bachelet nicht erneut antreten kann, da die chilenische Verfassung keine direkte Wiederwahl zulässt. Selbst wenn sie es könnte, wäre ihre Wiederwahl mehr als fraglich: Ihre Zustimmungsrate von lediglich 20 Prozent (bei Amtsantritt 2014 noch rund 53 Prozent) liegt sogar unter der von Ex-Präsident Sebastián Piñera, der aufgrund seiner harten Haltung zu den Bildungsprotesten 2011 äußerst unbeliebt war. Das Vertrauen in die Regierung ist verschwunden – dabei wurden durchaus einige wichtige Reformen durchgesetzt. So beispielsweise die Abschaffung des binominalen Wahlrechts, das als Überbleibsel der Diktatur zur Bildung der zwei großen Parteienblöcke führte und somit das politische System des Landes nachhaltig lähmte.

Weiterhin wurden Veränderungen am Bildungssystem, eine der Forderung der Studierendenbewegungen 2011, sowie ein Gesetz zur Lockerung des Abtreibungsverbotes angestoßen. Auch die Finanzierung von teuren Medikamenten wurde durch ein Gesetz erleichtert, womit das chronisch unzureichende Gesundheitssystem entlastet wurde.

Die Autonome Bewegung sieht sich als Alternative zum Blocksystem der Parteien.

Doch all diese Errungenschaften der aktuellen Regierung scheinen zu verblassen. Einer der Gründe dafür ist der Korruptionsfall um Sebastián Dávalos, den Sohn Bachelets. Dieser soll seinen Einfluss ausgenutzt haben, um einen Kredit in Millionenhöhe für das Unternehmen Caval zu erwirken, welches zu 50 Prozent seiner Ehefrau Natalia Compagnon gehörte. Mit diesen Geldern wurden von Caval mehrere Grundstücke zur Bebauung in der Nähe der Stadt Rancagua erworben. Nun war Michele Bachelet zwar nicht direkt in diesen Fall verwickelt, doch dass sie von diesem Deal nichts wusste, glaubte ihr kaum jemand. Es wurde ihr außerdem zum Verhängnis, dass das politische Klima in Chile ohnehin durch mehrere bereits zuvor ans Licht gekommene Korruptionsfälle angeschlagen war (LN 491). Viele Vertreter*innen der politischen Elite des Landes, das einst als eines von wenigen Staaten Lateinamerikas von der Korruption weitgehend verschont geblieben schien, haben über Jahre in die eigene Tasche gewirtschaftet.. Etwa im Fall Penta, durch den Spendenzahlungen des gleichnamigen Unternehmens an Mitglieder der rechten Partei Unabhängige Demokratische Union (UDI) aufgedeckt wurden. Im Gegenzug wurden gefälschte Rechnungen ausgestellt, über die die Spenden steuerlich geltend gemacht wurden. Ähnlich, aber mit einer viel größeren Tragweite, war der Fall um das Bergbauunternehmen Soquimich, bei dem Bestechungsvorwürfe gegenüber Politikern fast aller großen Parteien erhoben wurden.

Kein Wunder also, dass sich einige in Bachelets Regierungsbündnis von ihrer Politik distanzieren. So der ehemalige Präsident Ricardo Lagos von der Partei für Demokratie (PPD), der in einem Radiointerview unter anderem die Einführung des hauptstädtischen Verkehrssystems Transantiago während der ersten Amtszeit Bachelets (2006–2010) kritisierte – dabei wurde das System hauptsächlich unter seiner Präsidentschaft (2000-2006) konzipiert. Auch José Miguel Insulza von der Christdemokratischen Partei (PDC), der sich einen Namen als Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gemacht hat, griff die Präsidentin frontal an, wobei er auf den Prozess der Verfassungsgebung unter Bürgerbeteiligung abzielte, der im September 2015 begonnen wurde. Beiden, sowohl Lagos als auch Insulza, werden Ambitionen auf das höchste Amt im Land nachgesagt.

