OASE IN FLAMMEN

Foto: Fabian Grieger

Der Hügel, wo einst mehr als 300 Häuser standen, ist zwei Tage nach dem Feuer komplett von schwarzer Asche bedeckt. Die Ruinen der wenigen Häuser, die aus Backstein gebaut waren, ragen hervor. Die allermeisten Häuser waren aus Holz. Wo sie einmal standen, lässt sich nur noch erahnen. Ein Hund streunt über die verkohlten Reste, wühlt mit der Schnauze in der verbrannten Erde. Ein verbeulter Topf lugt unter den Trümmern hervor. Daneben spielen Kinder, ein paar Jungs raufen vor den gelangweilten Augen der Polizei. Am Freitag zog das Inferno über die Siedlung El Oasis (Die Oase) im Stadtteil Moravia im Herzen von Medellín hinweg. Seitdem haben Militärpolizisten mit Maschinengewehren das Gelände umstellt. Viel zu holen gibt es hier nicht. Niemand soll auf den Hang am Stadthügel zurückkehren oder gar damit beginnen, die Häuser wieder aufzubauen. Das diene der Sicherheit der einstigen Bewohner*innen, erklärt einer der Polizisten.

Etwas weiter unten am Hang steht Cristián, den diese Aufforderung recht wenig interessiert. Der 33-Jährige trägt ein gelbes T-Shirt, Jeans, Turnschuhe und eine Basecap mit dem Schirm nach hinten. Sonst ist ihm auch nichts geblieben. „Dahinten stand mein Haus“, sagt er und deutet auf eine Stelle in den verkohlten Trümmern. Als am 18. August gegen 10 Uhr morgens das Feuer ausbrach, war Cristián gerade in der Universität. Als er von dem Feuer hörte, rannte er zu seinem nur wenige Minuten entfernten Zuhause. Wie war es, als das Feuer ausbrach? Cristían reißt die Arme nach oben und wischt in einer ausholenden Bewegung von rechts nach links und ruft „Wusch.“ Man kann sich vorstellen, wie schnell die Flammen von einem Holzhaus auf das andere übergriffen. „Kennst du ,Fast and Furious’?“, fragt der Student. „Das Wichtigste ist immer die Familie. Das allererste, was zählt. Und so hab ich’s auch gemacht. Ich bin raus und hab allen anderen geholfen. Meine Familie – das sind all diese Leute hier.“

Mit „Mi gente“ (etwa: Meine Leute) drücken Kolumbianer*innen ihre Identifikation zu ihren Mitmenschen aus. Cristiáns Augen leuchten, wenn er davon erzählt, dass er zwar all seinen Besitz verloren, aber seine Gemeinschaft behalten hat. Tatsächlich ist beim Großbrand niemand gestorben. Nach offiziellen Zahlen sind jetzt 323 Familien obdachlos. Die Stadtverwaltung brachte viele Familien in einer Schule unter – vor allem jene, die in den Flammen all ihren Besitz verloren haben. Dort gibt es Verpflegung und Kulturangebote. Sogar eine Theatergruppe hat schon vorbei geschaut. Andere Bewohner*innen, die noch einige Sachen retten konnten und in der Nähe des Hügels El Oasis bleiben wollten, schlafen seitdem unter der Brücke zwischen zwei Hauptstraßen am Fuß des Hügels.

Medellín ist in Viertel aufgeteilt, von denen jedes einen eigenen Mikrokosmos bildet.

So auch Cristían. Er hat einen großen Topf mit Suppe aufgesetzt – für alle, die essen wollen. Auf dem verkohlten Boden glüht ein Feuer, dass den Topf zum Kochen bringt. Es sieht so aus, als steige aus der Asche wieder Rauch auf. „Es geht weiter“, sagt Cristian beim Anblick der Suppe und passend zur Situation seiner Nachbarschaft. Er ist zuversichtlich, dass sie bald wieder als Gemeinschaft ein Dach über dem Kopf haben werden.
Cristían ist einer der líderes sociales (soziale Führungspersönlichkeiten), die sich durch besonderes Engagement hervorgetan haben. Medellín ist in Viertel aufgeteilt, von denen jedes einen eigenen Mikrokosmos bildet. Jedes dieser Viertel – ob arm oder reich – hat seine líderes. Sie fungieren als Scharnier zwischen Stadtverwaltung, Polizei, Militär, Drogenkartellen und den Bewohner*innen. Regelmäßig setzen sie sich zusammen und diskutieren über die Probleme des Viertels. Als líder wird man nicht geboren. Die Gemeinschaft macht einen dazu. Als die Flammen in Moravia um sich griffen, entstanden bei den Rettungsaktionen neue líderes. Jene Menschen, die im Moment der Gefahr Verantwortung übernahmen.

Nun haben sie einen besonders schweren Konflikt zu lösen, der schon seit Jahren schwelt: Die Stadtverwaltung will in einem „Entwicklungsplan“ dem zentral gelegenen Stadtteil Moravia ein neues Gesicht geben. Die informellen, von den Bewohner*innen errichteten Siedlungen, wie das abgebrannte El Oasis, sollen weg. Grüne Park- und Naherholungsflächen sollen dort entstehen. Die Begründung: Die Siedlungen befinden sich in sogenannten „Zonen mit hohem Risiko“. Die Gefahr von Erdrutschen und der vergiftete Boden machten die Flächen unbewohnbar. Die Bewohner*innen des benachbarten Hügels El Morro mussten bereits gehen. Dieser war einst eine der größten Müllkippen der Stadt. Recycler waren die ersten, die sich dort ansiedelten. Wie El Oasis bestand auch El Morro hauptsächlich aus Holzhäusern. Strom und Wasser stellte die staatliche Versorgungsfirma nicht zur Verfügung, also zapften die Bewohner*innen die Leitungen an. Auch in El Morro hat es regelmäßig gebrannt. Mittlerweile ist der einst dicht bebaute Hügel frei von Häusern und mit grünen Feldern bedeckt. Auf der Spitze steht eine Skulptur. Die Bewohner*innen wurden umgesiedelt. Einige willigten bei der Aussicht auf eine legale Wohnung in einem der Außenbezirke Medellíns ein. Die anderen wurden schließlich durch die Polizei zwangsumgesiedelt. Die neuen Hochhauswohnungen boten zwar Legalität und modernere Ausstattung, das Heimatviertel, die Nachbarschaft und Familie waren aber weit weg. Einige kamen zurück und bauten wieder am Rande des neu gestalteten Gartens auf dem alten Hügel, andere siedelten sich am benachbarten Hügel El Oasis an.

Nach Entwürfen, die die staatliche Universidad Nacional de Colombia im Auftrag der Stadtverwaltung entwickelt hat, sollen große Teile Moravias verändert werden. Wo die höchsten Häuser derzeit drei Stockwerke haben, sind auf den Entwürfen Hochhäuser eingezeichnet – Teil eines geplanten „Distrikt Innovation“. Die Häuser sollen mit dickem Zementfundament gegen die Giftstoffe auf der ehemaligen Müllhalde gesichert sein. Der Hügel El Oasis soll ein weiterer Park und die Menschen umgesiedelt werden.

