AMAZONIENS LANGE NACHT

Es riecht nach Rauch. Wie überall in der Stadt. Wenige Minuten vorher sind wir aus dem Boot gestiegen, das uns aus Guayaramerín, der bolivianischen Schwesterstadt auf der anderen Seite des Flusses Marmoré, nach Guajará-Mirim in Brasilien gebracht hat. Zum Frühstück in der Nähe des Hafens gibt es Tapioca, kleine Pfannkuchen aus Maniokstärke mit Käse. „Außerhalb der Stadt brennen die Viehzüchter ihre Felder ab, damit das Gras jung nachwächst“, berichtet Iremar Ferreira. Seit er 20 Jahre alt ist, setzt sich Ferreira für den Schutz Amazoniens und der indigenen Bevölkerung ein. Eigentlich sollte er Priester werden, doch er heiratete eine Indigene und das Schicksal nahm seinen Lauf. Inzwischen arbeitet er für die Nichtregierungsorganisation Instituto Madeira Vivo. Er selbst wohnt in einem kleinen Dorf am Fluss Madeira in der Nähe von Porto Velho, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rondônia.
Oft greifen die Feuer der Viehzüchter auf Wälder über, erzählt Ferreira. „Das passiert nur, wenn die Vegetation geschwächt ist. Ein gesunder Wald ist zu feucht, um einfach Feuer zu fangen.“ Die diesjährigen Feuer in Amazonien sind ein Symp-tom einer viel tieferen Zerstörung des größten Waldsystems der Erde. Und die Entwicklung hält an: In den nächsten Jahren sollen gigantische Infrastrukturprojekte für die Agrarindustrie und für Bergbauprojekte entstehen.
„Wenn der binationale Staudamm gebaut würde, stünde uns das Wasser hier bis zum Hals!“ Etwa 50 Kilometer stromabwärts, hinter dem Zusammenfluss des Marmoré mit dem Beni, wo der Fluss Madeira heißt, planen die brasilianische und die bolivianische Regierung ein gemeinsames Wasserkraftwerk. Der Staudamm Ribeirão soll Teil eines grenzüberschreitenden Komplexes werden, der insgesamt vier Staudämme umfasst. Die brasilianischen Dämme, Santo Antônio und Jirau, sind bereits 2016 fertiggestellt worden, zwei weitere sollen in Bolivien, beziehungsweise direkt auf der Grenze entstehen. Auch europäische Unternehmen waren beteiligt, ein Konsortium unter Führung des belgischen Unternehmens Tractebel betreibt Jirau, das deutsche Unternehmen Voith Hydro lieferte Turbinen an beide Dämme.