Von dieser Seite des politischen Grabens, der das Land seit 27 Jahren durchzieht, droht ihnen Gefahr von Alejandro Guillier. Der 63-jährige aus Antofagasta, der als Unabhängiger im Senat sitzt, dabei allerdings von der Radikalen und Sozialdemokratischen Partei (PRSD) und somit von der Nueva Mayoría unterstützt wird, ist seit langem als Radiomoderator und Journalist bekannt. Auf ihm ruhen die Hoffnung derer, die zwar auf die marktwirtschaftliche Politik der Linken vertrauen, sich aber dennoch frischen Wind wünschen. Diesen will der charismatische Guillier bieten, der von sich selbst sagt, dass er ein Politiker des „Übergangs“ sei; von der bisherigen Politik seit dem Ende der Diktatur zu einer neuen, jungen Politik, die ihre Anfänge in der Student*innenbewegung von 2011 hat. Guillier führt die Umfragen noch vor Lagos und Insulza an und hat seine Kandidatur Mitte Januar offiziell angekündigt.

Für Chile Vamos hat sich Sebastián Piñera als Kandidat positioniert und erfreut sich momentan einer hohen Beliebtheit – in einigen Umfragen führt er sogar noch vor Guillier. Zwar wird ein endgültiger Kandidat erst in Vorwahlen bestimmt, doch gibt es bei den konservativen Parteien noch weniger erfolgsversprechende Politiker* innen als bei der Nueva Mayoría. Es scheint, als wäre der Einzige, der Piñera noch gefährlich werden könnte, er selber, denn auch er ist in einen Skandal verwickelt: Während seiner Amtszeit als Präsident 2010 investierte das Unternehmen Bancard, das seiner Familie gehört, in ein peruanisches Fischereiunternehmen. Dies ist deshalb brisant, weil genau zu diesem Zeitpunkt der Grenzverlauf zwischen Chile und Peru vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verhandelt wurde und Piñera somit über Insiderwissen verfügte. Das allein wird ihn vermutlich nicht die Kandidatur kosten, aber bis zur Wahl ist es noch lang, und schon ist die Rede von einer „Büchse der Pandora“, die sich durch diesen Fall geöffnet habe und noch mehr Verwicklungen zutage fördern könnte.

Die Verbindungen zwischen Politik und Geschäft ist nichts Neues in dem Land, das als Musterkind des Neoliberalismus gilt. Relativ neu ist die Korruption und die Verwicklung von Spitzenpolitiker* innen. Die andauernden Enthüllungen bestätigen den Bürger*innen nur einmal mehr, dass sich die Elite des Landes hauptsächlich um sich selbst kümmert. Bei vielen Themen – beispielsweise dem in der Diktatur privatisierten Rentensystem AFP, das immer wieder zu landesweiten Protesten führt (LN 507/508), oder dem unter Piñera eingeführten Fischereigesetz, das viele Fischer in die Prekarität treibt – fühlen sie sich im Stich gelassen. Auch bei Arbeitskämpfen wie den wochenlangen Streiks im Baumarkt Sodimac oder in der öffentlichen Verwaltung tritt die Politik bestenfalls als Unterstützerin der Arbeitgeberseite auf. Vielleicht ruht darauf die Popularität Guilliers, der sagt, dass „sich die Verbindung zwischen der politischen Klasse und den Menschen“ aufgelöst hat und somit ausspricht, was viele denken. Das Resultat sind entweder Proteste, die wie bei der letzten „No+AFP“-Demonstration am 4. November immer wieder in Gewalt enden, oder Resignation, wie sie sich in der niedrigen Wahlbeteiligung von lediglich 35 Prozent bei den letzten Kommunalwahlen manifestierte.