Es wäre ein weiterer Schritt der großen Runderneuerung, die sich die ehemalige Drogenhauptstadt Medellín auf die Fahnen schreibt. 2012 wurde sie vom Wall Street Journal in einem oft bemühten Ranking zur innovativsten Stadt der Welt ernannt. Seit dem Tod des Kokainkönigs Pablo Escobar und den Friedensprozessen mit der linken Guerillaorganisation FARC sowie den rechten Paramilitärs ist die Mordrate drastisch gesunken. Stattdessen hat Medellín heute eines der besten Nahverkehrssysteme Lateinamerikas, das das Zentrum mit der Peripherie verbindet. In den letzten Jahren wurden in großem Stile öffentliche Sport- und Kulturangebote gefördert. Die Dichte von Sozialprojekten ist beeindruckend. In vielen Kreisen gilt Medellín als Vorzeigemetropole Lateinamerikas.

„Leute, die bezahlen, kommen. Leute, die nicht bezahlen, gehen“

Carlos, Einwohner von Moravia, 60 Jahre, zerzauste Haare unter einer Adidas-Mütze, Falten im Gesicht, auf eine Krücke gelehnt, gehört nicht zu diesen Kreisen. „Leute, die bezahlen, kommen. Leute, die nicht bezahlen, gehen“ , so beschreibt Carlos diesen Prozess. Auch er ist líder social, fühlt sich verantwortlich für die Bedürfnisse der Nachbarschaft. An diesen gehe die Planung der Stadt aber vorbei, beklagt Carlos. „Ein Zuhause mit Würde baut man mit der Hand und ohne Erlaubnis“, sagt Carlos. Dieser Satz steht auch auf einem Plakat, dass die Bewohner*innen über den verbrannten Trümmern aufgehängt haben. Moravia hat sich seinen Ruf als widerständiges Viertel über Jahrzehnte erkämpft. Carlos sitzt auf einem Sessel vor einem der Zelte, in dem viele Menschen nun übernachten, während er die Geschichte seines Viertels erzählt. Ständig kommen Leute und fragen Carlos, bitten ihn um Hilfe. Manche bleiben stehen, nicken und stimmen ihm zu. „Moravia haben Menschen gegründet, die vor den bewaffneten Konflikten im Land geflohen sind.“ Später flohen auch Menschen aus anderen Teilen Medellíns an den Rand der ehemaligen Müllkippe.

Moravia entwickelte sich zu einem der dichtbesiedeltsten Viertel Lateinamerikas. Es dauerte nicht lange, bis der bewaffnete Konflikt auch nach Moravia kam. Zunächst kontrollierten Guerillas die Viertel: ELN und M-19 hinterließen ihre Spuren – auch im Revolutionsbewusstsein der Bewohner*innen. Dann kamen die Drogenbanden Pablo Escobars. Der Patron stattete als Teil seines Wahlkampfs in den 80ern den Fußballplatz des Viertels mit Flutlichtmasten aus, baute kostenlos Häuser für die Bewohner*innen. Noch heute tragen auffällig viele Menschen in Moravia ein T-Shirt mit dem Konterfei des Drogenbosses. Auf Escobar folgte die FARC, darauf die rechten Paramilitärs – und ihre Säuberungsaktionen im Viertel mit dem Ruf des Widerstands. Carlos zeigt auf seinen verletzten Fuß: „Das waren die Paramilitärs.“ Ein Mädchen kommt vorbei, setzt sich auf die Sesselkante, auf der Carlos sitzt. Stolz sagt er: „Schau, sie hat eine Nähmaschine zu Hause und verdient damit ihr Geld. Wir können uns selber helfen.“ In all den Jahrzehnten hielt der Staat Distanz zu Moravia. Heute ist es das Drogenkartell Oficina de Envigado, das nach Aussage von Carlos auf der Straße das Sagen hat.

Auch der 18-jährige Esteban misstraut dem plötzlichen Engagement des Staates. Er ist Teil einer Gruppe von Studierenden, die sich um die gesundheitliche Versorgung der Feueropfer kümmert. Den Brand hat Esteban von seinem Haus aus gesehen. „Wir haben uns hier schon immer gegenseitig geholfen.“ Zwei Tage später steht er bei den Menschen unter der Brücke. Sein gebügeltes, in die Hose gestecktes Hend, verrät, dass er nicht von hier ist.

Bereits 2007 hatte es auf dem Hügel El Oasis gebrannt. Doch die Bewohner*innen waren zurückgekehrt. Dieses Mal dürfte dies schwieriger werden.

In dieser Zeit konnten auch Sozialprojekte das Vertrauen in die Stadtverwaltung nicht zurückgewinnen. Mittlerweile ist Federico Gutiérrez von der rechts-neoliberalen Regierungspartei Partei der Nationalen Einheit Bürgermeister. Als Teil des Entwicklungsplans wurde der kolumbianische Stararchitekt Rogelio Salmona damit beauftragt, ein Kulturzentrum im Herzen des Viertels zu bauen. Neben kostenlosen Bildungs- und Kulturangeboten für die Nachbarschaft gibt es auch Konzerte und Veranstaltungen bekannter Künstler. Diese ziehen Menschen aus ganz Medellín an. Das Kulturzentrum und der ebenso schicke neu gebaute Kindergarten nebenan hätten die Mietpreise in der Umgebung in die Höhe getrieben, meint Carlos – staatlich vorangetriebene Gentrifizierung. So droht Vertriebenen ein weiteres Kapitel Vertreibungsgeschichte.

Eine Woche nach dem Brand harren die Menschen mit ihren geretteten Gütern noch immer unter der Brücke aus. Die Stadtverwaltung bietet an, für drei Monate eine Wohnung für alle Brandgeschädigten zu mieten. Sollte es bis dahin keine langfristige Lösung geben, werde die Übergangsmiete um neun Monate verlängert.

Eine langfristige Lösung kann für die Bewohner*innen allerdings nur eine neue Unterkunft im Viertel sein. Die Stadtverwaltung sieht dafür keinen Platz. „Ein Turm für die ganze Gemeinschaft, hier in der Nähe. Das wäre in Ordnung“, sagt Cristian schmunzelnd. „Ich trage die Revolution im Herzen“ , sagt Carlos, kampfbereit, um den Hügel El Oasis zu verteidigen und dem Ruf des Viertels alle Ehre zu machen.
Und trotzdem: Es sieht so aus, als habe das Feuer den Umstrukturierungsprozess von Moravia beschleunigt.


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STRAND GEKLAUT

Fotos: Komitee “Los Ríos de Tunca no se venden, se defienden”

Bald würde die Sonne untergehen. Belén hatte Urlaub genommen und war zum ersten Mal seit Monaten in ihren Heimatort Tunca Abajo gefahren. Sie entschied sich, zum Fluss zu gehen, der sie hatte aufwachsen sehen und wo sie so viele Male beim Spielen mit ihren Cousins und den Nachbarskindern die Zeit vergessen hatte. Der Río Cachapoal war nicht nur ein wesentlicher Teil der Landschaft, sondern auch ihrer Kindheitserinnerungen und des Lebens aller Menschen in Tunca Abajo.

Doch noch bevor Belén den Fluss erreichte, musste sie in größter Überraschung vor einem riesigen Tor Halt machen: Verriegelt und von Sicherheitsleuten bewacht, versperrte es ihr den Zugang. Sollte sich das von den Einwohner*innen von Tunca Abajo so geliebte Flussufer in Privatbesitz verwandelt haben?

Inzwischen leitet Belén Jara Pino das Bürgerkomitee „Los Ríos de Tunca no se venden, se defienden“, das sich gegen den Verkauf der Flüsse zur Wehr setzt. So gab es früher in Tunca Abajo drei Zugänge zum Fluss, einen hinter dem Dorf und zwei neben der Eisenbahnbrücke. Genau dort begannen sich vor zwanzig Jahren Baustoffunternehmen anzusiedeln. Sie fördern Gesteinsmaterial, Sand und Schotter.