„IIRSA könnte den Todesstoß für den Wald bedeuten“


Doch die Staudämme sollen nicht nur Energie liefern. „Mit den Dämmen sollen die Stromschnellen überflutet werden, um die Flüsse schiffbar zu machen“, so Ferreira. „Diese Pläne sind alle Teil von IIRSA.“ – IIRSA, das ist die „Initiative zur Integration der Regionalen Infrastruktur Südamerikas“, auf die sich im Jahr 2000 zwölf Länder Südamerikas geeinigt haben. Entlang 31 sogenannter „Entwicklungsachsen“ sollen gigantische Infrastrukturprojekte entstehen – Straßen, Staudämme, Wasserstraßen. 14 der 31 Entwicklungsachsen verlaufen durch den amazonischen Regenwald, insbesondere durch entlegene Regionen, die bislang von dem wirtschaftlichen Boom und damit der ökologischen Zerstörung verschont geblieben waren. „IIRSA könnte den Todesstoß für den Wald bedeuten“, so Ferreira.
Wir gehen einige Schritte weiter und kommen an dem Bahnhof von Guajará-Mirim vorbei. Seit dem Jahr 2000 fahren hier keine Züge mehr. Als Denkmal stehen hier noch einige Dampfloks der „Estrada de Ferro Madeira-Marmoré“, die während des Kautschukbooms Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden war. Auch damals stellten die Stromschnellen der großen Flüsse ein kaum zu überwindendes Hindernis dar. Als 1903 Bolivien das Gebiet von Acre per Vertrag an Brasilien abtrat, vereinbarten die beiden Regierungen als Kompensation den Bau der Eisenbahnstrecke. Bolivien versprach sich viel von dem Projekt: Dem Land ohne Meereszugang seit 1903 sollte die Bahnstrecke den Zugang zum Atlantik über den Amazonas gewährleisten. Das Projekt erhielt den Spitznamen „Eisenbahn des Teufels“: Schätzungen zufolge starben zwischen 6.000 bis 10.000 Arbeiter*innen. Als die Eisenbahn 1912 fertiggestellt war, hatte auch der Kautschukboom sein Ende genommen, da Plantagen in den britischen Kolonien Südostasiens billiger produzieren konnten.
Nun sollen die Staudämme und die Wasserstraße den von Bolivien so ersehnten schnelleren Zugang zum Meer und damit zum Weltmarkt ermöglichen. Wenn die Stromschnellen überwunden sind, könnten bis zu 4.000 Kilometer Wasserwege in Bolivien an den Atlantik angebunden werden. „Hinter dem Projekt IIRSA steckt die brasilianische Agrarindustrie“, erzählt Ferreira. „Es geht um Viehzucht und den Anbau von Soja, Sonnenblumen, Weizen und Mais.“ In den Studien zu dem Projekt ist die Rede von einem Potenzial von 24 Millionen Tonnen Soja pro Jahr, das in Bolivien produziert werden könnte. Viele brasilianische Unternehmer*innen drängen mittlerweile auf den bolivianischen Markt. „Und dann gibt es noch Kassiterit-Lagerstätten.“ Aus dem wirtschaftlich bedeutenden Erz Kassiterit kann Zinn gewonnen werden, was die Begehrlichkeiten von Bergbaufirmen erregt.
Die Dynamik der Inwertsetzung dieses Gebietes für Bergbau und Agrarindustrie ist es auch, die die aktuellen Brände verursache, erzählt Ferreira. Mit dem Bau jeder neuen Straße in Amazonien entsteht das berüchtigte Fischgrätmuster: Von den Überlandstraßen gehen kleinere Straßen ab, von denen die Entwaldung ausgeht. Auf Satellitenaufnahmen entsteht so ein Grätenmuster inmitten des Waldes. Dies macht ihn anfälliger: Von den Straßen aus ins Innere des Waldes sinkt die Feuchtigkeit um 60 Prozent – der trockenere Wald kann leichter Feuer fangen.
Laut Ferreira, der selbst Mitglied der Arbeiterpartei PT ist, begann diese fatale Entwicklung bereits unter den Regierungen seiner Parteigenoss*innen Luiz Inácio „Lula“ da Silva (2003-2011) und dessen Nachfolgerin Dilma Rousseff (2011-2016). „Als Lula die Gesetze für die öffentlich-privaten Partnerschaften im Jahr 2004 erlassen hatte, wurden die ganzen Projekte von IIRSA möglich gemacht. Am Madeira begann dann das, was ich die Große Nacht für Amazonien nenne.“ Mit der aktuellen Regierung unter Jair Bolsonaro hätte sich die Situation enorm verschlimmert. Die beiden Staudämme Santo Antônio und Jirau waren die ersten beiden großen Infrastrukturprojekte, die im Rahmen von IIRSA realisiert wurden. Die Kraftwerke haben zu zahlreichen sozialen und ökologischen Problemen geführt. Anfang 2014 kam es zu einer großen Flut, die durch den Rückstaueffekt der Dämme verstärkt wurden. „Wenn man über die Flüsse fliegt, sieht man, wie sie sich durch die Landschaft schlängeln. Im April 2014 sah man aber nur einen geraden Fluss: Alles dazwischen war überflutet“, erzählt Ferreira. Die Betreiber der Kraftwerke leugnen dagegen, dass die Flut durch die Staudämme verursacht wurde. „Sie manipulieren die Daten, um sich aus der Verantwortung zu stehlen“, kommentiert Ferreira.

„Bis hier stand das Wasser“ Haus und Hof von Doña Flora wurden überschwemmt // Fotos: Thilo F. Papacek

Auch ohne Flut sind die Folgen der Staudämme für die Bevölkerung auf der anderen Seite des Grenzflusses in Bolivien zu spüren. In dem Städtchen Cachuela Esperanza – dem „Wasserfall der Hoffnung“ – am Fluss Beni treffe ich Vertreter*innen der Fischervereinigung. Seit die Staudämme auf der brasilianischen Seite gebaut worden sind, seien ihre Erträge um 80 Prozent zurückgegangen, weil die Fischmigrationen unterbrochen wurden. „Früher sah man hier Unmengen von Fischen die Stromschnellen hochspringen, wenn die Wanderungen kamen. Das ist jetzt vorbei“, erzählt einer der Fischer.

„Wovon sollen wir leben, wenn der Wald verschwindet?“


Auch hier soll ein Staudamm gebaut werden, auch um Stromschnellen zu überfluten. Dann würde fast der ganze Ort verschwinden. „Uns erzählen sie, dass mit dem Bau der Staudämme Arbeitsplätze entstehen. Ja, vielleicht für drei oder vier Jahre. Und was ist dann? Wovon sollen wir leben?“, sagt Don Elías Inumo, Präsident der Fischervereinigung.
Würde Cachuela Esperanza durch einen Staudamm überflutet werden, verschwände auch ein Teil des historischen Erbes von Amazonien. Cachuela Esperanza war 1882 von dem bolivianischen Kautschukbaron Nicolás Suárez Callaú gegründet worden, der hier das Zentrum seines Handelsimperiums mit modernster Einrichtung aufbaute. Viele Gebäude, die teilweise verfallen, künden noch von dieser Zeit, die Villen der Suárez-Familie, Verwaltungsgebäude und das erste Theatergebäude der Region. „Es tut mir weh zu sehen, wie das hier alles aussieht!“, erzählt mir Rafael Suárez, einer der vielen Urenkel des Ortsgründers. Er lebt, wie fast alle im Ort, vom Fischfang und vom Sammeln der Pará-Nuss, die hier „Castaña“ genannt wird. „Wenn der Wald verschwindet, können wir keine Nüsse mehr sammeln. Wovon sollen wir leben?“, fragt Don Rafael.