Die Ursachen für diese tiefen Gräben zwischen Gesellschaft und politischer Klasse sind weitreichend. Oft werden die wirtschaftspolitischen und sozialstaatlichen Maßnahmen während der Pinochet-Diktatur für diesen Bruch verantwortlich gemacht. Dies stimmt nur zum Teil, denn diese Maßnahmen hätten durch linke Regierungsmehrheiten seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 reformiert werden können. Vielmehr sind es die Bedingungen der Transition von Diktatur zur Demokratie selber, in denen viele die Gründe der Probleme des Landes wie Ungleichheit, gesellschaftlicher Zerfall, Urbanisierung, fehlender Gemeinsinn begründet sehen.

So spricht der Politikwissenschaftler Daniel Mansuy in seinem Mitte 2016 erschienenen Buch Nos fuimos quedando en silencio von der „Agonie der Transition“: das Erbe der Diktatur in Form des neoliberalen Marktmodells, eingerahmt in die Verfassung, führte zur Erstarrung der Politik und der Beibehaltung des Status Quo. Während die Mitte-links-Regierungen sich mit punktuellen Reformen zufrieden gaben, Markt und Politikmodell allerdings unangetastet ließen, verblieben die Mitte-rechts-Bündnisse durch das binominale Wahlsystem, welches ihnen ein proportionales Gleichgewicht garantierte, in einer passiven Opposition. Politiker*innen aller parlamentarischen Parteien profitierten davon, es herrschte ein „ewiger Konsens“. Diese Agonie ist der Grund dafür, dass die politische Elite „die Fähigkeit verloren hat, dem Gemeinwohl des Landes zu dienen“. Als möglichen Ausweg skizziert Mansuy unter anderem die Schaffung von bürgernahen „repräsentativen Institutionen“, welche „in der einen oder anderen Form eine Verbindung mit dem Alltagsleben bewahren“.

In diese Kerbe schlägt auch der Abgeordnete Gabriel Boric, wenn er sagt, dass „die heutige politische Krise ihre Wurzeln in der Trennung zwischen institutioneller Politik und der Gesellschaft“ habe. Die Verantwortung für die heutigen Probleme Chiles liege nicht nur bei der Pinochet-Diktatur, sondern auch bei den Regierungen der Transition, denn die Beibehaltung des ökonomischen und politischen Modells war eine „klare politische Entscheidung“. Es ist der 30-jährige Boric, der für die Region Magallanes in Südchile im Parlament sitzt und 2011 als einer der Anführer der Studierendenbewegung bekannt wurde, der für Hoffnung sorgt. Seine Autonome Bewegung (Movimiento Autonomista) ist in das breite Bündnis linker und unabhängiger Parteien Frente Amplio eingebettet und könnte eine der Institutionen sein, die Mansuy meint. Die Bewegung sieht sich als Alternativmodell zu dem als „Duopol“ bezeichneten Blocksystem, und mit dieser bewussten Abgrenzung sollen die Mehrheiten angesprochen werden, die sich von der bisherigen Politik ausgeschlossen fühlen. So distanziert sich Boric auch von Alejandro Guillier, mit dem ihn inhaltlich viel verbindet, dessen Unterstützung durch die Nueva Mayoría er allerdings für den falschen Weg hält. Einen eigenen Kandidaten hat das Bündnis bisher nicht ernannt, allerdings wird erwartet, dass dies in den nächsten Monaten geschieht.

