ZWISCHEN SEEBÄREN UND HUMBOLDTKALMAREN
Mit chilenischen Kleinfischern aus San Antonio auf der Jagd nach Tiefseeungeheuern
Fotos: Hannes Conradty
Ein riesiger Kasten versperrt die Sicht. Mitten in der Bucht der Hafenstadt San Antonio steht ein riesiges, mit ordentlich Schmiergeld genehmigtes Einkaufszentrum, welches das Meer vor der Hafenstadt versteckt. Hinter diesem himmelblau angemalten Klotz treffen wir uns am puertecito, dem Hafen der Kleinfischer*innen, mit Miguel Hernández, um über die Fischerei in Chile zu reden. Miguel Hernández ist 57, Fischer und Gewerkschafter, verwaltet das Gewerkschaftsgebäude im Hafen von San Antonio und hat überhaupt mehr Ehrenämter als man aufzählen kann. Kenntnisreich erklärt er sämtlich Probleme der pescadores artesanales, der Kleinfischer*innen in Chile; er kennt jedes noch so kleine administrative Problem, genauso wie die großen Probleme, namentlich das Fischereigesetz, das die Fischerei-Industrie klar bevorteile. „Ich glaube, wir von den sozialen Bewegungen müssen die notwendigen Veränderungen erreichen.“ Ob die Kleinfischerei eine Zukunft habe? „Es wird immer Leute geben, die aufs Meer rausfahren. Was bleibt auch sonst?“ Tatsächlich steckt die Fischerei in Chile nicht erst seit Kurzem in der Krise. Die Bestände fast sämtlicher Speisefische sind so stark überfischt, dass die Kleinfischer*innen kaum über die Runden kommen. Das, was an Fisch übrig ist, erreicht kaum ein reproduktionsfähiges Alter und wird von schwimmenden Fabriken, die mit Schleppnetzen arbeiten, weggefangen. Übrig bleibt wenig bis gar nichts für die über 70.000 Kleinfischer*innen in Chile, die in Küstennähe und mit kleinen, maximal 18 Meter langen Booten fischen. Eigentlich ideal, wollte man nachhaltigen Fischfang. Aber der kapitalistische Fortschritt hat Vorrang vor Nachhaltigkeit.
“Es wird immer Leute geben, die auf’s Meer rausfahren werden. Was bleibt auch sonst?”
Im Flur nebenan hat Cristian Miranda sein Büro. Gäbe es den Begriff Seebär noch nicht, müsste er für ihn erfunden werden. An ein Interview ist nicht zu denken, in seinem Büro ist eine Gruppe älterer Fischer, die lautstark diskutieren. Der Gewerkschafter der Gewerkschaft Montemar, eines der neun untereinander zerstrittenen Fischersyndikate im Hafen von San Antonio, ist dabei der Ruhepol, der zuhört und am Ende seine Meinung abgibt, die viel Gewicht hat. Neben dem Fischereigesetz ist es der Hafenneubau des Frachthafens von San Antonio, der megapuerto, der den Fischer*innen Kopfzerbrechen bereitet. Dieser verseucht die Bucht und zerstört die Brutstätten der Fische. Der Aushub wird in Küstennähe in die Bucht geschüttet und verschlammt das Wasser. Die Fischer*innen hier sind angespannt und wütend ob der Politik, die ihnen Probleme macht. Hoffnung in den parlamentarischen Prozess haben sie nicht. „Sie regen sich auf, wenn hier ein paar Autoreifen brennen, aber ich sag‘s euch, damit sich in diesem Land etwas ändert, muss Blut fließen! Auf die Politiker kann man sich nicht verlassen!“
Wir treffen uns um 18 Uhr mit Kapitän Jorge Ambrosetti, oder Cobre Loa, wie er von allen genannt wird. Ein weiterer Seebär mit mehr als 30 Jahren Erfahrung: „Ich hab schon alles gefischt, Merluza, Congrio, alles außer Wale.“ Mit festem Händedruck begrüßt er uns und stellt uns die Mannschaft vor, mit der wir die nächsten 14 Stunden verbringen werden: Miguel, mit strahlend blauen Augen, und Beto, der seinen Spitznamen auf die Finger der rechten Hand tätowiert hat. Wir werden mit einem kleinen Ruderboot zu einer nicht ganz so kleinen, rund sechs Meter langen Schaluppe gebracht, die dann beladen wird. An das Heck werden zwei Scheinwerfer montiert. „Damit locken wir die jibia an“, sagt Miguel. Jibia ist der chilenische Name für Humboldtkalmare, Kopffüssler, die bis zu einem Meter lang und bis zu 50 Kilo schwer werden können. Kannibalische Tiefseeungeheuer, die sich aber zunehmender kulinarischer Beliebtheit erfreuen und vor allem nach Südkorea exportiert werden. Die Kalmare sind die Beute, die die Kleinfischerei – zumindest in San Antonio – am Leben hält und darüber hinwegtäuscht, dass sämtliche anderen Fischbestände fast kollabiert sind.