Belén war zur „Nachbarversammlung“ – dem in Chile üblichen dezentralen Vertretungsorgan auf kommunaler Ebene – gegangen, um herauszufinden, warum der Zugang zum Fluss versperrt war und was die Unternehmen damit zu tun hatten. Sergio Waldo Correa, Vorsitzender der Versammlung und damit höchste Autorität im Dorf, wollte sie nicht empfangen – und ist seine Antwort bis heute schuldig geblieben. Wütend berichtet Belén: „Sergio Waldo Correa, der doch eigentlich dafür da sein sollte, uns zu unterstützen und das Wohl der Gemeinde im Blick zu haben, war nie anwesend. Inzwischen wissen wir, dass er die Verträge mit den Baustoffunternehmen ausgehandelt hat.“

Es ist auch bekannt, dass Sergio Waldo Correa bereits zuvor in Temuco, Hauptstadt der neunten Region La Araucanía, Vertragspartner des Baustoffunternehmens Áridos San Vicente war und anschließend auch in San Fernando, das sich wie Tunca Abajo in Chiles sechster Region befindet. Dem Unternehmenschef Messen hat er also bei mehr als einer Gelegenheit einen Dienst erwiesen.

Belén kontaktierte unterdessen José Ortega, einen Landwirt aus der Nachbarstadt Peumo. Er beobachtet die Tätigkeiten der Baustoffunternehmen seit über fünfzehn Jahren. Die versperrten Zugänge seien nichts im Vergleich zu dem, was die Unternehmen mit dem Fluss selbst anstellten, antwortete Ortega auf Beléns Ansuchen.

Nach eingehender Untersuchung des Beweismaterials, das José Ortega gesammelt hatte und das Belén an der Spitze ihres Komitees zur Verteidigung der Flüsse ergänzen konnte, stellte sich heraus, dass die chilenische Kontrollstelle für Wasserwirtschaft (DOH) bereits im März 2014 mit der Verordnung Nr. 1408 eine Antwort auf die Anfrage aus Peumo zum Projekt der Gesteinsförderung in der sechsten Region erteilt hatte; dieses Projekt sollte am Río Cachapoal im Sektor Aguas auf dem Abschnitt zwischen den Kilometern 900 und 1.400 durch das Unternehmen Áridos San Vicente realisiert werden. Die DOH wies in ihrer Verordnung jedoch nicht nur darauf hin, dass der Projektantrag unvollständig eingereicht worden sei, sondern dass die Genehmigung zu jedweder Rohstoffextraktion aus dem Fluss unmöglich sei, da sich das Flussbett bereits in einem degradierten Zustand befinde: Die Unternehmen Áridos San Vicente und Áridos Carlos Ramiro, dort bereits ansässig, hatten bei exzessiven Rohstoffabtragungen sogar die Grabungstiefe ohne Genehmigung der regionalen DOH-Stelle überschritten. Milo Millán Romero, Leiter der DOH-Stelle, bemerkte in der Verordnung unter anderem auch, dass die Unternehmen gegen die Wasserschutzrichtlinie verstoßen hätten, indem sie den natürlichen Flusslauf veränderten, was bei den von der DOH genehmigten Projekten nie in Betracht gezogen worden sei.

Mit einem Ausdruck von Hilflosigkeit zeigen Belén und ihr Mitstreiter Hernán Martínez das Schreiben der DOH.

Mit einem Ausdruck von Hilflosigkeit zeigen Belén und ihr Mitstreiter Hernán Martínez das Schreiben der DOH, in dem diese ausdrücklich die Fortsetzung der Extraktionstätigkeiten verbietet, dazu eine Verordnung zur Wiederherstellung des Flussbetts sowie die an die Gemeinde gerichtete Verordnung, jegliche Anfrage zur Förderung von Gesteinsmaterial nicht zu bearbeiten, solange die Probleme nicht gelöst seien. Trotz alledem wurde die Tätigkeit der Unternehmen am Cachapoal nie eingestellt: „Und nicht nur das. José Ortega hat uns Filmmaterial gezeigt, das mit Drohnen aufgenommen wurde. Darauf ist zu sehen, dass das genehmigte Extraktionslimit von 9.500 cm3 pro Monat um ein Vielfaches mit bis zu 100.000 cm3 überschritten wurde!“

Geradezu mit Abscheu berichtet Belén, wie im Winter riesige Löcher gegraben würden, um Sand aus dem Fluss zu extrahieren, und wie diese anschließend mit Schutt aufgefüllt würden. „Das ist sehr gefährlich. Wo sich vorher Sandbänke befanden, tritt man jetzt im Sommer beim Baden auf scharfe Kanten. Es ist fürchterlich sich auszumalen, dass wegen dieser illegalen Schuttablagerungen jemand sein Leben verlieren oder sich schwere Verletzungen zuziehen könnte“, erklärt Belén.

Am meisten besorgt es sie jedoch, dass die Gemeinde jede Verantwortung von sich weist. Noch erstaunlicher dagegen ist die Reaktion der DOH, die sich trotz der von ihr erlassenen Verordnung von 2014 auf die Aussage beschränkt, das Unternehmen erfülle die auferlegten Bedingungen. „Alles läuft auf ein Versäumnis der Gemeinde hinaus. Sie zieht die Genehmigung nicht zurück. Fünfmal hat der Bürgermeister die Entscheidung über die Extraktionstätigkeit im Fluss vertagt“, so Belén. Sie holt Luft, um ungläubig die Aussage der Gemeindevertreter*innen zu wiederholen, sie könnten die Tätigkeit des Unternehmens nicht kontrollieren, weil es am notwendigen Fachpersonal fehle. „Aber um die Genehmigung zu erteilen, dafür gibt es dann schon das richtige Personal? Das Problem hier heißt Korruption, wirtschaftliche Macht, politischer Einfluss. Wir müssen das Thema mit allen Konsequenzen untersuchen“, so Belén entschlossen.

Die Extraktionstätigkeiten am Río Cachapoal beeinträchtigen also einerseits das soziale und kulturelle Leben der Menschen, die nahe seines Ufers wohnen, andererseits hat auch die Umwelt in den zwei Jahrzehnten bereits irreparable Schäden erlitten. Ökologische Studien hatte zum Beispiel Áridos Sa Vicente selbst keine durchführen lassen, da deren Vorlage laut chilenischem Gesetz erst ab einer monatlichen Extraktionsmenge von 10.000 cm3 gefordert wird. Und es behauptet schließlich, nicht mehr als 9.500 cm3 zu extrahieren. Schon im Mai 2014 hatte hingegen José Ortega, der Landwirt aus Peumo, ein notarielles Gutachten eingeholt, um offiziell bestätigen zu lassen, dass sich auf der Fläche der Agrargesellschaft Los Molinos, die zur Gemeinde Peumo gehört, ein Feuchtgebiet mit großer Artenvielfalt befindet. Sumpfbiber, das Gelbschnabel-Blässhuhn und andere Enten­arten sind dort beheimatet. Gleichzeitig wurde zertifiziert, dass nur 500 Meter von diesem Feuchtgebiet entfernt die Extraktionstätigkeiten der Unternehmen stattfinden.

