IM SCHATTEN DES AMAZONAS

Methanproduzenten Immer mehr Fläche des Chaco wird für Viehzucht genutzt (Foto: Peer V via wikipedia.org, (CC BY-SA 3.0)

Die Flut an Schreckensmeldungen über Umweltzerstörungen im Amazonasgebiet reißt nicht ab. Auch in den großen Medien finden sich immer mehr Berichte und Reportagen über die katastrophalen Auswirkungen der Umweltpolitik der brasilianischen Regierung von Präsident Jair Bolsonaro auf das größte Regenwaldgebiet der Erde.

Angesichts dieser Medienfülle gerät das zweitgrößte Biom des südamerikanischen Kontinents meist aus dem Blick. Doch auch im Chaco-Trockenwald, der sich von Südostbolivien über Westparaguay nach Nordargentinien erstreckt, veränderte sich in den vergangenen Jahren die Landnutzung immer schneller – mit dramatischen Folgen für die indigene Bevölkerung und die Umwelt.

Der größte Teil des Chaco liegt im westlichen Teil Paraguays. Über 60 Prozent des Staatsgebietes fällt auf diesen Naturraum, allerdings lebt weniger als zehn Prozent der paraguayischen Bevölkerung westlich des Paraguay-Flusses.

Ende des 19. Jahrhundert begannen multinationale Unternehmen – meist von Argentinien aus operierend – riesige Mengen Staatsland im Chaco vom verarmten paraguayischen Staat aufzukaufen. Für die damaligen Transaktionen sind zahlreiche Gesetzesverstöße und Korruptionsfälle belegt. Das wichtigste dieser Unternehmen, Carlos Casado S. A., kaufte über 56.000 Quadratkilometer Staatsland im Chaco, was ungefähr der Fläche Kroatiens entspricht.
Auf den teils gigantischen Ländereien gewannen diese Unternehmen Gerbstoffe aus dem Holz des Quebracho-Baumes für die Lederverarbeitung und betrieben – wo es die Vegetation zuließ – Viehzucht. Dabei kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen an der indigenen Bevölkerung, aber auch an den Arbeiter*innen, die das Holz schlugen oder in den Fabriken arbeiteten.

Eine Kohlenstoffsenke wird zur Quelle für Treibhausgase

Doch der weitaus größte Teil des Chaco galt weiterhin als wirtschaftlich nicht nutzbar und wertlos: Die dornige und dichte Vegetation verhinderte die unbegrenzte Erschließung für den Weltmarkt. Die landwirtschaftliche Nutzung beschränkte sich auf die sogenannten cañones – so werden die Abflussrinnen in der flachen Ebene genannt, in denen der dichte Waldbewuchs von einer savannenartigen Vegetation unterbrochen wird.

So blieb der Chaco eine periphere Region, die kaum in den Weltmarkt integriert war. Genau diese Isolation bot einer Vielzahl indigener Gruppen die Möglichkeit, ihre Lebensweise und relative Autonomie behaupten zu können. Keine andere Region im südlichen Südamerika weist deshalb eine so große ethnische Diversität auf wie der Chaco. Im nördlichen Teil des Gebiets, das mit etwas weniger als 300.000 Quadratkilometern ungefähr so groß wie Italien ist, leben einige indigenen Gruppen der Ayoreo Totobiegosode bis heute in freiwilliger Isolation und ohne jeden Kontakt zur Außenwelt.

Doch seit den 1970er Jahren haben sich die technischen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Inwertsetzung des Chaco radikal verändert. Dornenwälder, die zuvor wie unüberwindbare Barrieren für die Rodung schienen, konnten von neu eingeführten schweren Bulldozern mühelos weggeschoben werden. Dazu kommt, dass die Fläche, die der Viehwirtschaft im Osten Parguays zur Verfügung stand, durch den Boom von – meist genmanipuliertem Soja- sank. Neue Flächen fanden die Unternehmen im Chaco.

Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends nimmt die Zerstörung des artenreichen und an die harten klimatischen Bedingungen angepassten Trockenwaldes im Chaco massiv zu. In den Jahren 2000 bis 2012 waren es die höchsten Entwaldungsraten für tropische Wälder auf der ganzen Erde. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten drohen auszusterben.

Die Erschließung des Chaco für die Landwirtschaft hat aber auch globale Auswirkungen auf den Klimawandel: Durch die Rodung wird in der Vegetation gebundener Kohlenstoff in die Atmosphäre freigesetzt. Die Rinder, die danach auf den Flächen weiden, stoßen große Mengen Methan aus. Durch die Veränderung der Landnutzung wird eine riesige Kohlenstoffsenke in eine Quelle für Treibhausgase umgewandelt.

