
Morgens um 6 Uhr werden wir abgeholt. Etwa drei Stunden dauert die Autofahrt von Panama-Stadt nach Guna Yala, ein von den Guna selbst verwalteter, 200 Kilometer langer und 15 Kilometer breiter Streifen an der nordöstlichen Karibikküste mit vorgelagerten Inseln. Ein kleines, kurviges Sträßchen ist der einzige Landweg dorthin, es führt uns von der Panamericana zunächst zwischen Viehweiden hindurch, die Hügel hinauf und schließlich in den Dschungel hinein. Plötzlich reiht sich vor uns ein Jeep an den anderen, voll besetzt mit einigen Guna, aber vor allem Tourist*innen aus Panama, den USA und Europa. Die Kontrollstelle Nusagandi ist erreicht, die Grenzpolizei Senafront bittet die Reisenden um ihre Papiere. Zwar möchte hier niemand das Land verlassen, doch alle spüren, dass wir eine Grenze überqueren. Nach den Senafront-Beamten kassiert das Personal der Guna-Autonomiebehörde die Einreisesteuer: Ausländer*innen bezahlen 20 US-Dollar, Bürger*innen Panamas nur fünf Dollar.
Ein Indigenes Territorium, dessen Zugang von der Grenzpolizei bewacht wird – schon die Landschaft zeigt, welchen Unterschied diese Grenze macht: Vorher dominieren die Viehweiden, nach Grenzübertritt der dichte Regenwald. Wir sind gekommen, weil gerade ein guter Zeitpunkt ist, um zu erleben, wie die Guna das erreicht haben. Die Existenz der Comarca de San Blas, der Vorläufer Guna Yalas, geht zurück auf einen Aufstand der Guna gegen die panamaische Regierung im Februar 1925 – also genau vor 100 Jahren. Die Guna feiern diese Rebellion, die sie Revolution nennen, jedes Jahr. Das Besondere dabei: Die historischen Ereignisse werden in vielen Dörfern eine Woche lang von den Bewohner*innen nachgestellt. Ein Stück weit hinter der Kontrollstelle öffnet sich der Blick auf das Meer, die Autofahrt endet etwas später am Ufer auf einem großen Parkplatz mit mehreren Anlegestegen. Der kleine Hafen ist der Verkehrsknotenpunkt Guna Yalas, denn fast alle Dörfer liegen auf kleinen Inseln. Ein guter Ort, um sich die Revolutionsfeier anzusehen, ist die Insel Uggubseni, auf Spanisch Playón Chico. Sie hat auf einer Größe von acht Fußballplätzen heute etwa 2.000 Einwohner*innen und war 1925 ein Hauptschauplatz des Aufstands.
Nach drei Stunden in einem Schnellboot gelangen wir nach Uggubseni. Kaum habe ich einen Fuß auf die Anlegemauer gesetzt, da führen uns schon als Polizisten verkleidete Guna ab. Die Dorfbewohner*innen stellen gerade die Zeit vor der Rebellion nach, in der die Regierung strenge Regeln für das Leben der Guna erlassen hatte: Die traditionelle Kleidung der Guna-Frauen etwa – Nasenringe, um die Arme und Beine gewickelte Perlschnüre sowie ihre mit Molas, bunten Applikationsnähereien, verzierten Blusen – war verboten, genauso wie das Trinken von inna (ein traditionelles fermentiertes Getränk aus Zuckerrohr, Kaffee und Mais, auf spanisch chicha) und andere Bräuche. Die „Polizisten“ erklären uns in der eigens eingerichteten Polizeistation weitere Regeln, die wir soeben verletzt haben: Männer und Frauen müssen Abstand voneinander halten, kurze Röcke oder Hosen sind verboten – die schwüle Hitze hin oder her. Alles begann, als Belisario Porras 1912 Präsident wurde und es bis 1924 mit Unterbrechungen blieb. Er wollte Panama nach seiner Unabhängigkeit von Kolumbien 1903 einen und entwickeln. Dazu gehörte, die autark lebenden Guna zu „zivilisieren“. Schon die in der Kanalzone stationierten US-Soldaten entzogen sich der Souveränität, Kultur und Landessprache Panamas. Eine weitere solche Verletzung des Nationalstolzes – noch dazu durch aus seiner Sicht „halbwilde Barbaren“ – wollte Porras nicht akzeptieren. Sein Ziel war daher die Assimilierung der Guna und Vernichtung ihrer Kultur − ein Ethnozid.