Obwohl die Bewegung noch am Anfang steht, konnte sie bereits erste Erfolge erzielen: Boric’ Einzug in das Parlament 2013, die Wahl von drei Stadträt*innen in Antofagasta, Ñuñoa und Punta Arenas sowie der Sieg von Jorge Sharp bei der Bürgermeisterwahl in Valparaíso im Oktober 2016. Diese Wahl steht paradigmatisch für das Vorhaben der Bewegung: Der 31-jährige Sharp, der wie Boric aus dem äußersten Süden Chiles stammt, setzte sich überraschend deutlich mit 54 Prozent der Stimmen gegen die Kandidaten der beiden großen Parteiblöcke durch. Paradigmatisch ist auch das Motto der Kampagne: „Mit sauberen Händen holen wir Valparaíso zurück“; ein Slogan, der auf die undurchsichtigen Machenschaften der politischen Elite anspielt. Sein Vorhaben, die Ausgaben der Stadt zu senken und in notwendige Sozialmaßnahmen umzuleiten, begann er gleich nach Amtsantritt, indem er einen Vertrag für die Beleuchtung der Plaza Victoria im Zentrum der Stadt kündigte. Dieser wurde von seinem Vorgänger José Castro von der UDI für umgerechnet 385.000 Euro abgeschlossen – zu viel, urteilte die neu gewählte Stadtverwaltung und ließ einen neuen Vertrag für etwa ein Drittel der ursprünglichen Kosten abschließen. Neben dem Ziel der massiven Kostensenkungen kündigte Sharp an, mit Referenden, Versammlungen und Diskussionsveranstaltungen den Bürger*innen mehr Beteiligung am politischen Prozess zu ermöglichen. Die Erwartungen sind hoch, und es lässt sich nicht sagen, ob sich dieser Erfolg in der zweitgrößten Stadt bei den Wahlen im November wiederholen lässt. Weder Sharp noch Boric werden die über Jahrzehnte entstandenen Gräben im Land komplett schließen können, aber sie können, wie Sharp sagt, „frischen Sauerstoff, und somit ein Element der Hoffnung und der Erneuerung, in die politische Szene einführen“.

MONOKULTUR ALS BRANDBESCHLEUNIGER

„Santa Olga ist abgebrannt,” der Bürgermeister der Gemeinde Constitución ringt um Fassung, als er die Nachricht in den frühen Morgenstunden des 26. Januars im Interview mit Radio Cooperativa überbringt. Der 5000- Einwohner*innen-Ort existiert nicht mehr, 1000 Häuser sind abgebrannt. Die Vernichtung des Ortes in der südlichen Region Maule markierte einen traurigen Höhepunkt der Katastrophe, zu der Präsidentin Michelle Bachelet erklärt, dass man „etwas diesen Ausmaßes nie zuvor in der Geschichte Chiles” gesehen habe. Bereits Anfang Januar gab es vermehrt Waldbrände in verschiedenen Regionen, in der Hafenstadt Valparaiso verbrannten mehr als 200 Häuser. Doch die Nachrichten verheerender, sich schnell ausbreitender Flächenbrände kamen am 17. Januar aus Pumanque in der Region O’Higgens, 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile. Innerhalb von zwei Tagen breitete sich das Feuer mit rasender Geschwindigkeit aus und geriet außer Kontrolle. Bald standen auch weite Teile der Regionen Maule, Bío Bío und La Araucanía in Flammen.

1600 Häuser wurden zerstört, mehr als 7000 Menschen sind betroffen.

Die Medienberichte zeigten ein Inferno, das selbst tausende Feuerwehrkräfte mit schwerem Gerät und zahlreiche Löschhelikoptern angesichts immer neuer Brandherde nicht unter Kontrolle bekamen. Erfolge bei der Löschung der größten Brände erzielten schließlich der sogenannte Super Tanker aus den USA mit einem 73000-Liter-Tank sowie El Luchín – das von Russland entsendete Löschflugzeug Ilyushin Il- 76.

Die Meldungen aus Pumanque führten zu einer Welle der Solidarität: Unzählige Freiwillige halfen, in dezentralen Anlaufstellen wurden Spenden gesammelt, Autokorsos brachten Hilfe zu den betroffenen Orten, Notunterkünfte wurden gebaut. Auch die internationale Hilfe kam schnell. Argentinien, Brasilien, Venezuela, Mexiko, Peru und andere lateinamerikanische Länder entsendeten Löschbrigaden. Expert*innen, Flugzeuge und Geld kamen aus Nordamerika, Südkorea, Japan, Frankreich und Deutschland. Erst Anfang Februar gab es offiziell keine neuen Brandherde mehr, doch noch immer waren nicht alle Brände gelöscht. Ein Fläche von 400.000 Hektar, so groß wie Baden-Württemberg, verbrannte innerhalb von zwei Wochen. Über 1600 Häuser zerstörten die Flammen, elf Menschen starben. Mehr als 7000 Menschen sind von der derzeitigen Katastrophe betroffen. Am heftigsten wüteten die Feuer in den Regionen, die ohnehin schon zu den ärmsten des Landes zählen.