Dramatischer sind allerdings die Folgen für die unmittelbar Betroffenen: die indigene Bevölkerung des Chaco. Durch die zunehmende Landnutzung durch die Viehwirtschaft verlieren sie Territorium, dass sie für ihren Lebensunterhalt benötigen.

Insbesondere die Ayoreo Totobiegosode geraten dadurch unter Druck. Für ihre nomadische Lebensweise, die auf der Jagd und ganz besonders auf dem Sammeln von Wildhonig basiert, benötigen sie große Flächen. Doch da sie in freiwilliger Isolation leben und nichts von Gesetzen und Umweltbehörden mitbekommen, können sie sich nicht effektiv wehren, wenn Bulldozer in ihr Land eindringen und es zerstören. Die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, ist zu fliehen.

In den vergangenen Monaten hat sich die Situation für die Ayoreo Totobiegosode enorm zugespitzt. Das Gebiet, in dem ihre kleinen Gruppen umherziehen, ist durch Rodungen enorm verkleinert worden. Ringsum sehen sie sich von expandierenden Rinderfarmen eingekesselt.

Doch nicht nur die Ayoreo Totobiegosode sind von der zunehmenden wirtschaftlichen Erschließung des Chaco negativ betroffen. Auch wenn andere indigene Gruppen des Chaco, wie etwa die Quom oder die Angaité, zum Teil seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlich engen Kontakt mit der paraguayischen Mehrheitsgesellschaft stehen, spielen für sie die Jagd und das Sammeln von Pflanzen, Früchten und Honig aus dem Trockenwald weiterhin eine große wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung. Diese Aktivitäten werden durch die jüngere Entwicklung zunehmend eingeschränkt.

Das Gebiet der Ayoreo Totobiegosode wurde enorm verkleinert

Dies widerspricht eigentlich der paraguayischen Verfassung. Im Artikel 64 heißt es: „Die indigenen Völker haben das Recht auf den gemeinschaftlichen Besitz ihres Landes, im ausreichenden Ausmaß und der Qualität, um ihre eigene Lebensweise zu bewahren und zu entwickeln.“ Die Frage, die vielen Landkonflikten mit Indigenen zugrunde liegt, lautet: Wie viel Land ist dafür ausreichend?

Der Anthropologe Marcos Glauser hat intensiv zu dieser Frage geforscht und sich dabei auf die indigenen Angaité konzentriert. Er unterscheidet zwischen „Indigenem Land“ und „Indigenen Territorium“: Den ersten Begriff bezieht er auf die Ländereien, die bestimmten indigenen Gruppen unmittelbar gehören und die auch vom paraguayischen Staat anerkannt sind. Den zweiten Begriff bezieht er auf die Gesamtheit des Terri-*toriums, das die Indigenen nutzen: für die Jagd, das Sammeln und für bestimmte Rituale. Das legal anerkannte Land der Angaité ist dabei etwa 22.000 Hektar groß, das von ihnen genutzte indigene Territorium dagegen über 209.000 Hektar.

Dass es Überschneidungen zwischen Rinderfarmen und dem indigenen Territorium gab, spielte für die Angaité lange keine Rolle: In ihrer Weltanschauung teilen sie sich ohnehin den Raum mit einer Vielzahl von nichtmenschlichen Entitäten – Tieren, Pflanzen und Geistern. Und auch viele Rinderfarmer*innen – deren Aktivitäten sich ja historisch auf die weniger dicht bewachsenen Teile des Waldes beschränkten – störten sich lange nicht übermäßig daran, dass gelegentlich indigene Gruppen durch ihren Besitz zogen.

Dies hat sich mit der Aufheizung des Immobilienmarktes und der Veränderung der Landnutzung massiv gewandelt. Dort, wo der Wald gerodet wurde, sind die Sammel- und Jagdaktivitäten der Angaité nicht mehr möglich und selbst dort, wo der Wald noch intakt ist, wird ihnen zunehmend der Zugang verwehrt.

Deutsche Entwicklungshilfe an der Einschränkung indigener Rechte beteiligt?