„Wenn der Staudamm gebaut wird, muss ich hier weg.“


Möglichkeiten für alternative Entwicklung gibt es. „Cachuela Esperanza hat ein großes touristisches Potenzial. Aber dazu müsste sich die Regierung auch um die Denkmäler kümmern“, sagt Lidia Antty von der Kommunalen Organisation Amazonischer Frauen (OCMA). In der Region gibt es noch viele Wildtiere, in den Flüssen leben Amazonas-Delfine. „Man könnte Öko-Tourismus mit Beteiligung der Bevölkerung durchführen“, meint Lidia Antty.
OCMA unterstützt auch Agroforstprojekte von Kleinbäuerinnen und -bauern. Gemeinsam sind wir in den Nachbarort Cachuela Marmoré gefahren und besuchen den Chaqueo, das kleine Feld von Flora Aracupa Chan. Die 70-Jährige führt uns durch ihre Landparzelle. Zwischen Kakaobäumen, Bananen und anderen Obstbäumen wachsen auch Edelhölzer. Wenige Hektar können auf diese Weise eine Familie ernähren. Auf den Viehweiden, die an das Dorf angrenzen, stehen dagegen drei Rinder pro Hektar. „Diese Form der Bewirtschaftung hält Feuer besser stand“, erklärt Lidia Antty. Die Agroforstbetriebe schützen also auch den Wald: Sie erhalten die Feuchtigkeit mit der Vegetation und schützen so vor Bränden.
Von der Flut 2014 war der Betrieb von Doña Flora ebenfalls betroffen. Monatelang standen ihr Haus und ihre Obsthaine unter Wasser, die meisten Bäume starben. Während dieser Zeit musste sie in einem Zelt wohnen. Staatliche Hilfe oder Entschädigung bekam sie keine. Und auch die geplanten Projekte würden sie betreffen. „Wenn der Staudamm gebaut wird, muss ich hier weg“, erzählt Doña Flora. „Aber wo soll ich hin? Mit über 70 kann ich doch nicht noch einmal anfangen!“ Die Infrastrukturprojekte in Amazonien sollen Entwicklung in die Region bringen, sagen Regierungsvertreter*innen. Doch die Kleinbäuerinnen und -bauern und Fischer*innen der Region müssten wahrscheinlich aufgeben.

 

ZWISCHEN SEEBÄREN UND HUMBOLDTKALMAREN

Fotos: Hannes Conradty

Ein riesiger Kasten versperrt die Sicht. Mitten in der Bucht der Hafenstadt San Antonio steht ein riesiges, mit ordentlich Schmiergeld genehmigtes Einkaufszentrum, welches das Meer vor der Hafenstadt versteckt. Hinter diesem himmelblau angemalten Klotz treffen wir uns am puertecito, dem Hafen der Kleinfischer*innen, mit Miguel Hernández, um über die Fischerei in Chile zu reden. Miguel Hernández ist 57, Fischer und Gewerkschafter, verwaltet das Gewerkschaftsgebäude im Hafen von San Antonio und hat überhaupt mehr Ehrenämter als man aufzählen kann. Kenntnisreich erklärt er sämtlich Probleme der pescadores artesanales, der Kleinfischer*innen in Chile; er kennt jedes noch so kleine administrative Problem, genauso wie die großen Probleme, namentlich das Fischereigesetz, das die Fischerei-Industrie klar bevorteile. „Ich glaube, wir von den sozialen Bewegungen müssen die notwendigen Veränderungen erreichen.“ Ob die Kleinfischerei eine Zukunft habe? „Es wird immer Leute geben, die aufs Meer rausfahren. Was bleibt auch sonst?“ Tatsächlich steckt die Fischerei in Chile nicht erst seit Kurzem in der Krise. Die Bestände fast sämtlicher Speisefische sind so stark überfischt, dass die Kleinfischer*innen kaum über die Runden kommen. Das, was an Fisch übrig ist, erreicht kaum ein reproduktionsfähiges Alter und wird von schwimmenden Fabriken, die mit Schleppnetzen arbeiten, weggefangen. Übrig bleibt wenig bis gar nichts für die über 70.000 Kleinfischer*innen in Chile, die in Küstennähe und mit kleinen, maximal 18 Meter langen Booten fischen. Eigentlich ideal, wollte man nachhaltigen Fischfang. Aber der kapitalistische Fortschritt hat Vorrang vor Nachhaltigkeit.

“Es wird immer Leute geben, die auf’s Meer rausfahren werden. Was bleibt auch sonst?”

