Cecilia Méndez Gastelumendi ist leitende Professorin am Fachbereich für Geschichte an der University of California-Santa Barbara. Während der Jahre der politischen Gewalt (1980-2000) lehrte und forschte sie ein Jahr lang an der Nationalen Universität von San Cristóbal de Huamanga in Ayacucho, einem Zentrum des bewaffneten Konflikts. Seither publizierte sie umfangreich zur sozialen und politischen Geschichte der Republik Peru. Ihr Buch La república plebeya. Huanta y la formación del Estado peruano, 1820-1850 (2005) gewann den Howard F. Cline Preis für das „beste Buch über indigene Geschichte in Lateinamerika“. Zudem schreibt sie regelmäßig über tagespolitische Themen in der Kolumne „Chola Soy“ in der peruanischen Tageszeitschrift La República.
(Foto: privat)
Peru ist eines der letzten Länder in Lateinamerika, das seine 200-jährige Unabhängigkeit von der Kolonialmacht feiert. Warum?
Man könnte meinen, es gäbe ein objektives Datum für Unabhängigkeitsfeiern. Aber die Wahl des Termins ist eigentlich ziemlich subjektiv. Sie zeigt, was eine Gesellschaft wertschätzen will und welche Erinnerungen langfristig mehr Gewicht haben. Peru war nicht das letzte Land, das unabhängig wurde. Aber hier wird ein späteres Datum gefeiert als in anderen Ländern, nämlich die Unabhängigkeitserklärung von San Martín in Lima am 28. Juli 1821. Man hat sich entschieden, frühere und radikalere Revolten nicht mit in die Erzählung aufzunehmen. In Peru werde an keine Schlacht erinnert, sondern an ein friedlicheres Ereignis, ist die Erklärung.
Wie hat sich diese „offizielle Geschichte der Kreolen“, wie Sie es einmal genannt haben, durchgesetzt? Eine Erzählung, die indigene Aufstände auslässt…
Die Peruaner haben ihre Geschichte oftmals durch die Darstellungen derer kennengelernt, die Unabhängigkeitsbewegungen unterdrückt haben. Eine konkrete Geschichte zur Erklärung: Bereits vor den Kämpfen um die Unabhängigkeit gab es für die Eliten sehr traumatische Ereignisse. Schon die Erinnerung an den Aufstand von Túpac Amaru im Jahr 1780 hat einen langen Schatten geworfen.
Der Aufstand von Cuzco im Jahr 1814 war dann der erste, der den Bruch mit Spanien definitiv proklamierte und die Kolonialbehörden für etwa sechs Monate entmachtete. Der Militär, der damals für die Kontrolle von Cuzco zuständig war, war ein spanischer Beamter namens Joseph Pardo Ribadeneira. Er wurde von den Rebellen gefangen genommen und in den Kerker geworfen. Später schrieb er in einem Bericht an den Vizekönig, die Rebellen (einschließlich der indios und Mestizen) seien Delinquenten – ungebildet und ohne soziales Ansehen. Diese Erzählung von den Aufständischen als Straftätern und eben nicht als Protagonisten eines Befreiungsepos wurde zu einer der meistzitierten Quellen dieser Geschichte.
Der Sohn von Ribadeneira, Felipe Pardo y Aliaga, war damals acht Jahre alt. Er erlebte den Aufstand als Demütigung seines Vaters. Später fiel es ihm schwer, diesen als Akt der Befreiung zu betrachten. Pardo y Aliaga wurde später ein ultrakonservativer Politiker – und sein Sohn wiederum der erste zivile Präsident von Peru: Manuel Pardo y Lavalle. Auch dessen Sohn wurde Präsident.
Gab es Versuche, ein anderes Datum in den Mittelpunkt zu stellen?
Wir haben nicht immer dem Jahr 1821 gedacht. Zunächst galt das Jahr 1814 als Beginn der Unabhängigkeit und im ländlichen Raum als „erstes Jahr der Freiheit“.
Doch schon ab den 1840ern setzte sich 1821 als hegemoniales Narrativ durch. Davor hatte es mehr Vielfalt gegeben. Unter der Regierung Velascos (1968-1975) wurde erstmals des Aufstands von Túpac Amaru im Jahr 1780 als Beginn der Unabhängigkeit erinnert. Doch obwohl Túpac Amaru zum Helden erhoben wurde, eliminierte Velasco die kreolische Erzählung nicht vollständig. Er entfernte San Martín nie, sondern integrierte indigene Elemente in die kreolische Erzählung. Das Interessante ist, dass diese indigenen Elemente ab den 1990er und 2000er Jahren aus der staatlichen Ikonographie ausgelassen wurden, etwa auf Münzen oder Statuen. Scheinbar wurde es gefährlich, sich an diese Revolutionen zu erinnern. Nach dem Leuchtenden Pfad (peruanische Guerillaorganisation, Anm. d. Red.) wurde es zum Tabu, weil es diesen mit den Revolutionen in Verbindung gebracht hätte.