Der paraguayischen Verfassung zufolge benötigen die Unternehmen für derartige Rodungen eine Studie über die Umweltfolgen (Relatório de Impacto Ambiental – RIMA) und eine Erlaubnis durch das Umweltsekretariat SEAM. Diese müssen auch eventuell betroffene indigene Rechte auf die Landnutzung berücksichtigen. Doch Analysen zeigen, dass in den RIMA die Auswirkungen auf das weitergehende indigene Territorium völlig vernachlässigt werden. Für das indigene Territorium La Patria der Angaité hat der Anthropologe Glauser die RIMA der benachbarten Farmen der letzten zehn Jahre analysiert. In kaum einer wurden indigene Rechte auch nur erwähnt. In den Gesetzen erkennt der paraguayische Staat indigene Rechte an, so Glauser, de facto erkennen die Rechte aber nur die Interessen der Viehfarmer an.

Mutmaßlich an dieser Entwicklung beteiligt ist eine deutsche Entwicklungsbank. Die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH DEG, eine hundertprozentige Tochter der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW, hält derzeit etwa 15 Prozent der Anteile an dem luxemburgischen Unternehmen Paraguay Agricultural Corporation PAYCO, das unter anderem eine Farm besaß, die unmittelbar an das Angaité-Territorium „La Patria“ angrenzt. War die deutsche Entwicklungshilfe an der Einschränkung indigener Rechte in Paraguay beteiligt?

Genaues könne man nicht sagen, erklärt Philipp Mimkes der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland e. V. Seit mehreren Jahren verfolgt die Organisation die Investitionen der DEG in PAYCO kritisch. Mehrere Anfragen habe FIAN bereits gestellt, doch detailliertere Informationen seien von der DEG nicht zu erhalten. Auch auf Anfrage von LN, was die DEG unternehme, um die Auswirkungen der Geschäfte der PAYCO auf Indigene und die Umwelt zu kontrollieren, antwortet eine Sprecherin der DEG: „Als Kreditinstitut ist die DEG nicht berechtigt, ohne Einwilligung des jeweiligen Kunden interne Informationen, die sie im Rahmen ihrer Geschäftsbeziehung mit diesen erlangt hat, an Dritte weiterzugeben.“

Diese Haltung sei völlig unangemessen, findet Philipp Mimkes: „Über die Bundesrepublik Deutschland sind wir als Bürger*innen praktisch Mitbesitzer*innen von PAYCO und damit haben wir auch eine Verantwortung für die menschenrechtlichen Probleme vor Ort“, erklärt er gegenüber LN und fügt hinzu: „Die Menschenrechte machen vor Staatsgrenzen keinen Halt und die KfW-Bankengruppe hat diese auch extraterritorial zu wahren.“ Was FIAN über die Aktivitäten von PAYCO wisse, habe die internationale Organisation über die Recherche paraguayischer Mitarbeiter*innen erfahren.

„Die DEG verpflichtet von ihr finanzierte Unternehmen vertraglich zur Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialstandards und begleitet sie aktiv bei der Umsetzung. Das gilt auch für PAYCO“, erklärt eine Sprecherin der DEG gegenüber LN. Zudem sehe das Umwelt- und Sozial Managementsystem von PAYCO auch vor, dass „für neue Plantagen Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudien im Einklang mit lokaler Gesetzgebung und internationalen E+S-Standards (IFC Performance Standards) erstellt werden“, so die DEG Sprecherin.

Angesichts der Parteilichkeit der paraguayischen Institutionen zugunsten der Agrarindustrie ist aber fraglich, ob diese Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudien nur auf dem Papier, oder auch in der Realität internationalen Mindeststandards entspricht. Überprüfen kann dies die Öffentlichkeit nicht, solange sensible Daten unter dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse zurückgehalten werden. Dies wäre aber durchaus wichtig, schließlich besitzt PAYCO 1.460 Quadratkilometer Farmland (etwa die Größe des Bodensees) überall in Paraguay und wiederholt wurden auf PAYCO-Farmen Entwaldung und Landkonflikte mit Indigenen dokumentiert, wie FIAN Deutschland in einer Erklärung schreibt. Um doch mehr über die Aktivitäten der PAYCO herauszubekommen, hat FIAN Deutschland gemeinsam mit dem Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) am 21. Juni vor dem Verwaltungsgericht Köln eine Auskunftsklage gegen die KfW-Bankengruppe bezüglich der PAYCO-Investitionen angestrengt. „Die Projekte von KfW und DEG sind an die Ziele der deutschen Entwicklungspolitik gebunden. Eine Kontrolle durch Abgeordnete, Medien und kritische Öffentlichkeit ist jedoch nur möglich, wenn diese die notwendigen Informationen erhalten”, so Philipp Mimkes zur Klage.