Im Flur nebenan hat Cristian Miranda sein Büro. Gäbe es den Begriff Seebär noch nicht, müsste er für ihn erfunden werden. An ein Interview ist nicht zu denken, in seinem Büro ist eine Gruppe älterer Fischer, die lautstark diskutieren. Der Gewerkschafter der Gewerkschaft Montemar, eines der neun untereinander zerstrittenen Fischersyndikate im Hafen von San Antonio, ist dabei der Ruhepol, der zuhört und am Ende seine Meinung abgibt, die viel Gewicht hat. Neben dem Fischereigesetz ist es der Hafenneubau des Frachthafens von San Antonio, der megapuerto, der den Fischer*innen Kopfzerbrechen bereitet. Dieser verseucht die Bucht und zerstört die Brutstätten der Fische. Der Aushub wird in Küstennähe in die Bucht geschüttet und verschlammt das Wasser. Die Fischer*innen hier sind angespannt und wütend ob der Politik, die ihnen Probleme macht. Hoffnung in den parlamentarischen Prozess haben sie nicht. „Sie regen sich auf, wenn hier ein paar Autoreifen brennen, aber ich sag‘s euch, damit sich in diesem Land etwas ändert, muss Blut fließen! Auf die Politiker kann man sich nicht verlassen!“


Wir treffen uns um 18 Uhr mit Kapitän Jorge Ambrosetti, oder Cobre Loa, wie er von allen genannt wird. Ein weiterer Seebär mit mehr als 30 Jahren Erfahrung: „Ich hab schon alles gefischt, Merluza, Congrio, alles außer Wale.“ Mit festem Händedruck begrüßt er uns und stellt uns die Mannschaft vor, mit der wir die nächsten 14 Stunden verbringen werden: Miguel, mit strahlend blauen Augen, und Beto, der seinen Spitznamen auf die Finger der rechten Hand tätowiert hat. Wir werden mit einem kleinen Ruderboot zu einer nicht ganz so kleinen, rund sechs Meter langen Schaluppe gebracht, die dann beladen wird. An das Heck werden zwei Scheinwerfer montiert. „Damit locken wir die jibia an“, sagt Miguel. Jibia ist der chilenische Name für Humboldtkalmare, Kopffüssler, die bis zu einem Meter lang und bis zu 50 Kilo schwer werden können. Kannibalische Tiefseeungeheuer, die sich aber zunehmender kulinarischer Beliebtheit erfreuen und vor allem nach Südkorea exportiert werden. Die Kalmare sind die Beute, die die Kleinfischerei – zumindest in San Antonio – am Leben hält und darüber hinwegtäuscht, dass sämtliche anderen Fischbestände fast kollabiert sind.

Während der Außenborder das Boot aus dem Hafenbecken heraustreibt, ziehen die drei Fischer schichtweise Pullis, Hosen, Mützen und Handschuhe an, bis am Ende das Ölzeug über alles gezogen wird. Auf offenem Meer ist von den sommerlichen Temperaturen wenig zu spüren, nachts umso weniger. Mit jedem Meter, den wir uns vom Hafen entfernen, wird die See unruhiger und die Nussschale, in der wir sitzen, schaukelt auf den Wellen in alle Richtungen. „Ihr müsst aufpassen, dass ihr nicht nass werdet, die jibias spucken Wasser und Tinte“, erzählt Cobre Loa. „Und klebrigen Sabber!“ ruft Beto und bricht in schallendes Gelächter aus.

“Man muss oft rausfahren bis das Meer sagt: Der taugt mir.”


„Werdet ihr seekrank?“, fragt Miguel, während wir die ersten Wellenhügel erklimmen und hinabgleiten und immer weiter hinausfahren. Wir werden zehn Seemeilen, rund 25 Kilometer, auf das Meer fahren, was weit über die fünf Seemeien hinausgeht, in denen die Kleinfischer*innen Fische fangen dürfen. Aber der Bau des Megahafens fordert seinen Tribut. „Wir müssen so weit rausfahren, weil der ganze Aushub vom Hafenbau innerhalb der fünf Meilen abgeladen wird. Die ganzen Schwermetalle und das Öl, das von den Schiffen kommt, vertreiben die Fische.“ Die doppelte Distanz bedeutet auch die doppelte Treibstoffmenge, was einen großen Teil der Kosten der Fischer ausmacht. 60 Liter verbraucht so eine Fahrt.

„Ich habe vier Kinder, aber keins will aufs Meer. Fischen ist eine Arbeit für Grobiane, aber sie gibt einem Freiheit, es gibt keinen Chef, keiner sagt, wann wir rausfahren sollen und wann nicht“, erklärt Cobre Loa, während er an seinem Tee nippt und das Boot steuert. Mittlerweile sind wir sechs Seemeilen von der Küste entfernt, die Wellen werden immer höher und die Küstenlinie verschwindet immer wieder hinter Wasserwänden, nur um danach wieder aufzutauchen.

Gegen 21.30 Uhr kommen wir dort an, wo wir ankommen wollen, mitten im Meer. Wie Kapitän Cobre Loa diesen Flecken Wasser von irgendeinem anderen unterscheiden kann, ist ein Rätsel, GPS oder Ähnliches hat er nicht. Aber um das Boot herum sind weitere Fischerboote zu sehen, die wohl das gleiche Ziel haben. Die Sonne geht unter und mit jedem Wellental, in das das Boot sinkt, sehen wir einen neuen Sonnenuntergang. Die Küste ist längst nicht mehr zu sehen.