Viele Waldbrände werden von Menschenhand verursacht: Entweder vorsätzlich oder fahrlässig. Die Fahndung nach vermeintlichen Brandstifter* innen begann schnell. Die Polizei konnte mehr als 40 Personen verhaften. Laut Präsidentin Bachelet könne bei einigen der Festgenommenen vorsätzliche Brandstiftung nicht ausgeschlossen werden.

Auch die Elektrizitätswerke sollen eine Mitschuld an den Bränden tragen. Der Staatsanwalt der Region O’Higgins, Emiliano Arias, geht davon aus, dass sich 15 Prozent der Brände in der Region durch Defekte an Leitungen entzündeten. Er leitete ein Verfahren gegen die Compañía General de Electricidad (CGE) ein. Sechs Mitarbeiter eines Subunternehmers der CGE wurden vorläufig festgenommen, weil sie während der Reparaturen an einer Stromleitung in Pumanque die Brände entzündet haben sollen. Parallel dazu wurde ein Verfahren gegen einen leitenden Angestellten eingeleitet. Das Unternehmen stritt jegliche Verantwortung ab.

Die rechts-konservative Opposition überschüttete indes die amtierende sozialdemokratische Regierung mit Schuldzuweisungen. Ex-Präsident Sebastian Piñera, der bei den Präsidentschaftsvorwahlen für das rechts-konservative Parteienbündnisses Vamos Chile kandidieren wird, leitete mitten in der Katastrophe den Wahlkampf ein: Über Twitter kritisierte er das angeblich zu späte Handeln der Regierung, suggerierte Unfähigkeit im Katastrophenschutz und beklagte den angeblichen Ausschluss von oppositionellen Bürgermeistern bei der Katastrophenbekämpfung. Weitere Angriffe kamen von Bürgermeistern und Senatoren der Opposition. Rückendeckung kam hingegen vom früheren sozialdemokratischen Präsidenten Ricardo Lagos und sogar vom linken Abgeordneten Gabriel Boric, der twitterte: „Das ist nicht der Moment für politische Spielchen. Die Präsidentin hat meine ganze Unterstützung bei der Bekämpfung der Katastrophe.”

Trotz der demonstrativ unter Beweis gestellten Handlungsfähigkeit und den zugesagten Soforthilfen in Millionenhöhe spitzen die Brände die Regierungskrise weiter zu. Die ohnehin schon schlechten Umfragewerte von Bachelet sanken laut den wöchentlichen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Cadem nochmal um einige Prozentpunkte auf nur noch 19 Prozent Zustimmung.

Umwelt-Expert*innen, unabhängige Medien und soziale Bewegungen sehen, entgegen der institutionellen Politik und großen Medien, einen anderen Hauptgrund für die Ausbreitung der Waldbrände: Die expansive monokulturelle Bewirtschaftung mit Pinien und Eukalyptusbäumen, die native Baumarten über Jahrzehnte größtenteils verdrängt haben. Die Bäume gelten als Brandbeschleuniger, die Feuer überleben können. Zudem saugen sie Wasser auf und lassen Böden errodieren. Die durch den Klimawandel ansteigenden Temperaturen, die zunehmende Desertifikation und die hohe Brennbarkeit der Bäume führen zu sich schnell ausbreitenden großen Flächenbränden. Die Baumplantagen in Chile bestehen inzwischen zu fast 70 Prozent aus Pinien und zu über 20 Prozent aus Eukalyptusbäumen – und konzentrieren sich in den Regionen, die am stärksten von den Bränden betroffen sind. Bereits im November 2016 haben die Bewohner*innen dieser Regionen öffentlich den starken Rückgang des Wassers beklagt.