Dann ließe sich auch überprüfen, ob die DEG über PAYCO auch an Rodungen beteiligt ist, die das Territorium der in freiwilliger Isolation lebenden Ayoreo Totobiegosode beteiligt ist. Mit den Farmen „Timboty“ und „Carandayty“ liegen zumindest drei ihrer Farmen potenziell im Einzugsgebiet der Ayoreo Totobiegosode. Genaueres kann man jedoch nicht sagen, ehe die DEG der Öffentlichkeit Zugang zu den Informationen gewährt.

AMAZONIENS LANGE NACHT

Es riecht nach Rauch. Wie überall in der Stadt. Wenige Minuten vorher sind wir aus dem Boot gestiegen, das uns aus Guayaramerín, der bolivianischen Schwesterstadt auf der anderen Seite des Flusses Marmoré, nach Guajará-Mirim in Brasilien gebracht hat. Zum Frühstück in der Nähe des Hafens gibt es Tapioca, kleine Pfannkuchen aus Maniokstärke mit Käse. „Außerhalb der Stadt brennen die Viehzüchter ihre Felder ab, damit das Gras jung nachwächst“, berichtet Iremar Ferreira. Seit er 20 Jahre alt ist, setzt sich Ferreira für den Schutz Amazoniens und der indigenen Bevölkerung ein. Eigentlich sollte er Priester werden, doch er heiratete eine Indigene und das Schicksal nahm seinen Lauf. Inzwischen arbeitet er für die Nichtregierungsorganisation Instituto Madeira Vivo. Er selbst wohnt in einem kleinen Dorf am Fluss Madeira in der Nähe von Porto Velho, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rondônia.
Oft greifen die Feuer der Viehzüchter auf Wälder über, erzählt Ferreira. „Das passiert nur, wenn die Vegetation geschwächt ist. Ein gesunder Wald ist zu feucht, um einfach Feuer zu fangen.“ Die diesjährigen Feuer in Amazonien sind ein Symp-tom einer viel tieferen Zerstörung des größten Waldsystems der Erde. Und die Entwicklung hält an: In den nächsten Jahren sollen gigantische Infrastrukturprojekte für die Agrarindustrie und für Bergbauprojekte entstehen.
„Wenn der binationale Staudamm gebaut würde, stünde uns das Wasser hier bis zum Hals!“ Etwa 50 Kilometer stromabwärts, hinter dem Zusammenfluss des Marmoré mit dem Beni, wo der Fluss Madeira heißt, planen die brasilianische und die bolivianische Regierung ein gemeinsames Wasserkraftwerk. Der Staudamm Ribeirão soll Teil eines grenzüberschreitenden Komplexes werden, der insgesamt vier Staudämme umfasst. Die brasilianischen Dämme, Santo Antônio und Jirau, sind bereits 2016 fertiggestellt worden, zwei weitere sollen in Bolivien, beziehungsweise direkt auf der Grenze entstehen. Auch europäische Unternehmen waren beteiligt, ein Konsortium unter Führung des belgischen Unternehmens Tractebel betreibt Jirau, das deutsche Unternehmen Voith Hydro lieferte Turbinen an beide Dämme.