In Ergänzung gab die chilenische Kriminalpolizei im Januar 2015 ein Sachverständigengutachten heraus, nachdem die hauptstädtische Ermittlungskommission für Verbrechen gegen die Umwelt und Kulturerbe eine Augenzeugeninspektion am Flussabschnitt bei Peumo beantragt hatte, um den durch die Baustoff­unternehmen angerichteten Schaden zu beur­teilen. Dieses Gutachten verwies unter anderem darauf, dass weiterhin der nördliche Arm des Río Cachapoal dessen eigentliches Flussbett darstelle, während Erosionsprozesse wie die Abtragung und Destabilisierung von Uferböschung und Bäumen voranschritten. Dadurch bestehe ein Überschwemmungsrisiko. Außerdem sei der Bestand an Wirbellosen zurückgegangen, die wesentlich an der Bildung von Erdreich beteiligt sind, was auf eine geringere Vielfalt der Flora und Fauna hinweise. Nicht zuletzt führe der Fluss eine erhöhte Zahl gelöster Partikel mit sich, die womöglich in den Rapel-See geschwemmt würden und dort Verschlickung und Eutrophierung auslösten.

Das Feuchtgebiet des Río Cachapoal hat einen regulierenden Einfluss auf die Umwelt. Durch die Störung des Flusslaufs ist schon heute ein bedeutender Teil der Flora und Fauna, die dort einmal anzutreffen war, verschwunden. Carlos Peña Hormazábal, ebenfalls Mitglied des Bürger*innen-Komitees, stellt klar, dass der Fluss sogar so ausgetrocknet ist, dass manche Landwirt*innen, die flussabwärts von Tunca Abajo und Peumo leben, ihre dortigen Felder mehrmals nicht ausreichend bewässern konnten.

Dank der Bemühungen Beléns und der Bekanntmachung der Problematik in den sozialen Netzwerken sowie in der Gemeinde konnte das Komitee neue Mitglieder gewinnen. Dass die Unternehmen ihre Extraktionstätigkeiten am Fluss einstellen, steht weiter als Priorität auf der Tagesordnung. Von Seiten der Nachbarversammlung ist genauso wenig eine Antwort zu erwarten wie von der Gemeinde. Von den Unternehmen noch weniger. Die Umweltschäden, die Staub- und Sandwolken, die täglich vom Fluss aufsteigen, und die versperrten Zugänge zum Ufer beeinträchtigen derweil nicht nur das Ökosystem, sondern auch die Gesundheit der Menschen in Tunca Abajo, die Tag und Nacht die über die Luft beförderten Partikel einatmen und unter dem Lärm leiden.

„Der Unternehmer [gemeint ist José Messen von Áridos San Vicente; Anm. der Red.] ist nie auf die Einwohner zugegangen. Alles hat er mit den Gemeindevertretern geregelt. Eigentlich wäre das Unternehmen verpflichtet, die Wege mit Wasser zu besprengen, damit kein Staub aufsteigt, denn inzwischen sind viele Menschen erkrankt. Meine Großmutter leidet unter einer Krankheit, die direkt mit den Erdpartikeln zu tun hat, die sie seit zwanzig Jahren einatmet“, erzählt Belén. Carlos Peña erzählt sorgenvoll: „Meine Mutter wischt täglich zwischen drei und vier Uhr nachmittags eine Staubschicht von sämtlichen Möbeln im Haus. Die kommt von den Lastwagen des Unternehmens, die vorbeifahren. Ich will mir nicht vorstellen, wie dick der Staub schon auf ihren Lungen liegt!“

“Ich leide unter Irritationen und Allergien an Haut, Augen und Nase, jedes Mal, wenn ich nach Tunca Abajo zurückkehre.”

Auch die Tiere in Tunca Abajo leiden unter der Situation. Carlos berichtet über seine Katzen: „Sie litten immer unter dem gleichen Problem: entzündete Augen wegen des Staubs. Bestenfalls tränten sie nur, schlimmstenfalls wurden sie blind. Das Gleiche gilt für die Hunde. Ich selber leide unter Irritationen und Allergien an Haut, Augen und Nase, jedes Mal, wenn ich nach Tunca Abajo zurückkehre.” Denn Carlos, der mit einem Stipendium in Geophysik promoviert, unterstützt das Komitee inzwischen von Deutschland aus.

Der Kampf geht weiter. Im kleinen Dorf Tunca Abajo, das sich genauso gottvergessen fühlt wie von der chilenischen Regierung im Stich gelassen, besteht die Überzeugung, dass sich die Situation unter vereinten Kräften verändern lässt. Der Optimismus blitzt in Beléns Augen, wenn sie wieder und wieder bekräftigt, dass nicht alles verloren sei und sie schon einiges erreicht hätten: Ihr Komitee ist in den Sitzungen des Gemeinderats vertreten und das Thema ist auf die politische Tagesordnung der Lokalregierung zurückgekehrt. Die zunehmende, engagierte Beteiligung von Dorfbewohner*innen und deren Nachbar*innen ist der Beweis dafür, dass die gemeinsame Anstrengung Früchte trägt.

Stolz berichtet Belén, dass sich die Lokalregierung verpflichtet habe, eine Lösung wegen des versperrten Zugangs zum Fluss zu finden sowie zu überwachen, dass die Unternehmen bei ihrer Tätigkeit weniger Staub produzieren; außerdem soll die Arbeit zu den Nachtstunden verboten werden, um die Lärmbelastung zu reduzieren. Das Komitee zur Verteidigung der Flüsse weiß jedoch, dass es immer noch viel zu tun gibt. „Wir haben ausreichend belastendes Material. Die Verbrechen gegen die Umwelt, die von den Baustoffunternehmen begangen werden, dürfen nicht ungestraft bleiben“, bestätigt Belén Jara Pino.

Allerdings verfügt das Komitee nicht über den nötigen Rechtsbeistand. Die Anwält*innen, die angefragt wurden, lehnten ab aus Angst, ihre zukünftige Arbeit durch die enorme Macht der Unternehmen, denen sie gegenübertreten würden, zu gefährden. Auf die Frage nach dem nächsten Schritt antwortet Belén, dass zum letzten Treffen der Nachbarversammlung eine für den Distrikt zuständige Abgeordnete des chilenischen Parlaments dazu gestoßen sei, die bereit scheine, sich des Falls anzunehmen und einen Anwalt zur Verfügung zu stellen. Für Anfang Oktober ist zudem ein Treffen mit dem Leiter der DOH angesetzt, der nun endlich Position beziehen und eine klare Linie für die Zukunft von Tunca Abajo vorgeben möchte.

„Wir hoffen, dass wir nicht zu spät zu einer Lösung kommen. Oder wie viele Leben sollen zugrunde gerichtet werden, damit die Regierung Stellung bezieht und auf unsere Beschwerden eingeht? Denn letztlich geht es hier doch um unsere Rechte als eine Gemeinschaft und als Menschen.“


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AGGRESSIVER KAMPFHUND STATT LAHME ENTE

Die Lage bleibt unübersichtlich in Brasilien. Aber eines wird deutlich: Die Opposition gegen die Regierung von Michel Temer gewinnt an Kraft und erobert die Straße zurück. Deutliches Signal dafür war der Generalstreik am 28. April (siehe Kasten), der einen der erfolgreichsten Ausstände in der jüngeren Geschichte des Landes darstellte. Aber es ist nicht nur der Generalstreik: Im ganzen Lande flammen diverse Proteste auf. In unglaublich kurzer Zeit hat die durch ein umstrittenes Impeachmentverfahren an die Macht gekommene Regierung Temer jegliche Unterstützung in der Bevölkerung verspielt.