Während der Außenborder das Boot aus dem Hafenbecken heraustreibt, ziehen die drei Fischer schichtweise Pullis, Hosen, Mützen und Handschuhe an, bis am Ende das Ölzeug über alles gezogen wird. Auf offenem Meer ist von den sommerlichen Temperaturen wenig zu spüren, nachts umso weniger. Mit jedem Meter, den wir uns vom Hafen entfernen, wird die See unruhiger und die Nussschale, in der wir sitzen, schaukelt auf den Wellen in alle Richtungen. „Ihr müsst aufpassen, dass ihr nicht nass werdet, die jibias spucken Wasser und Tinte“, erzählt Cobre Loa. „Und klebrigen Sabber!“ ruft Beto und bricht in schallendes Gelächter aus.
“Man muss oft rausfahren bis das Meer sagt: Der taugt mir.”
„Werdet ihr seekrank?“, fragt Miguel, während wir die ersten Wellenhügel erklimmen und hinabgleiten und immer weiter hinausfahren. Wir werden zehn Seemeilen, rund 25 Kilometer, auf das Meer fahren, was weit über die fünf Seemeien hinausgeht, in denen die Kleinfischer*innen Fische fangen dürfen. Aber der Bau des Megahafens fordert seinen Tribut. „Wir müssen so weit rausfahren, weil der ganze Aushub vom Hafenbau innerhalb der fünf Meilen abgeladen wird. Die ganzen Schwermetalle und das Öl, das von den Schiffen kommt, vertreiben die Fische.“ Die doppelte Distanz bedeutet auch die doppelte Treibstoffmenge, was einen großen Teil der Kosten der Fischer ausmacht. 60 Liter verbraucht so eine Fahrt.
„Ich habe vier Kinder, aber keins will aufs Meer. Fischen ist eine Arbeit für Grobiane, aber sie gibt einem Freiheit, es gibt keinen Chef, keiner sagt, wann wir rausfahren sollen und wann nicht“, erklärt Cobre Loa, während er an seinem Tee nippt und das Boot steuert. Mittlerweile sind wir sechs Seemeilen von der Küste entfernt, die Wellen werden immer höher und die Küstenlinie verschwindet immer wieder hinter Wasserwänden, nur um danach wieder aufzutauchen.
Gegen 21.30 Uhr kommen wir dort an, wo wir ankommen wollen, mitten im Meer. Wie Kapitän Cobre Loa diesen Flecken Wasser von irgendeinem anderen unterscheiden kann, ist ein Rätsel, GPS oder Ähnliches hat er nicht. Aber um das Boot herum sind weitere Fischerboote zu sehen, die wohl das gleiche Ziel haben. Die Sonne geht unter und mit jedem Wellental, in das das Boot sinkt, sehen wir einen neuen Sonnenuntergang. Die Küste ist längst nicht mehr zu sehen.