„IIRSA könnte den Todesstoß für den Wald bedeuten“


Doch die Staudämme sollen nicht nur Energie liefern. „Mit den Dämmen sollen die Stromschnellen überflutet werden, um die Flüsse schiffbar zu machen“, so Ferreira. „Diese Pläne sind alle Teil von IIRSA.“ – IIRSA, das ist die „Initiative zur Integration der Regionalen Infrastruktur Südamerikas“, auf die sich im Jahr 2000 zwölf Länder Südamerikas geeinigt haben. Entlang 31 sogenannter „Entwicklungsachsen“ sollen gigantische Infrastrukturprojekte entstehen – Straßen, Staudämme, Wasserstraßen. 14 der 31 Entwicklungsachsen verlaufen durch den amazonischen Regenwald, insbesondere durch entlegene Regionen, die bislang von dem wirtschaftlichen Boom und damit der ökologischen Zerstörung verschont geblieben waren. „IIRSA könnte den Todesstoß für den Wald bedeuten“, so Ferreira.
Wir gehen einige Schritte weiter und kommen an dem Bahnhof von Guajará-Mirim vorbei. Seit dem Jahr 2000 fahren hier keine Züge mehr. Als Denkmal stehen hier noch einige Dampfloks der „Estrada de Ferro Madeira-Marmoré“, die während des Kautschukbooms Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden war. Auch damals stellten die Stromschnellen der großen Flüsse ein kaum zu überwindendes Hindernis dar. Als 1903 Bolivien das Gebiet von Acre per Vertrag an Brasilien abtrat, vereinbarten die beiden Regierungen als Kompensation den Bau der Eisenbahnstrecke. Bolivien versprach sich viel von dem Projekt: Dem Land ohne Meereszugang seit 1903 sollte die Bahnstrecke den Zugang zum Atlantik über den Amazonas gewährleisten. Das Projekt erhielt den Spitznamen „Eisenbahn des Teufels“: Schätzungen zufolge starben zwischen 6.000 bis 10.000 Arbeiter*innen. Als die Eisenbahn 1912 fertiggestellt war, hatte auch der Kautschukboom sein Ende genommen, da Plantagen in den britischen Kolonien Südostasiens billiger produzieren konnten.
Nun sollen die Staudämme und die Wasserstraße den von Bolivien so ersehnten schnelleren Zugang zum Meer und damit zum Weltmarkt ermöglichen. Wenn die Stromschnellen überwunden sind, könnten bis zu 4.000 Kilometer Wasserwege in Bolivien an den Atlantik angebunden werden. „Hinter dem Projekt IIRSA steckt die brasilianische Agrarindustrie“, erzählt Ferreira. „Es geht um Viehzucht und den Anbau von Soja, Sonnenblumen, Weizen und Mais.“ In den Studien zu dem Projekt ist die Rede von einem Potenzial von 24 Millionen Tonnen Soja pro Jahr, das in Bolivien produziert werden könnte. Viele brasilianische Unternehmer*innen drängen mittlerweile auf den bolivianischen Markt. „Und dann gibt es noch Kassiterit-Lagerstätten.“ Aus dem wirtschaftlich bedeutenden Erz Kassiterit kann Zinn gewonnen werden, was die Begehrlichkeiten von Bergbaufirmen erregt.
Die Dynamik der Inwertsetzung dieses Gebietes für Bergbau und Agrarindustrie ist es auch, die die aktuellen Brände verursache, erzählt Ferreira. Mit dem Bau jeder neuen Straße in Amazonien entsteht das berüchtigte Fischgrätmuster: Von den Überlandstraßen gehen kleinere Straßen ab, von denen die Entwaldung ausgeht. Auf Satellitenaufnahmen entsteht so ein Grätenmuster inmitten des Waldes. Dies macht ihn anfälliger: Von den Straßen aus ins Innere des Waldes sinkt die Feuchtigkeit um 60 Prozent – der trockenere Wald kann leichter Feuer fangen.
Laut Ferreira, der selbst Mitglied der Arbeiterpartei PT ist, begann diese fatale Entwicklung bereits unter den Regierungen seiner Parteigenoss*innen Luiz Inácio „Lula“ da Silva (2003-2011) und dessen Nachfolgerin Dilma Rousseff (2011-2016). „Als Lula die Gesetze für die öffentlich-privaten Partnerschaften im Jahr 2004 erlassen hatte, wurden die ganzen Projekte von IIRSA möglich gemacht. Am Madeira begann dann das, was ich die Große Nacht für Amazonien nenne.“ Mit der aktuellen Regierung unter Jair Bolsonaro hätte sich die Situation enorm verschlimmert. Die beiden Staudämme Santo Antônio und Jirau waren die ersten beiden großen Infrastrukturprojekte, die im Rahmen von IIRSA realisiert wurden. Die Kraftwerke haben zu zahlreichen sozialen und ökologischen Problemen geführt. Anfang 2014 kam es zu einer großen Flut, die durch den Rückstaueffekt der Dämme verstärkt wurden. „Wenn man über die Flüsse fliegt, sieht man, wie sie sich durch die Landschaft schlängeln. Im April 2014 sah man aber nur einen geraden Fluss: Alles dazwischen war überflutet“, erzählt Ferreira. Die Betreiber der Kraftwerke leugnen dagegen, dass die Flut durch die Staudämme verursacht wurde. „Sie manipulieren die Daten, um sich aus der Verantwortung zu stehlen“, kommentiert Ferreira.