Gründe dafür gibt es mehr als genug. Nach zwei Jahren schwerer Rezession kommt die Wirtschaft immer noch nicht in Schwung. Die Regierung hat es immer schwerer, für diese Wirtschaftsmisere nur das Vermächtnis der vorangegangenen Regierungen verantwortlich zu machen. Insbesondere die Zunahme der Arbeitslosigkeit trifft die Bevölkerung hart. Nichtsdestotrotz versucht die Regierung Temer eine „Reformagenda“ durchzusetzen, die aus dem kleinen Einmaleins des Neoliberalismus zu stammen scheint. Staatsausgaben sind bereits für eine langen Zeitraum gedeckelt und die Tertiärisierung – also die Verlagerung von Arbeitskräften auf den Dienstleistungssektor – erleichtert worden.

Nun werden zwei entscheidende Elemente der Reformagenda im Parlament verhandelt: eine Reform des Arbeitsrechtes und eine Rentenreform. So soll ermöglicht werden, dass in Tarifverträgen im Einverständnis von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen auch Vereinbarungen getroffen werden können, die unterhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen liegen, also etwa bei Regelungen für Urlaub oder Überstunden. Angesichts einer zersplitterten und fragmentierten Gewerkschaftsbewegung würde diese perverse Auslegung von Tarifautonomie dem Sozialabbau Tür und Tor öffnen. Auch bei der Rentenreform geht es um das übliche: Erhöhung des Rentenalteres und verschärfte Bedingungen für den Erhalt einer Rente, die insbesondere Landarbeiter*innen hart treffen würde. Beide Reformen sind – wie Umfragen zeigen – in der Bevölkerung extrem unbeliebt.

Die Regierung Temer hat kein demorkatisches Mandat solche Reformen durchzuführen.

Insbesondere die Rentenreform sieht die Bevölkerung als Angriff auf Rechte, die Teil der gesellschaftlichen Kultur Brasiliens sind. Die Regierung Temer hat kein demokratisches Mandat, solche umstrittenen Reformen durchzuführen. Temer ist als Vize einer Präsidentin gewählt worden, die zumindest im Wahlkampf eine neoliberale Wende in Brasilien als Antwort auf die Wirtschaftskrise entschieden ablehnte.

Trotz fehlender Legitimierung, einer kurzen Amtszeit von maximal etwa zweieinhalb Jahren und katastrophalen Umfragewerten ist die Regierung Temer alles andere als eine „lahme Ente“, sie erweist sich immer mehr als aggressiver Kampfhund für eine extrem reaktionäre Wende.

Diese Wende zeigt sich nicht nur in der angestrebten Arbeits- und Rentenreform, sondern auch in der Umweltpolitik. Der Etat des zuständigen Ministeriums ist um um die Hälfte gestrichen worden, internationale Gelder des Amazonasfonds mussten eingesetzt werden, um eine Minimum von Kontrolle in Amazonien zu ermöglichen. Und dies alles in einer Zeit, in der der Anstieg der Entwaldung in Brasilien wieder für internationale Schlagzeilen sorgt.

Besonders hart trifft es auch die indigene Bevölkerung und traditionelle Gemeinschaften. Im Parlament werden eine Reihe von Gesetzesvorhaben verhandelt, die deren Rechte fundamental einschränken. So soll der Bau von Straßen und die Ausbeutung von Bodenschätzen in indigenen Territorien oder anderen Schutzgebieten erleichtert werden.

Dabei geht es nicht nur um einzelne Maßnahmen. Durch die Regierung Temer fühlen sich reaktionäre Kreise und insbesondere das Agrobusiness ermuntert. Die Wahl des Großgrundbesitzers und Sojaproduzenten Blairo Maggi zum Landwirtschaftsminister ist ein deutliches Signal an diese Klientel. Ein ganz anderes Signal haben die indigene Völker erhalten. Die für sie zuständige Behörde FUNAI wurde nicht nur finanziell ausgetrocknet, sondern auch der extrem reaktionären und und von evangelikalen Gruppen dominierten Christlich-Sozialen Partei PSC zugeschlagen. Diese ernannte prompt zuerst einen Militär als Präsidenten der Behörde, und dann einen Priester – doch auch der musste bald zurücktreten. Indigene Völker haben daher eine historische einmalige Mobilisierung gegen die Regierung Temer auf die Beine gestellt: Ende April versammelten sich bis zu 3.000 Vertreter*innen indigener Völker und Unterstützer*innen in Brasilia zu einem Zeltlager, das sie „Terra Livre“ nannten.

Mitten in diese komplizierten und unruhigen Zeit platzte eine weitere politische Bombe: Im Rahmen des nicht enden wollenden Korruptionsskandals, der Brasilien nun seit geraumer Zeit erschüttert, wurden die Aussagen der Chefs des größten brasilianischen Baukonzerns Odebrecht veröffentlicht. Dazu kam eine Liste des Untersuchungsrichters Fachin mit den Politiker*innen, die unter Anklage gestellt werden. Nun wurde offensichtlich, was schon lange vermutet worden war: Das gesamt politische System ließ sich von dem Baugiganten schmieren, Politiker*innen fast aller Parteien finden sich auf der Liste, einschließlich der bisherigen Präsidentschaftskandidaten der wichtigsten Oppositionspartie PSDB. Die Aussagen und die Liste belasten führende Politiker*innen der Arbeiter*innenpartei PT schwer, sie werden beschuldigt illegale Parteispenden in dreistelliger Millionenhöhe entgegengenommen zu haben. Aber dasselbe trifft auch auf führende Oppositionspolitiker*innen zu, Odebrecht war zu allen Seiten hin spendabel. Dabei beschränkt sich der Aktionskreis des Konzerns nicht auf Brasilien: Nach eigenen Angaben hat der Konzern in zwölf Ländern illegale Zahlungen in Höhe von 788 Millionen US-Dollar getätigt (siehe LN 513).

Indigene Völker haben eine historische Mobilisierung gegen die Regierung aufgestellt.

Die Regierung Temer ist zentral von den Ermittlungen betroffen, acht Minister stehen nun unter Anklage. Temer selbst entkommt der Anklageerhebung nur, weil er durch das Präsidentenamt eine erweiterte Immunität genießt. Die bittere Tragödie des Impeachmentverfahrens ist nun für alle sichtbar: Durch die Amtsenthebung Dilma Rousseffs (die nicht auf der Liste erscheint!) im August vergangenen Jahres ist die wohl korrupteste Regierung Brasiliens in das Amt gelangt – unter dem Vorwand des Kampfes gegen Korruption.