Gab es Momente, in denen der peruanische Staat die indigenen und ländlichen Sektoren stärker einbezog?
In meinem Buch La República plebeya argumentiere ich, dass die Heerführer während und nach der Unabhängigkeit nicht in der Lage gewesen wären, einen Staat aufzubauen, wenn sie nicht die Unterstützung der bäuerlichen Basis gehabt hätten. Im 20. Jahrhunderts gab es dann zwei wichtige Momente der Staatsreform, in denen ländliche und indigene Sektoren wichtige Rechte und Anerkennung erhielte: das sogenannte Oncenio de Leguía (1919-1930) und die „revolutionäre Regierung“ von Velasco (1968-1975). Beide waren autoritäre Regierungen.
Die Verfassung von Leguía von 1920 erkannte erstmals die Existenz indigener Gemeinschaften und kommunalen Landes an. Es wurde ein Register eingeführt, um indigene Gemeinschaften als juristische Personen, nicht als individuelle Bürger, zu verzeichnen und anzuerkennen. Unter der Regierung von Velasco wurden diese „indigenen Gemeinden“ mittels des Agrarreformdekrets von 1969 in „bäuerliche Gemeinden“ umgewandelt.
Paradox ist, dass die Republik zur Ausweitung der Staatsbürgerschaft zu differenzierenden Rechten zurückkehren musste. Denn die Verfassung von Leguía ließ sich von den Gesetzen der Kolonialzeit inspirieren. Indigene, Mestizen und Spanier bekamen differenzierende Rechte. Die Republik schaffte diese rechtlichen Unterschiede ab. Die Rechtssprache der Republik und des peruanischen Staates war eine egalitäre Sprache.
Wann änderte sich das?
Unter Augusto Leguía. Der peruanische Staat eignete sich die Vorstellung an, er sei der „Schutzherr der Indianer“. So gründete Leguía in seiner Regierung das „Patronat der indigenen Rasse“. Es war eine sehr paternalistische Gesetzgebung, die in die Sprache der Eugenik verpackt war. Verschiedenartigkeit wurde zu Minderwertigkeit. Mit einer Agrarreform unter Präsident Velasco wurden diese Rechte ausgeweitet und stärker anerkannt – ein Prozess, der jenem von Leguía ähnelte, aber größere soziale Auswirkungen hatte.
Heute besteht das große Paradox der Republik darin, dass die beiden Momente der Ausweitung der Staatsbürgerschaft für die ländliche Gesellschaft und der Anerkennung der Rechte für die indigene und bäuerliche Bevölkerung durch Diktaturen stattfanden.
Nun wurde mit Pedro Castillo ein Mann aus den historisch marginalisierten Sektoren an die Spitze des peruanischen Staats gewählt, was bedeutet das?
Heute befinden wir uns in einem neuen, einem historischen Moment. Wenn Pedro Castillo als Präsident gelingt, die angekündigten Veränderungen umzusetzen, in die große Erwartungen gesetzt werden, dann sind tiefgreifende Veränderungen möglich. Der bedeutendste Aspekt dieser möglichen Veränderungen wäre, dass sie durch das Wahlrecht erfolgten. Die Verbreitung des Personalausweises – das Dokument, mit dem man zur Wahl berechtigt ist – ist in den historisch marginalisierten Sektoren heute wahrscheinlich größer als je zuvor. Und die Tatsache, dass jemand zum Präsidenten gewählt wurde, der den Eliten, die das Land historisch regiert haben, völlig fremd ist, ist an sich schon ein bedeutsamer Bruch mit der Vergangenheit.
Gleichzeitig tritt die Ultrarechte an die Öffentlichkeit und beansprucht Symbole des spanischen Vizekönigreichs für sich. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Ich halte das für vollkommen nachvollziehbar. Denn je radikaler die Demokratie ist, desto radikaler wird auch ihre Ablehnung sein. Deutschland hat das in der Entstehung des National-*sozialismus erlebt. Und auch nach 2015 gab es einen Aufschwung faschistischer und neonazistischer Bewegungen in Deutschland. In Peru passiert etwas Ähnliches. Doch in diesem Fall ist die Demokratie schwerer zu bekämpfen, weil die Abgabe ihrer Stimme das Einzige war, was die Leute getan haben.