Die expansive monokulturelle Bewaldung ist im Dekret 701 gesetzlich verankert. Das 1974 während der Diktatur verabschiedete Dekret schreibt die staatliche Förderung expansiver Baumpflanzung durch steuerliche Vergünstigungen und staatliche Subventionen fest. Die größten Profiteure sind die beiden großen Unternehmensgruppen und Familienclans Matte und Angelini, die zusammen zwei Millionen Hektar Land besitzen. Eukalyptus und Pinien wachsen schnell und lassen sich zu Zellulose verwerten. Der Absatz von Zellulose ist enorm gestiegen, Chile belegt weltweit den neunten Platz. Die Hauptexporteure von Zellulose in Chile sind Angelini mit dem Tochterunternehmen Arauco und Matte mit dem Unternehmen CMPC. An der Bekämpfung der Waldbrände beteiligten sich die Unternehmen erst Ende Januar nach einem Krisentreffen mit der Präsidentin.

Allerdings formiert sich Protest gegen die Protegierung des Forstwirtschaftsmonopols. Ein breites Bündnis aus mehr als hundert Organisationen fordert die Abschaffung des Dekrets 701, ein Ende der Privilegierung der Großunternehmen und eine gründliche Untersuchung der Verantwortung der großen Forstunternehmen für die Brände. Ende Januar übergaben Sprecher* innen des Bündnisses einen offenen Brief an die Regierung, in dem auch die Untersuchung von möglichen Brandstiftungen durch die Unternehmen selbst, etwa um Versicherungssummen zu kassieren, gefordert wird. Aus dem Bündnis wird auch institutionelle Kritik an der Forstbehörde Conaf laut, die zwar dem Agrarminsterium zugeordnet, aber privatrechtlich organisiert ist. Gefordert werden dagegen staatliche Programme, die grundlegend den Schutz der Umwelt garantieren.

Präsidentin Bachelet versprach Anfang Februar per Twitter eine Gesetzesvorlage einzubringen. um eine staatliche Forstbehörde zu schaffen und die Conaf, die auch wegen fragwürdigen Auftragsvergaben kritisiert wird, zu ersetzen. Ob ihr dies in den acht Monaten bis zu den Wahlen gelingen wird, bleibt fraglich.

Die Folgen der Katastrophe und der Wiederaufbau werfen zudem weitere grundsätzliche Probleme auf. Das Zentrum für Sozioökonomische Auswirkungen von Umweltpolitik (CESIP) fordert, die Folgen der Brände hinsichtlich verschiedener sozialer Aspekte, wie zum Beispiel den Anstieg ländlicher Armut, zu analysieren um entsprechende politische Maßnahmen ergreifen zu können. „In den Gebieten, die am stärksten betroffen sind, bildet der Zugang zu natürlichen Ressourcen einen großen Teilen der sozioökonomische Lebensgrundlage,” so die CESIP. Doch kurz vor den Wahlen braucht es schnelle Versprechen: Michelle Bachelet kündigte an, Santa Olga innerhalb eines Jahres wiederaufbauen zu wollen und benannte eine Person für die Koordination. Abgesehen von der geringen Erfolgsaussicht des Unterfangens zeigt sich darin die Fortsetzung einer Politik, die ihre Aufgabe lediglich darin sieht, die Menschen mit einem „Dach über dem Kopf” zu versorgen. Diese Aufgabe wird in Chile mittels staatlicher Subventionen an private Bauunternehmen delegiert – auch dies ein Erbe der Diktatur. Die Erfahrungen aus dem Erdbeben 2010 und den weitgehend folgenlos gebliebenen Kämpfen für einen gerechten Wiederaufbau zeigen, dass diese Politik die ohnehin zunehmenden sozialen Probleme noch weiter zu verschärfen droht.

Newsletter abonnieren