Im Kern der strafrechtlichen Ermittlungen stehen nicht deklarierte und damit illegale Zuwendungen an Parteien und einzelne Politiker. Aber die Aussagen von Firmenchef Marcelo Odebrecht enthüllen noch ein andere Dimension der Geschichte: die quasi symbiotische Beziehung zwischen Lula und den Odebrechts. Die Geschichte begann schon vor der Zeit Lulas als Präsident (2003 – 2010). Eine Episode in dieser langen Beziehung wirft ein Schlaglicht darauf, wie sich die Interessen des Unternehmens mit dem Handel der Regeirung und Präsident Lula direkt vermischen. Unter der Lula-Regierung wurden der lange unterbrochene Bau von Großstaudämmen in der Amazonasregion wieder aufgenommen. Jirau und Santo Antonio im Bundestaat Rondonia waren die Bahnbrecher dafür. Als es Schwierigkeiten mit der Umweltlizenz für den von Odebrecht übernommenen Staudamm von Santo Antonio gab, mischte sich Lula direkt ein und beschwerte sich sinngemäß: „Nun muss ich mich auch noch um die Welse kümmern“. Der Satz und die Welse (bagre) wurde berühmt als Ausdruck von Lulas ostentativer Missachtung von ökologischen Fragen. Lulas Einmischung war nicht ohne Folgen: Der Chef der Umweltbehörde IBAMA musste den Hut nehmen, die Lizenz wurde erteilt und der Staudamm gebaut. Nun erfahren wir von Marcelo Odebrecht die ganze Geschichte: „Wenigstens einmal traf ich mit dem damaligen Präsidenten Lula um zu fordern, dass nicht zu einer Verzögerung bei der Finanzierung von Santo Antonio durch die (staatliche Entwicklungsbank) BNDES kommen dürfe. Ebenso bat ich um eine spezielle Unterstützung, damit es nicht zu einer Verzögerung bei der Erteilung der Umweltlizenzen komme, was auch den gesamten engen Zeitplan gefährdet hätte. Lula hat dann unsere Unzufriedenheit mit dem berühmten Satz ausgedrückt: ‚Jetzt kann wegen des Wels‘ nicht gebaut werden, sie haben den Wels in meinen Schoss geworfen. Was habe ich damit zu tun?‘“

Insgesamt hat Odebrecht nach eigenen Angaben etwa 80 Milllionen Reais (circa 25 Millionen US-Dollar) spendiert, um den Bau von Santo Antonio zu erleichtern.

Die politische Bewertung der Beziehung zwischen Lula und Odebrecht steht aber nicht im Mittelpunkt der aktuellen Debatte. Es geht in erste Linie um die Frage der strafrechtlichen Relevanz der Vorwürfe. Und da beteuert Lula – wie alle anderen Beschuldigten – seine völlige Unschuld.

Der politische Effekt der jüngsten Wendungen scheint paradox: Nach einer Ende April veröffentlichten Befragung durch das Institut Datafolha würde Lula bei Präsidentschaftswahlen deutlich vorne liegen. Das war schon bei den letzten Umfragen so, aber Lula hat noch einmal zugelegt und würde jetzt alle bekannteren Oppositionspolitiker*innen auch in einer Stichwahl klar besiegen. Nur gegen eine Person liegt er knapp zurück: gegen den untersuchenden Richter Moro, der zur Personifizierung der Ermittlungen der Operation Lava Jato geworden ist. Die Umfragen zeigen ein zutiefst gespaltenes Land. Gut 40 Prozent der Befragten würden Lula wählen und praktisch eben so viele den erklärten Widerpart und das Idol aller Lula- und PT-Hasser, den smarten Richter Moro. Aber Moro ist kein Kandidat und würde er es, dann müsste er sich in die Tiefen des von ihm angeblich bekämpften politischen Systems begeben und könnte leicht an Glaubwürdigkeit und Zustimmung verlieren.

Ein weitere neue Entwicklung in den Umfragen ist der Aufstieg Jair Bolsonaros, des erklärt rechtsextremen Politikers, der die Folterer der Militärdiktatur feiert und Homosexuelle verfolgen will (siehe LN 503). Mit 15 Prozent der Stimmen liegt er bei den Umfragen für den ersten Wahlgang auf Platz zwei. Im Zug der politischen Auseinandersetzungen formiert sich also in Brasilien eine rechtsradikale Strömung und versucht zunehmend Einfluss auf die Politik zu gewinnen.

Natürlich lassen solche Umfragen noch keine Schlussfolgerungen auf das Ergebnis der Wahlen zu, die planmäßig im Oktober 2018 stattfinden werden. Aber sie markieren eins: die wiedergewonnene Zentralität der Person Lulas im Brasilien der Gegenwart. Für das PT-Lager aber auch wohl für viele andere, die zuletzt mit der PT-Regierung unzufrieden waren, stellt nun Lula die einzige politisch aussichtsreiche Alternative zu einer reaktionären Wende da. Große Teile der Linken unterstützen die Kandidatur Lula 2018 – auch aus völligen Mangel an Alternativen und dem Eindruck, welchen Schaden eine reaktionäre Regierung wie die von Temer anrichten kann. Gleichzeitig wird die Linke damit aber auch in großem Maße abhängig von der Person Lulas und dessen politischen Perspektiven.

Für das rechte Lager hingegen wird die politische Vernichtung Lulas im Mittelpunkt stehen. Eine Karte ist dabei ausgespielt: die Korruption. Denn in einer weiteren Umfrage von Datafolha sehen die Befragten in Lula den korruptesten aller Präsidenten seit 1989, dem Jahr der ersten Wahlen nach dem Ende der Militärdiktatur. Die resignierende Ansicht, dass Korruption ein unvermeidlicher Teil des politischen Systems sei, kommt offenbar vor allem Lula zugute.

Für die Rechte bleibt die juristisch Verfolgung Lulas, um zu verhindern, dass dieser überhaupt kandidieren kann. Damit haben sich aber die juristische und politische Dimension zu einem unentwirrbaren Knäuel verwickelt. Lula nun auf juristischen Wege kalt zustellen hieße, zu verhindern, dass der zurzeit populärste Politiker Brasiliens bei den Wahlen antreten darf. Dies würde eine heftige Reaktion der sozialen Bewegungen und großer Teile der Bevölkerung provozieren. Der Generalstreik war ein Auftakt für weitere unruhige Zeiten in Brasilien.