Und wer sind diejenigen, die heute gegen diese Ausweitung der Demokratie auf die Straße gehen?
In Peru vermischen sich da verschiedene Dinge. In der Ultra-Reaktion gegen Castillo gibt es einen Schulterschluss zwischen Ideologie und Mafia-Interessen. Wir sehen diesen Widerstand im Kongress: Ein Großteil der Gesetzgebung dient der Verteidigung bestimmter Mafia- und Interessengruppen, die mit der „Partei“ Fuerza Popular verbündet sind, aber auch Verbindungen zu anderen Parteien haben. Der Staatsanwalt hat Keiko Fujimori beschuldigt, Kopf einer kriminellen Organisation zu sein und die Partei lediglich als Fassade zu nutzen. All dies kommt mit der rassistischen Ablehnung von Castillo zusammen. Und einige, die Castillo ablehnen, haben nichts dagegen, gleichzeitig die Mafia zu unterstützen.
Wer heute die Flagge mit dem Kreuz von Burgund, das Symbol des spanischen Reiches zu seiner Blütezeit, hisst, gehört nicht unbedingt zur Mafia der Parteien, wird aber in gewisser Weise für sie instrumentalisiert. Wenn Prozesse der Demokratisierung stattfinden, muss die Rechte über die Grenzen des Legalen hinausgehen, um ihre Interessen zu verteidigen. Deshalb beharrt der Fujimorismus so auf dem Vorwurf des „Wahlbetrugs“, ohne einen einzigen Beweis vorlegen zu können. Sie behaupten, die „Demokratie“ zu verteidigen, indem sie sich Castillos angeblichem „Kommunismus“ entgegenstellen, aber ihre Taten beweisen das Gegenteil.
Das Wichtigste ist hier die Verbindung zwischen ultrarechten Ideologien und einer historisch anti-indigenen Gewalt, die auch auf den Symbolen der Pro-Keiko-Märsche dargestellt wird: „Castillo, Lima lehnt dich ab“ – mit der Zeichnung eines weißen Mannes, der einen Bauern tritt, der einen Hut trägt wie Castillo. Ich nenne es den „den gamonalen Tritt“. Die gamonale Kultur beschreibt nach Alberto Flores Galindo die offene physische und ökonomische Gewalt gegen Bauern und Indigene. Seit dem 19. Jahrhundert verbündete sich der Staat mit den Interessen der kreolischen und mestizischen Kaufleute und Landbesitzer, um den Indigenen Ressourcen wegzunehmen: Sie verloren ihr Land, die Warenmärkte wurden monopolisiert. Heute besteht die Gewalt auch darin, die Identität ganz Limas für sich in Anspruch zu nehmen. Dabei gibt es viele Limas. Und fast zwei Millionen Menschen im Stadtgebiet von Lima haben für Pedro Castillo gestimmt. Wenn die Rechten sagen „Lima lehnt dich ab“, dann meinen sie nur ein Lima – nämlich jenes von San Isidro, dem reichsten Viertel.
Welche politischen Forderungen der Unabhängigkeit Perus bleiben bis heute unerfüllt?
Die wichtigste wäre die nach Gleichheit vor dem Gesetz. Dieses Grundprinzip, dass jeder Mensch das Recht auf einen Namen und eine würdige Behandlung hat und darauf, respektiert zu werden. Dieses Recht steht seit 1823 als unveräußerliche Verfassungsgarantie in allen elf Verfassungen des Landes. Und obwohl sich viel geändert hat, wurde dieses Recht am meisten mit Füßen getreten.
Das haben wir bei diesen Wahlen erneut gesehen. Menschen aus ländlichen Gebieten wurden beschuldigt, Unterschriften zu fälschen. Sie hätten, weil sie aus dem Hochland kommen – was ein Euphemismus für „Bauern“ ist – keine Ahnung. Ihre Namen und Unterschriften wurden öffentlich zur Schau gestellt, sie wurden beschuldigt, falsche Identitäten zu verwenden. Es war, als ob es sie nicht gäbe, als ob sie unsichtbar wären. Sie wurden schlimmer Vergehen beschuldigt.
Das ist ein Angriff auf das Recht auf einen Namen, auf das Recht, respektiert zu werden. Es gibt also grundlegende Aspekte, die mit der Anerkennung der Staatsbürgerschaft und der Menschlichkeit des Anderen zu tun haben und die in der kolonialen Gesetzgebung nicht enthalten waren. Erst die Republik hat sie uns gebracht. Aber sie sind nach wie vor nicht umgesetzt worden.