Eine halbe Stunde später ist es fast dunkel und die Fischerei beginnt. Mit Widerhaken besetzte fluoreszierende Zylinder, die Tintenfischen nachempfunden sind, werden an stabilen Leinen ins Wasser gelassen und versinken schnell. Sobald sie stillstehen, werden sie nach oben gezogen. In den nächsten zehn Minuten passiert wenig, bis auf einmal vor Beto eine Wasserfontäne nach oben schießt und sich das Wasser kurz dunkel verfärbt. Der erste Humboldtkalmar der Fahrt wird an der Leine bis an die Bordwand hochgezogen, dann schnell mit einem Schüreisen auf das Boot verfrachtet. Das einen Meter lange Tier krächzt, dann wird ihm der Kopf abgeschnitten. Der Körper des Kalmars pulsiert noch kurz in verschiedenen Farben und röchelt erbärmlich. Fast im Minutentakt wird ein anderes Tier nach oben gezogen. Um uns herum haben sich Seevögel versammelt. „Die Seevögel ziehen die Seelöwen an“, erklärt Cobre Loa.

Sobald einer der Fischer einen Kalmar an der Leine hat, ruft er den anderen zu, in welcher Tiefe er ihn erwischt hat: „35!“ „40!“ Miguel erklärt uns, dass das die Anzahl der Armspannen ist. „Verdammter Seelöwe!“, ruft Cobre Loa und zieht einen halben Kalmar ins Boot. Es passiert immer öfter, dass beim Hochziehen der Beute die Seelöwen den Fischern die Kalmare vom Haken fressen. „Die Seelöwen sind faul, die gehen nicht selber jagen, sondern klauen uns die jibias“, empört sich Cobre Loa. Nach einer Stunde sind die Haken so gut wie immer leer und das Boot zieht weiter. Es ist stockduster, das einzige Licht kommt von den Sternen und kleinen biolumineszenten Algen, die kurz aufleuchten, wenn das Wasser vom Boot aufgewirbelt wird. „Am Anfang werden alle seekrank“, meint Miguel, nachdem ich mich zum wiederholten Male über die Bordkante übergeben habe. „Es dauert Jahre, bis man sich daran gewöhnt. Man muss so oft rausfahren, bis das Meer sagt: Der taugt was.“

Am nächsten ausgewählten Ort geht die Routine weiter, Kalmare werden ans Boot gezogen, spritzen Wasser, Tinte und übel riechenden Sabber, röcheln, werden geköpft. Die Seelöwen kommen, um uns herum pechschwarze Nacht. Immer wieder wechseln wir die Stelle, an der die Leinen ins Wasser gelassen werden. Ein Schwarm jurels, sardinenartige Fische, lässt Cobre Loa, Miguel und Beto innehalten und fachsimpeln. Irgendwann gegen sechs Uhr morgens geht die Sonne wieder auf und wir fahren zurück in Richtung San Antonio. Fast zwei Tonnen Kalmar sind an Bord. Die Fischer entspannen sich und nutzen – bis auf Kapitän Cobre Loa – die Zeit, um kurz zu schlafen. Nach zwei Stunden Fahrt erreichen wir den Hafen. Miguel muss gleich weiter zu seinem Tagesjob in einem Supermarkt. Abends geht es aber wieder aufs Meer: „Diese Woche fahren wir noch vier Mal.“ Während die jibias an Land gebracht werden, spielen einige Fischer Dame mit Einsatz, um sich die Zeit zu vertreiben.

Abends treffen wir uns mit Don Jesus Fernández von der Fischereigewerkschaft San Pedro, die nicht im Gewerkschaftshaus sitzt, sondern am anderen Ende des Hafens ein eigenes Gebäude mit eigenem Restaurant besitzt. Don Jesus ist seit mehr als 20 Jahren Präsident der Gewerkschaft. Im dunkel vertäfelten Hinterzimmer erklärt er hinter einem massiven Schreibtisch das Konzept seiner Gewerkschaft. Auch wenn er die Kritik am Megahafen, dem Fischereigesetz und der Schleppnetzfischerei teilt, redet er nicht viel von Kampf und Streik, dafür mehr von den Geschäftsmöglichkeiten und dem Profit, den die Gewerkschaft mit ihrem Restaurant für die Mitglieder abwirft. „Wir betreiben unsere Gewerkschaft wie ein Unternehmen, könnte man sagen. Die anderen machen Versammlungen, sagen, dass man auf die Straße gehen müsse, aber die Mitglieder haben wenig davon. Hier bekommt jeder am Ende des Jahres 500.000 Pesos.“ Das sind rund 650 Euro – ob dieser Betrag ihre Zukunft sichern kann, ist mehr als zweifelhaft. In San Antonio zumindest ist die Resignation von Don Jesus Fernández nur eine der unterschiedlichen Positionen in der Kleinfischerei.