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WIDERSTAND IST MEIN RECHT

„Es ist eine Regierung des Marketings“, sagt die Aktivistin Katy Betancourt Machoa, als wir uns bei der Cumbre Agraria, dem „Landwirtschaftsgipfel“, einer nationalen Konferenz bäuerlicher und indigener Bewegungen Ende Juli in Quito treffen. „In Fernsehbotschaften lobt die Regierung ihre Politik der konservativen Modernisierung als Agrarreform. Gleichzeitig kriminalisiert sie soziale Bewegungen in einem bisher in Ecuador nicht gekannten Ausmaß.“ Betancourt ist eine der jungen dirigentes (Repräsentant*innen) der CONAIE, dem nationalen Dachverband der indigenen Organisationen, der gemeinsam mit weiteren Gruppen die Konferenz organisierte. Und sie koordiniert die Kampagne „Widerstand ist mein Recht“, die sich zum Ziel gesetzt hat, das gerichtliche Nachspiel gegen die Massenproteste im August 2015 öffentlich sichtbar zu machen und für die Unschuld von 132 Angeklagten zu streiten. Damals hatte ein Bündnis aus indigenen Organisationen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen im ganzen Land Straßenblockaden und Demonstrationen organisiert, um gegen eine Reihe von politischen und rechtlichen Reformen – von einem Streikverbot für öffentliche Angestellte bis zu verschiedenen Gesetzesprojekten rund um Wasser, Bergbau und Landwirtschaft – zu protestieren (vgl. LN 495/496). Betancourt sagt dazu: „Die Straßenblockade ist eine wichtige Protestform, auf die wir in Ecuador bisher immer zurückgegriffen haben und mit der es Bewegungen sogar gelungen ist, Regierungen zu stürzen. Sie soll uns jetzt genommen werden.“
Die teilweise hohen Haftstrafen der Protestierenden sind möglich auf der Grundlage eines ecuadorianischen Strafrechts, das sehr diffus formulierte Tatbestände wie Terrorismus, Sabotage oder Lahmlegung des öffentlichen Dienstes aufführt. Sieben Urteile gibt es bereits in der östlichen Provinz Pastaza, wo sieben Teilnehmer*innen einer friedlichen Demonstration zu jeweils sechs Monaten Haft und der Zahlung von drei Mindestlöhnen verurteilt wurden. Der Student Elvis Guamán hatte dort beispielsweise gegen die neue Zulassungspolitik an den öffentlichen Hochschulen protestiert: „Mit dem neuen System der Vergabe von Studienplätzen bekommen viele Leute nicht mehr den Studienplatz, den sie sich wünschen. Das ist typisch für diese ganze neue Bürokratie, da gibt es keine Entscheidungsfreiheit mehr.“ Vor Gericht hatten die Polizeizeug*innen erklärt, er sei mit Steinen und einem Stock bewaffnet auf sie losgegangen, ohne dies belegen zu können. Auch ein Maurer, der nur zufällig an der Demonstration vorbeigekommen war, wurde verurteilt.
Besonders drastische Urteile wurden in Saraguro in der Provinz Loja verhängt. Dort wurden siebzehn Männer und zwölf Frauen angeklagt. Eine von ihnen ist Maria Luisa Lozano, die wegen der „Lahmlegung des öffentlichen Dienstes“ ein Urteil von vier Jahren Haft erhielt (siehe Interview). Der Fall der Frauen aus Saraguro scheint für die Regierung inzwischen zu einer heiklen Angelegenheit geworden zu sein. Die Kampagne „Widerstand ist mein Recht“ sorgte für viel Öffentlichkeit, und Lozano erklärt, sie sei bereits zu einem Dialog mit dem Vizeminister des Inneren eingeladen worden, um „schöne Bilder fürs Fernsehen zu produzieren“. Deshalb habe sie sich dem verweigert.
Trotz eines insgesamt sehr selbstbewussten Auftretens vieler der Aktivist*innen vom August 2015 hat Katy Betancourt zufolge die Repression dennoch ihre Wirkung entfaltet und Angst verbreitet. Gerade, weil heute viele Personen vor der klassischen Protestform der Straßenblockade zurückschreckten, sei es nötig geworden, die Organisationen erstmals zu einer nationalen Konferenz zu diesem Thema nach Quito einzuladen. 800 bis 1.000 Personen aus dem ganzen Land nahmen teil. Am 21. Juli dieses Jahres begann die Cumbre Agraria vormittags mit einer Demonstration durch ganz Quito. Vor dem Agrarministerium und dem Ministerium für Bergbau wurde lautstark gegen die Agrarpolitik der Regierung und den industriellen Großbergbau protestiert. Anschließend tagten zehn Arbeitsgruppen, um ein „nationales Agrarabkommen“ mit Forderungen an die Regierung zu erarbeiten. Themen gab es viele: der Protest gegen Bergbau- und Erdölkonzessionen an China oder die Kritik an einer Bildungspolitik, die derzeit zur Schließung vieler indigen-spanischer bilingualer Dorfschulen führt. Sehr sichtbar war der Protest gegen ein Gesetzesprojekt zur Zertifizierung von Saatgut. Zum Zeichen der Verteidigung eines freien Austausches und des Nachzüchtens von Saatgut hatten die Bäuerinnen und Bauern aus ganz Ecuador Samen mitgebracht. Diese tauschten sie während der gesamten Konferenz aus. Auch Vertreter*innen der vom Erdbeben betroffenen afroecuadorianischen Gemeinden aus Chamanga in der Provinz Esmeraldas waren präsent und sammelten Spenden für von der Regierung nicht anerkannte Obdachlosen-Unterkünfte.


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Alternativen zum Neoliberalismus

Harmonischer hätte die Eröffnung des Weltsozialforums kaum verlaufen können: Unter strahlendem Himmel feierten Tausende von Globalisierungskritikern in Porto Alegre den Auftakt der Anti-Davos-Veranstaltung – mit einer Theaterinszenierung, einem Open Air-Konzert und einem Marsch „gegen den Neoliberalismus und für das Leben“.
Die erste Pressekonferenz hatte der Gast Bernard Cassen bestritten: Drei zentrale Vorschläge, so der Chefredakteur der „Le Monde diplomatique“, werden auf dem Weltsozialforum in der brasilianischen Hafenstadt Porto Alegre diskutiert: ein Schuldenerlass für die Länder des Südens, die Besteuerung internationaler Finanztransaktionen und die Notwendigkeit, die öffentlichen Rentensysteme aufzuwerten. „Es ist ein historischer Moment“, sagte er. „In Seattle, Washington und Prag haben die sozialen Bewegungen nein gesagt, nein zum Internationalen Währungsfonds, zur Weltbank und zur Welthandelsorganisation. Jetzt gehen wir zu einer konstruktiven Haltung über und werden neue Perspektiven aufzeigen.“
Sechs Tage lang diskutierten rund 2.700 Delegierte aus sozialen Bewegungen, nichtstaatlichen Organisationen, Gewerkschaften und Indígenaorganisationen über Produktion und Handel, die Verteilung des Reichtums und Nachhaltigkeit, Demokratisierungsstrategien und das internationale Finanzsystem, kurz: eine „andere Welt“.

Die Idee zum Anti-Gipfel

Eine andere Welt als jene, deren Fortsetzung zeitgleich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos geplant wurde. Seit 1971 treffen sich in den Schweizer Bergen alljährlich Manager, Banker und Staatschefs zum Gedankenaustausch. „Zu diesem Zeitpunkt war ich letztes Jahr in Paris“, erzählte der brasilianische Unternehmer Oded Grajew. „Und dann dachte ich: Warum kein Sozialforum?“. Mit der Idee rannte er bei Bernard Cassen offene Türen ein. Auch der Tagungsort war schnell gefunden: Porto Alegre, das seit zwölf Jahren von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) regiert wird, gilt als Vorreiter einer erfolgreichen bürgerorientierten Kommunalpolitik.
Logistische Unterstützung leistete neben der Stadtverwaltung die ebenfalls von der PT gestellte Regierung des Bundesstaates. So lud Bürgermeister Tarso Genro Persönlichkeiten aus aller Welt zu einer Veranstaltung, auf der über die Möglichkeiten von kommunaler Sozialpolitik debattiert werden sollte. So waren unter den Prominenten aus Politik, Wissenschaft und Kultur zum Beispiel Algeriens Ex-Präsident Ahmed Ben Bella, der PT-Ehrenvorsitzende Luiz Inacio Lula da Silva, Danielle Mitterrand, der ägyptische Ökonom Samir Amin, der Schriftsteller Eduardo Galeano aus Uruguay und sein chilenischer Kollege Ariel Dorfman und – last but not least – die Bauernsprecher José Bové aus Frankreich und João Pedro Stedile von der brasilianischen Landlosenbewegung MST.
Den eigentlichen Charakter als Basisveranstaltung erfuhr das Forum in den über 400 Workshops, auf den Camps für Indigenas und Jugendliche und auf den Fahrten auf die Landlosencamps in der näheren Umgebung.

Internationale Vernetzung

„Wenn wir die internationale Vernetzung vorantreiben können, haben wir unser Hauptziel erreicht,“ meinte Marco Aurélio Weissheimer vom Organisationskomitee. In der Kritik an genmanipulierten Lebensmitteln sieht er ein Paradebeispiel dafür, wie ganz unterschiedliche Gruppen aus verschiedenen Ländern zusammengeführt werden könnten – Bauern, Umweltschützer und Verbraucher.