Die Regierung nutzte aus, dass die Guna zu dieser Zeit unter Eindringlingen litten, die Kokosnüsse, Kautschuk und Schildkröten wilderten. In der Hoffnung auf Schutz akzeptierten sie auf mehreren Inseln die Einrichtung von Polizeistationen und Schulen. Anstatt die Guna zu schützen, begann die Polizei, einen „zivilisierten” Lebensstil durchzusetzen. Konflikte und handfeste Auseinandersetzungen nahmen zu, bei denen über die Jahre sowohl einige Guna als auch Polizisten starben. Schließlich wurde den Guna verboten, sich frei zwischen den Inseln zu bewegen. Die Polizei richtete Tanzclubs ein, um die landestypische Kultur zu etablieren und Mischehen von den wenigen vor Ort lebenden Panamaer*innen, genannt panameños, mit Guna-Frauen zu fördern, was von den Guna bis dahin strikt abgelehnt wurde.
Wer sich den Anordnungen widersetzte, erhielt Geldstrafen, wurde öffentlich erniedrigt oder ins Gefängnis gesteckt, zuweilen misshandelt. Die Regierung gewann so allmählich die Kontrolle über die Inseln. Gleichzeitig vergab sie Konzessionen für Bananenplantagen auf Guna-Land. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die Guna wie zuvor so viele Indigene Gemeinschaften Abya Yalas ein Opfer von Landraub, kultureller Assimilierung, Diskriminierung und Unterdrückung sein und wie Migrant*innen auf ihrem eigenen Land leben würden. Im Uggubseni der Gegenwart hängt an vielen der meist einfachen Hütten und Häuser im Dorf ein Zeitplan für alle Feierlichkeiten und nachgespielten Szenen. Die ersten drei Tage wache ich morgens bei Dauerregen auf, auf vielen Wegen kann man sich nur mühsam zwischen riesigen Pfützen fortbewegen. Das bringt den Zeitplan durcheinander, fast alles beginnt mit Verspätung – die Guna sind zwar an viel Regen gewöhnt, aber nicht während der Trockenzeit im Februar. Zum Glück hört er jedes Mal nach ein paar Stunden auf. Auf dem Dorfplatz schauen wir uns gemeinsam mit Einheimischen und Tourist*innen eine Szene an: Als Dorfälteste verkleidete Jugendliche bereiten sich auf eine Trinkzeremonie vor und kosten von der inna. Dann rennen andere im Polizistenkostüm herbei, brüllen, das sei nur etwas für Wilde, und zerstören die Tonkrüge mit inna. Jeden Tag gibt es ein oder zwei Szenen zu sehen. Ein anderes Mal kommen Guna-Männer mit Bananen über den Schultern von ihren Feldern, ein Medizinmann bringt in einem Korb Heilpflanzen für die Kranken.
Polizisten nehmen ihnen die Sachen weg und werfen sie auf den Boden. Oder: Eine Gruppe Jungen und Mädchen tanzt den traditionellen Guna-Tanz gammu burwi, Polizisten kommen und treiben sie auseinander. Danach zwingen sie die Guna-Frauen, mit ihnen Merengue oder Vallenato zu tanzen. Der Medizinmann Horacio Arosemena schaut sich das Spektakel auch an, er meint: „Die Guna-Revolution ist sehr wichtig, denn unsere Großväter haben für unser Recht auf Würde und Respekt gekämpft. Wir wissen die Natur, unsere Traditionen und unsere Kultur zu bewahren, die die Kolonisatoren zerstören wollten.“

Später sprechen der saila, der Dorfälteste von Uggubseni, und andere zur versammelten Menge. Dabei wiederholen sie immer wieder, wie wichtig es sei, nicht zu vergessen und für die eigene Identität zu kämpfen. Sicher auch, weil viele junge Guna heute lieber in die Stadt ziehen und sich für die Tradition wenig interessieren – für die Feiern im Februar kommen aber die meisten zurück auf die Insel ihrer Familie.