VERDORBENE FISCHEREI

Welche Art von Kämpfen führt Ihre Gewerkschaft gerade?
Im Moment geht es vor allem um das neue Fischereigesetz – das „Longueira-Gesetz“, die Schleppnetzfischerei und die allgemeine Gesetzgebung bezüglich der Fischerei. Diese Politiken und Gesetze sind sehr kurzfristig gedacht. Zum Beispiel die Vergabe der Fangquoten: Die wissenschaftliche Kommission legt einen Rahmen für die Fangmenge fest, ein Minimum und Maximum, und die Quoten werden immer bis zum Höchsten ausgereizt. Die Regierung und die Autoritäten reden von Nachhaltigkeit. Was aber hat das zu bedeuten, wenn zum Beispiel die Fangquote für Humboldtkalmare von der Kommission auf 160.000 bis 200.000 Tonnen festgelegt wird? Wir appellieren, dass die Quote auf 160.000 Tonnen beschränkt wird um nachhaltig fischen zu können, letztlich wird sie aber auf 200.000 Tonnen festgelegt.

Und welche Konsequenzen hat das?
Zusammen mit der Schleppnetzfischerei führt das dazu, dass die Fangmengen immer kleiner werden, und auch die einzelnen Fische immer kleineren Kalibers sind. Die Fische wachsen nicht mehr bis zur Geschlechtsreife, was dazu führt, dass ganze Populationen kollabieren und sich nicht mehr reproduzieren.
Bei der merluza (Schwarzer Seehecht, einer der in Chile beliebtesten Speisefische, Anm. d. Red.) zeigt sich das am besten. Jedes Jahr sinkt die Biomasse dieser Fischart in ganz Chile um sechs Prozent, wir schätzen, dass die Zahl hier in der fünften Region sogar bei circa 30 Prozent liegt – eine Folge der Schleppnetzfischerei. Hier in der fünften Region operieren etwa zehn große Garnelenfischerboote. Der Lebensraum der merluza ist der gleiche wie der der Garnelen. Die Seehechte gehen als Beifang ins Netz und werden dann einfach über Bord geworfen. Die Regierung sagt dazu, „man muss weniger fangen, um besser zu verkaufen“. Aber die Frage ist: Haben die Armen kein Recht zu essen? Soll nur die Elite das Recht haben die teure merluza zu essen?

Was ist das Problem mit dem „Longueira-Gesetz“?
Das grundsätzliche Problem ist die Frage danach, wem die natürlichen Ressourcen gehören. Wir fragen uns, wie das gehen soll: „Hier hast du die Ressourcen für die nächsten 20 Jahre, und wenn du dich gut verhältst bekommst du sie gleich für die nächsten 20 Jahre.“ Das Gesetz hat dazu geführt, dass große Unternehmen über Generationen hinweg die Fangquoten bekommen. Das wird dann nur alle zehn Jahre überprüft! Die Ressourcen werden dann nicht vom Staat, sondern von Privatunternehmen verwaltet.

Es gibt ja auch große Vorwürfe dazu, wie das Gesetz zustande gekommen ist.
Das Gesetz ist mit viel Korruption verabschiedet worden. Es laufen auch schon Gerichtsverfahren deswegen. Die CORPESCA, die zur Angellini-Gruppe gehört, hat den Abgeordneten praktisch diktiert, wie die abstimmen sollen. Der Senator Fulvio Rossi von der sozialistischen Partei, der Senator Jaime Orpis von der UDI oder Clemira Pacheco, auch von der Sozialistischen Partei, haben 140 Millionen Pesos (ca. 180.000 €, Anm. d. Red.) erhalten. Es reicht schon, die Bücher anzuschauen um zu sehen, dass das Korruption ist. Alle an der Gesetzgebung Beteiligten waren pro-Industrie, und Leute von der Sozialistischen Partei gehen Hand in Hand mit denen der ultrarechten UDI.

Denken Sie, dass die Möglichkeit besteht gegen das Gesetz vorzugehen?
Ich glaube, dass wir von den sozialen Bewegungen die notwendigen Veränderungen erreichen müssen. Alles ist verdorben. Wie kann es sein, dass eine Genossin von der Sozialistischen Partei zusammen mit der UDI die Interessen der großen Unternehmen verteidigt?
Ich bin zum Beispiel Mitglied des Nationalen Rates der Fischerei. Das ist eine Mafia! Zum Beispiel was den Kabeljau betrifft, der im Moment pro Kilo 14.000 Pesos kostet (circa 20 €). Eigentlich sind Fabrikschiffe, also Schiffe, die den Fang schon auf See verarbeiten, verboten. Jetzt wurde aber auf einmal so ein Schiff von Globalpesca für den Fang von Kabeljau zugelassen. Und das, obwohl von dieser Firma vor Kurzem 7.500 Tonnen Fischmehl, also 42.000 Tonnen unverarbeiteter Fisch beschlagnahmt wurden, weil bei der Deklarierung sämtliche Schritte übergangen wurden. Das Ganze ist auch nur rausgekommen, weil es Streit in der Firma gab und jemand das angezeigt hat. Wie soll ein Schiff auf hoher See kontrolliert werden, wenn es nicht mal möglich ist, eine Firma zu kontrollieren? Die Fischerei in Chile ist verdorben, die Industrie kann machen was sie will. Es gibt auch einen großen Unterschied zwischen dem was gefangen, dem was ausgeladen und dem was deklariert wird. Die Autoritäten nehmen aber nur das zur Kenntnis, was deklariert wird.
Gleichzeitig werden auch die Kunsthandwerksfischer gezwungen, zu lügen. Wenn man die Lizenz für einen bestimmten Fischgrund hat, aber über einen längeren Zeitraum nichts fängt, wird einem die Lizenz weggenommen. Was macht man also? Man deklariert, dass man gefangen habe, um die Lizenz zu behalten.