„Bis hier stand das Wasser“ Haus und Hof von Doña Flora wurden überschwemmt // Fotos: Thilo F. Papacek

Auch ohne Flut sind die Folgen der Staudämme für die Bevölkerung auf der anderen Seite des Grenzflusses in Bolivien zu spüren. In dem Städtchen Cachuela Esperanza – dem „Wasserfall der Hoffnung“ – am Fluss Beni treffe ich Vertreter*innen der Fischervereinigung. Seit die Staudämme auf der brasilianischen Seite gebaut worden sind, seien ihre Erträge um 80 Prozent zurückgegangen, weil die Fischmigrationen unterbrochen wurden. „Früher sah man hier Unmengen von Fischen die Stromschnellen hochspringen, wenn die Wanderungen kamen. Das ist jetzt vorbei“, erzählt einer der Fischer.

„Wovon sollen wir leben, wenn der Wald verschwindet?“


Auch hier soll ein Staudamm gebaut werden, auch um Stromschnellen zu überfluten. Dann würde fast der ganze Ort verschwinden. „Uns erzählen sie, dass mit dem Bau der Staudämme Arbeitsplätze entstehen. Ja, vielleicht für drei oder vier Jahre. Und was ist dann? Wovon sollen wir leben?“, sagt Don Elías Inumo, Präsident der Fischervereinigung.
Würde Cachuela Esperanza durch einen Staudamm überflutet werden, verschwände auch ein Teil des historischen Erbes von Amazonien. Cachuela Esperanza war 1882 von dem bolivianischen Kautschukbaron Nicolás Suárez Callaú gegründet worden, der hier das Zentrum seines Handelsimperiums mit modernster Einrichtung aufbaute. Viele Gebäude, die teilweise verfallen, künden noch von dieser Zeit, die Villen der Suárez-Familie, Verwaltungsgebäude und das erste Theatergebäude der Region. „Es tut mir weh zu sehen, wie das hier alles aussieht!“, erzählt mir Rafael Suárez, einer der vielen Urenkel des Ortsgründers. Er lebt, wie fast alle im Ort, vom Fischfang und vom Sammeln der Pará-Nuss, die hier „Castaña“ genannt wird. „Wenn der Wald verschwindet, können wir keine Nüsse mehr sammeln. Wovon sollen wir leben?“, fragt Don Rafael.

„Wenn der Staudamm gebaut wird, muss ich hier weg.“


Möglichkeiten für alternative Entwicklung gibt es. „Cachuela Esperanza hat ein großes touristisches Potenzial. Aber dazu müsste sich die Regierung auch um die Denkmäler kümmern“, sagt Lidia Antty von der Kommunalen Organisation Amazonischer Frauen (OCMA). In der Region gibt es noch viele Wildtiere, in den Flüssen leben Amazonas-Delfine. „Man könnte Öko-Tourismus mit Beteiligung der Bevölkerung durchführen“, meint Lidia Antty.
OCMA unterstützt auch Agroforstprojekte von Kleinbäuerinnen und -bauern. Gemeinsam sind wir in den Nachbarort Cachuela Marmoré gefahren und besuchen den Chaqueo, das kleine Feld von Flora Aracupa Chan. Die 70-Jährige führt uns durch ihre Landparzelle. Zwischen Kakaobäumen, Bananen und anderen Obstbäumen wachsen auch Edelhölzer. Wenige Hektar können auf diese Weise eine Familie ernähren. Auf den Viehweiden, die an das Dorf angrenzen, stehen dagegen drei Rinder pro Hektar. „Diese Form der Bewirtschaftung hält Feuer besser stand“, erklärt Lidia Antty. Die Agroforstbetriebe schützen also auch den Wald: Sie erhalten die Feuchtigkeit mit der Vegetation und schützen so vor Bränden.
Von der Flut 2014 war der Betrieb von Doña Flora ebenfalls betroffen. Monatelang standen ihr Haus und ihre Obsthaine unter Wasser, die meisten Bäume starben. Während dieser Zeit musste sie in einem Zelt wohnen. Staatliche Hilfe oder Entschädigung bekam sie keine. Und auch die geplanten Projekte würden sie betreffen. „Wenn der Staudamm gebaut wird, muss ich hier weg“, erzählt Doña Flora. „Aber wo soll ich hin? Mit über 70 kann ich doch nicht noch einmal anfangen!“ Die Infrastrukturprojekte in Amazonien sollen Entwicklung in die Region bringen, sagen Regierungsvertreter*innen. Doch die Kleinbäuerinnen und -bauern und Fischer*innen der Region müssten wahrscheinlich aufgeben.

 

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