Als im Jahr 1924 die Situation für die Guna immer unerträglicher wurde, kam Richard Marsh nach Guna Yala, ein ehemaliger US-Diplomat, Unternehmer und Abenteurer. Er war auf der Suche nach „weißen Indianern“. Von den unter den Guna relativ häufig vorkommenden Menschen mit Albinismus war Marsh fasziniert und hielt sie den panameños gegenüber für höherwertig. Die wichtigsten Anführer der Guna, Simral Colman und Nele Kantule, erkannten in ihm eine Chance auf Hilfe. Marsh beschloss, ihren Kampf gegen Unterdrückung zu unterstützen und hoffte auf ein Eingreifen der USA.
„Ohne die Rebellion wäre hier heute alles voll mit Häusern und Fabriken”
Ich habe vor vielen Jahren einen Freiwilligendienst auf Uggubseni gemacht, viele Dorfbewohner*innen kennen mich noch. Lionel Brenes, der mit 120 Erwachsenen und 160 Kindern aus dem Dorf die nachgestellten Szenen plant und probt, schlägt mir daher vor, den Part von Richard Marsh zu spielen. An dem Tag, als die Szene mit ihm dran ist, bekomme ich einen Hut, eine große Jacke und eine Zigarre als Kostüm. Auf dem Dorfplatz, der von einer großen Menschenmenge umringt ist, verspreche ich den versammelten sailas, ihnen zu helfen. Für die Guna ist Marsh ein wichtiger Unterstützer. Von den rassistischen Motiven seiner Hilfe lese ich erst später.
Lionel organisiert dieses Jahr zum ersten Mal die Performances. Er zeigt zu den sattgrünen Hügeln des nahen Festlands und sagt: „Stellen wir uns vor, wie das heute aussähe, wenn es die Rebellion nicht gegeben hätte: Es wäre alles voll mit Häusern und Fabriken! Meine Vorfahren haben unsere Kultur verteidigt, jetzt ist es an mir, den Menschen zu zeigen, was vor 100 Jahren passiert ist. Denn die Mehrheit der jungen Guna ist in letzter Zeit dabei, ihre Kultur zu verlieren.”
Nach vergeblichen diplomatischen Bemühungen in den USA verfasste Marsh Mitte Februar 1925 im Namen der Guna eine Unabhängigkeitserklärung. Der Polizeichef Guna Yalas kündigte einen Angriff auf die Rebelleninseln an, sollten sie ihm Marsh nicht ausliefern. Daraufhin töteten die Männer von Colman und Kantule auf Uggubseni am 22. Februar zwei anwesende Polizisten und lockten anschließend auch die von der Nachbarinsel aus eintreffende Verstärkung in einen Hinterhalt. Ähnliches geschah danach noch in zwei anderen Dörfern. Von weiteren Inseln flohen die Polizisten, als sie von der Rebellion hörten. Insgesamt töteten die Guna zwischen 20 und 30 Menschen.

Die Szenen des Aufstands sind der Höhepunkt der Festwoche – nun wird es besonders dramatisch. Hunderte Jungen und Männer rennen ganz in Rot gekleidet, mit rot bemalten Gesichtern, weißen Stirnbändern und Gewehrattrappen aus Holz die Insel auf und ab und rufen: „Via waga? Via wai nade?“ („Wo ist der panameño? Wo ist er hin?“). Dann hört man Platzpatronen, Schüsse fallen. Schließlich liegen die Polizisten tot auf der Erde, blutgetränkt von roter Farbe. Die obersten Repräsentanten Guna Yalas, saila dummad genannt, halten eine Rede. Am Ende gibt es einen Umzug über die ganze Insel. Saila dummad Adriano Perez sagt später in einem Statement für die LN: „Es liegt heute an unserer Jugend, den Kampfgeist unserer Vorfahren weiterzuführen, bevor Unternehmen oder der Staat erneut hier eindringen. Von der Regierung erwarte ich, dass sie der ILO-Konvention 169 über die Rechte der Indigenen Völker beitritt und die Notwendigkeit der freien, vorherigen und informierten Zustimmung zu Projekten respektiert.“ Panama ist eines der wenigen Länder Abya Yalas, das noch nicht beigetreten ist.