Und welche Rolle nimmt die Kunsthandwerksfischerei in diesen Fragen ein?
In der Fischerei gibt es verschiedene Zustände von Fischgründen: Erholt, in Nutzung, überfischt und kollabiert. Es gibt also ein Limit, was nicht überschritten werden darf, damit Fanggründe sich erholen können. Wenn dieses Limit erreicht wird, müssen Fanglizenzen ausgeschrieben werden. Das Problem sind die Ausschreibungen. Die Kunsthandwerksfischer können hier nicht mitbieten, obwohl es eigentlich so sein sollte, dass dann genau sie, die selektiver fischen, die Lizenzen bekommen. Wir Kunsthandwerksfischer würden dieses Limit nie überschreiten. Wir kümmern uns um die Fischgründe.

Denken Sie, dass die Kunsthandwerksfischerei noch eine Zukunft hat?
Die Situation ist komplex. Ich denke nicht, dass wir verschwinden werden. Es wird immer Kunsthandwerksfischerei geben, wenn auch in kleinerem Maße und eher zum Zweck des reinen Überlebens. Aber es wird immer Leute geben, die auf‘s Meer hinausfahren. Was bleibt uns sonst auch übrig? Wir müssen eben gegen dieses verdammte Gesetz kämpfen.

ROTE FLUT

Kein Auslaufen Die vielen Fischerboote Chiloés bleiben in den Häfen vor Anker (Fotos: Caroline Kassin)

 

Fünf Kilometer lang und über einen Kilometer breit ist der Streifen toter Macha-Muscheln, der sich am Strand entlangzieht. Es sind Millionen solcher toter Muscheln, Fische, Krebse und anderer Meerestiere, die dieser Tage an die Küsten des südchilenischen Archipels Chiloé gespült werden. Die Rote Flut ist auf Chiloé nichts Ungewöhnliches, seit Jahren wird die Region von dieser Algenplage heimgesucht, aber dieses Jahr ist es extrem. Von offizieller Seite wird die Algenplage mit dem Klimawandel und dem dieses Jahr besonders stark ausgefallenem Wetterphänomen El Niño begründet. Aber die Chilotes sind sich sicher: Das Wetter ist höchstens teilverantwortlich für die Katastrophe. Sie geben die Hauptschuld den großen Lachsfarmen, die in großer Zahl in den Gewässern um Chiloé produzieren.

Auch verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen halten eine Überproduktion durch die Lachsindustrie für die Ursache; diese hätte das Ökosystem derart stark aus dem Gleichgewicht gebracht und somit ein massives Fischsterben in den Farmen ausgelöst. Um dem zu begegnen, kamen Unmengen von Antibiotika zum Einsatz – 450.000 Kilo im Jahr 2013, laut der chilenischen Fischereibehörde Sernapesca. Die Fischexkremente aus den riesigen Lachsfarmen und die Entsorgung von insgesamt fast 40.000 Tonnen toter Fische haben am Meeresgrund einen perfekten Nährboden für die giftige Alge geschaffen. Und die Regierung, so der Vorwurf, habe die Unternehmen gewähren lassen – es gibt keine wirksamen Regulierungen und Umweltstandards zum Schutz des Meeres und der Menschen. Die Entsorgung von etwa 4.000 Tonnen toter Lachse auf einen Schlag im März, unter Aufsicht und mit Hilfe der Marine und Sernapesca, gilt für viele als der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

„Das Meer ist keine Mülldeponie“ heißt es auf einem Banner, das Greenpeace-Aktivist*innen Ende Mai vor der Lachsfarm Marine Harvest aufspannten. „Wir sind hier, um auf die Folgen aufmerksam zu machen, die die Ausweitung der Lachsindustrie auf die Umwelt und die Bewohner Chiloés hat. Diese Industrie ist überhaupt nicht effektiv reguliert und wir sehen keinen politischen Willen, dies zu ändern, um so dem Grundproblem zu begegnen, das hinter dieser Katastrophe steht“, sagt Estefanía González, Koordinatorin der Kampagne von Greenpeace Chile. Die Behörden hätten selbst zugegeben, dass sie die Entsorgung im Meer autorisiert hätten, weil man nicht wusste, wohin mit den als gefährlich eingestuften Massen an verwestem Fisch. „Wer kam denn überhaupt auf die Idee, eine Industrie zu erlauben, die 37.000 Tonnen vergammelten Fisch produziert, ohne dafür angemessene Entsorgungspläne zu haben?“, fragt Estefanía González.