Französischer Besuch

José Bové, bekannt durch seine militanten Aktionen gegen McDonalds, war letztes Jahr noch in Davos. „Doch alle Fragen, die wir dort den Vertretern der Multis gestellt haben, wurden von der Polizei mit Tränengas beantwortet“, sagte er. „In Porto Alegre können wir uns wenigstens unterhalten“. Die Landwirtschaft müsse wieder auf den internen Verbrauch ausgerichtet werden, Exportsubventionen seien schädlich.
Auffällig war die große Zahl französischer Teilnehmer. Christophe Aguiton vom Bündnis zur Kontrolle der Finanzmärkte „ATTAC“ erklärte das mit der „kulturellen Affinität“ zu Lateinamerika, aber vor allem damit, das die „sozialen Kämpfe“ in Frankreich derzeit besonders intensiv geführt würden. Selbst zwei Minister aus der Regierung Jospin waren angereist.
Eine Steilvorlage für die Organisatoren lieferte Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso, als er die Versammelten mit den Maschinenstürmern des 19. Jahrhunderts verglich: „Es ist unmöglich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, die Telekommunikation, die schnellen Informationen im Finanzbereich zu verhindern“, so das Staatsoberhaupt. Auch kritisierte er die Unterstützung des Treffens durch die von der Arbeiterpartei PT geführte Landesregierung von Rio Grande do Sul mit etwa einer Million Mark. Gouverneur Olívio Dutra konterte, die Zentralregierung habe sich Brasiliens Teilnahme an der EXPO 18 Millionen Mark kosten lassen.

Plädoyer für ein anderes Brasilien und eine andere Welt

In seinem Grußwort auf der Eröffnungsveranstaltung im überfüllten Auditorium der Katholischen Universität kritisierte Dutra das „Einheitsdenken“, das derzeit die internationale Politik bestimme. Statt eines „Minimalstaats im Dienst einiger weniger Interessengruppen“ befürworte er einen „beweglichen, effizienten Staat“, der die Mehrheit der Bevölkerung in den Mittelpunkt der Politik stelle. „Nicht nur eine andere Welt ist nötig und möglich“, sagte Dutra in Anspielung auf das Tagungsmotto, „sondern auch ein anderes Brasilien, das in der Welt nicht nur für Armut, niedrige Lebensqualität, soziale Ungleichheit, Einkommenskonzentration und Missachtung von Natur und Menschenrechten bekannt ist.“

Jubel und rote Fahnen

4.000 Zuschauer aus 120 Ländern bejubelten Dutras Rede ebenso begeistert wie die dramatische Umsetzung des Mottos „Eine andere Welt ist möglich“ durch eine Truppe brasilianischer Arbeits- und Landloser. Anschließend marschierten etwa 15.000 Menschen mit vielen roten Fahnen durch das Stadtzentrum Porto Alegres und obwohl das Organisationskomitee aus Angst vor negativen Schlagzeilen dazu aufrief, Kundgebungen vor ausländischen Banken oder McDonalds zu unterlassen, kam es nur zu einer Eier-, Tinten- und Mehlattacke auf eine Filiale des US-amerikanischen Hamburgerkonzerns, und vor den Banken Boston und Santander gingen je eine spanische und eine US-Flagge in Flammen auf.
Nach dem Marsch eröffnete dann Lokalmatador Leonardo auf dem Festivalgelände am Guaíba-Fluss einen Reigen von fünf Open Air-Konzerten, den die kubanische Gruppe Síntesis als Ende des ersten Tages von Porto Alegre beschloss.


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Widerstand im Weltsystem

Fünf Aufsätze von A.G.Frank und M.Fuentes haben die HerausgeberInnen Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy in diesem im Promedia-Verlag 1990 erschienen Buch zusammengefaßt. Abschluß bildet ein Gespräch der AutorInnen mit den HerausgeberInnen.
“Politische Ironien in der Weltwirtschaft” (A.G.Frank) gibt eine Bewertung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien in den letzten beiden Jahrhunderten. Im folgenden Aufsatz “Amerikanisches Roulette im globalen Kasino” folgt eine Analyse der aktuellen Weltwirtschaftskrise und deren Entwicklung. Im Kapitel “Die Unterentwicklung der Entwicklung” nehmen die AutorInnen Abschied von der von A.G.Frank mitentwickelten Dependenztheorie. Es folgt eine Darstellung der Frauenbewegung in Chile ab der Regierung Frei bis in die Gegenwart (M.Fuentes). Dann der Aufsatz “Von der Revolution zur sozialen Bewegung” mit einer Bewertung der außerparlamentarischen Bewegungen in den Metropolen und den Ländern der “Dritten Welt”. Den Abschluß des Buches bildet das Gespräch mit den HerausgeberInnen “Die Erde ist rund”, in dem die Leitgedanken der zusammengefaßten Aufsätze vertieft und hinterfragt werden.
Das Buch kreist um zwei zentrale Fragen: Die Möglichkeiten der Länder der “Dritten Welt” zur Entwicklung im kapitalistisch dominierten Weltwirtschaftssystem, wobei der Zusammenbruch des realen Sozialismus von A.G.Frank im Ansatz seiner Gedankenführung teilweise vorweggenommen wird. Zum zweiten in der Rolle der sozialen Bewegungen als nicht institutioneller und nicht parteilicher Träger von Politik, denen beide AutorInnen eine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung zuweisen.
Frank revidiert explizit seine Thesen von 1962, daß “ein Ausbrechen aus der Unterentwicklung…nur außerhalb des kapitalistischen Systems und nur nach einer Befreiung durch eine sozialistische Revolution möglich (ist)”. Die Revision dieser These wird an der historischen Entwicklung verdeutlicht und belegt, eine Alternative dagegen nicht aufgezeigt. Die AutorInnen setzen jedoch gerade auch für die “Dritte Welt” große Hoffnungen in die Entwicklung der sozialen Bewegungen in den Metropolen und der “Dritten Welt”.
Ausgehend von den Thesen, daß Staat und Staatsmacht (und gleichermaßen traditionell parteimäßig organisierte Gruppen) immer weniger in der Lage sind eine Vielzahl von sozialen und individuellen Anliegen befriedigend zu lösen (S.192) und daß politische Entscheidungen so gut wie keinen Einfluß auf ökonomische Prozesse haben. (S.200f.), wird der zentrale Gedanke von der Bedeutung von der Bedeutung der sozialen Bewegungen als Trägerinnen des gesellschaftlichen Fortschritts erarbeitet. Dabei entwickelte – sicherlich umstrittene – Thesen sind, daß es bei den Bewegungen im positiven Sinn um den eingeschlagenen Weg und nicht das Ziel auf das zugesteuert wird geht (S.210). Weiterhin wird ein Zusammenhang zwischen dem Auf- und Abschwung der sozialen Bewegungen auf der einen und den Weltwirtschaftszyklen auf der anderen Seite behauptet.
Das Buch wirft die zentralen Fragen der entwicklungstheoretischen Diskussion auf, die durch das Gespräch zwischen HerausgeberInnen und AutorInnen – ein interessanter Ansatz dieses Buches – sinnvoll akzentuiert und herausgearbeitet werden.

Hannes Hofbauer/Andrea Komlosy: André Gunder Frank/Marta Fuentes Frank – WIDERSTAND IM WELTSYSTEM, Promedia-Verlag, Wien 1990


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