Als Reaktion auf den Aufstand schickte Panama damals ein Schiff mit 160 schwer bewaffneten Polizisten nach Guna Yala (eine Armee hat das Land nicht). Wegen der Verwicklung von Marsh schaltete sich der US-Botschafter John Glover South ein und kam mit einem US-Kriegsschiff angereist, um sich über die Umstände des Aufstands ein Bild zu machen. Die Regierung Panamas rief in Guna Yala das Kriegsrecht aus und erwog, zurückzuschlagen. Sie hatte jedoch keine geeigneten Boote für eine Landung auf den Inseln und überschätzte zudem die Munitionsvorräte der Guna. Der US-Botschafter gelangte zu der Überzeugung, dass die Beschwerden der Guna begründet waren und vermittelte eine friedliche Lösung des Konflikts: Am 4. März unterzeichneten Vertreter von Guna und Regierung auf dem US-Kriegsschiff einen Friedensvertrag. Die Guna erkannten darin die Souveränität Panamas an, die Regierung dagegen versicherte, die Traditionen der Guna künftig zu respektieren und sich nicht mehr einzumischen.
Nach weiteren Verhandlungen wurde 1930 ein Gesetz verabschiedet, das den Guna auch das Recht auf ihr Land zusprach. Im Jahr 1938 wurde die Comarca de San Blas geschaffen und das heutige politische System der Guna festgelegt, mit mehreren saila dummad an der Spitze der Autonomieregierung Congreso General Guna und Sekretariaten, etwa für Territorialverteidigung und Tourismus, und halbjährlich stattfindenden Treffen von Delegierten aller Dörfer (LN 533).
Während Uggubseni am Abend im großen Zeremonienhaus mit inna ausgelassen den Ausklang der Feierlichkeiten begeht, denke ich: Die Guna haben damals mutig gekämpft, aber Glück gehabt. Simral Colman und Nele Kantule hätten den Aufstand auch ohne die Beteiligung von Richard Marsh, mit einem weniger zugeneigten US-Botschafter oder gegenüber besser ausgerüsteten Polizisten unternommen, er hätte aber leicht anders ausgehen können.
Die heutige Regierung gibt sich geläutert. Präsident José Mulino schickte immerhin seinen Umweltminister Juan Navarro nach Uggubseni, der beim Festakt betonte: „Indem wir heute die Geschichte wieder aufleben lassen, erkennen wir die Wichtigkeit des damaligen Kampfes für die Unabhängigkeit, Autonomie, Würde und den Respekt für alle Völker Panamas. Möge sich diese blutige, gewaltsame Lektion, die wir vor 100 Jahren lernen mussten, nie wiederholen, damit wir uns in Zukunft stets friedlich um die Verständigung und Entwicklung unserer Völker bemühen können.“
Die Guna hätten auch ohne Beteiligung der USA rebelliert
Bemerkenswerte Worte, doch in der Praxis weckt ein so großes Territorium, das rohstoffreich und noch dazu eine Goldgrube für den Tourismus ist, immer wieder wirtschaftliche Begehrlichkeiten bei Regierung und Unternehmen, was zu Konflikten führt. Bis heute dürfen nur Guna dort Land besitzen, die Regierung hat aber schon versucht, die Zulassung fremden Eigentums zu erreichen. Im Jahr 2016 zog sie die Rechtmäßigkeit der von den Guna erhobenen Tourismussteuern in Zweifel, später wollte sie eine Mehrwertsteuer in Guna Yala einführen. Bisher alles vergebens, denn die Guna können sich durch ihre Autonomie und eine gewisse räumliche Isolierung offenbar besser gegen äußere Bedrohungen wehren als viele andere Indigene Gemeinschaften. Hoffentlich bleibt es so, da es Eindringlinge, die es auf Land, Holz oder Bodenschätze abgesehen haben, gerade an den Grenzen Guna Yalas immer wieder gibt.
Nach einer Woche verlassen wir Guna Yala mit einem kleinen Flugzeug. Der Blick von oben über Inseln und ausgedehnte Wälder macht mir noch einmal begreiflich, was die Guna durch ihre Rebellion erreicht haben, bevor wieder nur Viehweiden und schließlich die Wolkenkratzer von Panama-Stadt unter uns liegen.