dscn2311Es ist bereits das zweite große Fischsterben um Chiloé innerhalb eines Jahrzehntes. 2007 verursachte ein Virus die größte sozio-ökonomische und gesundheitliche Krise in der Geschichte des Archipels – es entstanden Kosten in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar, die Lachsproduktion brach um 60 Prozent ein und 26.000 Beschäftigte wurden entlassen. Eine der ersten Maßnahmen der damaligen Regierung Michelle Bachelets waren Kredite in Höhe von 450 Millionen US-Dollar für die Lachsindustrie, die damals schon unter Verdacht stand, das Fischsterben mit ihrer unverantwortlichen Produktion selber verursacht zu haben. Und das, obwohl die Unternehmen trotz der Einbrüche Exporte über 2,4 Milliarden US-Dollar verbuchen konnten. Maßgeblich beteiligt an diesem Prozess war auch Felipe Sandoval, damals Staatssekretär für Fischerei und Aquakultur – heute ist er Vorsitzender der Lobbygruppe SalmónChile, der Interessensvertretung der lachsexportierenden Unternehmen Chiles. Mit seinen direkten Kontakten in die Regierung soll er die Unternehmen auch dieses Mal aus dem Schlamassel ziehen.

Während die milliardenschwere Lachsindustrie auch dieses Mal auf die Hilfe vom Staat hoffen kann, stehen die Menschen auf Chiloé vor dem Nichts. Viele wissen nicht, wie sie sich und ihre Familien in den nächsten Monaten ernähren sollen. Deswegen fordern sie Unterstützung von der Regierung, doch diese gibt sich zögerlich. Aber auf Chiloé kann und will man nicht warten. Seit Wochen protestieren die Chilotes mit Demonstrationen und Straßenblockaden, mehrere Zufahrtswege auf die Insel sind blockiert. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen haben sich mit ihnen solidarisiert. Auch Anführer*innen der Studierendenbewegung sind trotz der eigenen Großproteste auf die Insel gereist. „Wir als Studenten rufen zur Solidarität mit der Bevölkerung Chiloés auf. Dieses Problem betrifft nicht nur Chiloé, sondern das ganze Land!“, sagte Marta Matamala, Sprecherin des Studierendenverbands CONFECH. Solidaritätsdemonstrationen in der Hauptstadt Santiago, bei der Aktivist*innen auch tote Lachse in die Wasserbecken vor dem Regierungspalast La Moneda warfen, wurden von der Polizei gewaltsam zerschlagen.

Mit den Protesten soll der Druck auf die Regierung erhöht werden, aber die Verhandlungen gehen nur langsam voran. Umgerechnet etwa 130 Euro Entschädigung wurde den Fischer*innen von der Regierung Bachelets angeboten – zu wenig, wie die meisten finden. Eine Familie lässt sich in Chile davon jedenfalls nicht ernähren. Die Fischer*innen fordern mindestens das Dreifache für die kommenden sechs Monate. „Wenn es um die armen Leute geht, werden alle Finanzreserven mit einem doppelten Schloss versehen, aber sobald es die Industrie und Politik zu entschädigen gilt, öffnen sich die Kassen plötzlich“, sagte Humberto Paredes, der für die Fischer*innen mit der Regierung verhandelt gegenüber CNN Chile. „Seit Jahren beobachten wir, wie der Staat die Lachsindustrie mit Millionen entschädigt. Aber heute sind sie nicht einmal in der Lage zu sagen: ‚Das ist, was wir haben, um das Problem zu lösen‘“, kritisierte er das Verhalten der Regierung nach einem Gespräch mit Wirtschaftsminister Céspedes und Fischereistaatssekretär Súnico. Wegen der offenbaren Inkompetenz der beiden, forderte Paredes die direkte Intervention Michelle Bachelets: „Ich glaube, wenn die Präsidentin nicht eingreift, wird es zu Blutvergießen kommen“.

Die Situation auf Chiloé zeigt wieder einmal, welche Folgen das neoliberale Entwicklungsmodell Chiles für Mensch und Umwelt hat. Die Krise um die Rote Flut steht für viele Krisen im ganzen Land. Ein Land, das einem System unterworfen wurde, das Wirtschaftswachstum um jeden Preis fordert und in dem alle Regierungen seit der Militärdiktatur Pinochets die extraktivistischen Industrien privilegiert haben – ob Lachs-, Forst-, Bergbau- oder Energieunternehmen. Die Privatisierung aller Ressourcen und Lebensbereiche und die Nichtregulierung der Wirtschaft ist zum Vorteil einiger weniger und zum Nachteil vieler. Anhaltende Proteste, wie jetzt auf Chiloé oder die gleichzeitig stattfindenden Großproteste der Studierenden im ganzen Land, zeigen aber auch, wie immer größere Teile der Gesellschaft sich diesem System entgegenstellen – fest entschlossen, sich das Land wieder zu eigen zu machen. Auf ruhiges Fahrwasser kann sich die Regierung Bachelets also auch nach der Roten Flut nicht freuen.

 

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