Eine halbe Stunde später ist es fast dunkel und die Fischerei beginnt. Mit Widerhaken besetzte fluoreszierende Zylinder, die Tintenfischen nachempfunden sind, werden an stabilen Leinen ins Wasser gelassen und versinken schnell. Sobald sie stillstehen, werden sie nach oben gezogen. In den nächsten zehn Minuten passiert wenig, bis auf einmal vor Beto eine Wasserfontäne nach oben schießt und sich das Wasser kurz dunkel verfärbt. Der erste Humboldtkalmar der Fahrt wird an der Leine bis an die Bordwand hochgezogen, dann schnell mit einem Schüreisen auf das Boot verfrachtet. Das einen Meter lange Tier krächzt, dann wird ihm der Kopf abgeschnitten. Der Körper des Kalmars pulsiert noch kurz in verschiedenen Farben und röchelt erbärmlich. Fast im Minutentakt wird ein anderes Tier nach oben gezogen. Um uns herum haben sich Seevögel versammelt. „Die Seevögel ziehen die Seelöwen an“, erklärt Cobre Loa.
Sobald einer der Fischer einen Kalmar an der Leine hat, ruft er den anderen zu, in welcher Tiefe er ihn erwischt hat: „35!“ „40!“ Miguel erklärt uns, dass das die Anzahl der Armspannen ist. „Verdammter Seelöwe!“, ruft Cobre Loa und zieht einen halben Kalmar ins Boot. Es passiert immer öfter, dass beim Hochziehen der Beute die Seelöwen den Fischern die Kalmare vom Haken fressen. „Die Seelöwen sind faul, die gehen nicht selber jagen, sondern klauen uns die jibias“, empört sich Cobre Loa. Nach einer Stunde sind die Haken so gut wie immer leer und das Boot zieht weiter. Es ist stockduster, das einzige Licht kommt von den Sternen und kleinen biolumineszenten Algen, die kurz aufleuchten, wenn das Wasser vom Boot aufgewirbelt wird. „Am Anfang werden alle seekrank“, meint Miguel, nachdem ich mich zum wiederholten Male über die Bordkante übergeben habe. „Es dauert Jahre, bis man sich daran gewöhnt. Man muss so oft rausfahren, bis das Meer sagt: Der taugt was.“
Am nächsten ausgewählten Ort geht die Routine weiter, Kalmare werden ans Boot gezogen, spritzen Wasser, Tinte und übel riechenden Sabber, röcheln, werden geköpft. Die Seelöwen kommen, um uns herum pechschwarze Nacht. Immer wieder wechseln wir die Stelle, an der die Leinen ins Wasser gelassen werden. Ein Schwarm jurels, sardinenartige Fische, lässt Cobre Loa, Miguel und Beto innehalten und fachsimpeln. Irgendwann gegen sechs Uhr morgens geht die Sonne wieder auf und wir fahren zurück in Richtung San Antonio. Fast zwei Tonnen Kalmar sind an Bord. Die Fischer entspannen sich und nutzen – bis auf Kapitän Cobre Loa – die Zeit, um kurz zu schlafen. Nach zwei Stunden Fahrt erreichen wir den Hafen. Miguel muss gleich weiter zu seinem Tagesjob in einem Supermarkt. Abends geht es aber wieder aufs Meer: „Diese Woche fahren wir noch vier Mal.“ Während die jibias an Land gebracht werden, spielen einige Fischer Dame mit Einsatz, um sich die Zeit zu vertreiben.
Abends treffen wir uns mit Don Jesus Fernández von der Fischereigewerkschaft San Pedro, die nicht im Gewerkschaftshaus sitzt, sondern am anderen Ende des Hafens ein eigenes Gebäude mit eigenem Restaurant besitzt. Don Jesus ist seit mehr als 20 Jahren Präsident der Gewerkschaft. Im dunkel vertäfelten Hinterzimmer erklärt er hinter einem massiven Schreibtisch das Konzept seiner Gewerkschaft. Auch wenn er die Kritik am Megahafen, dem Fischereigesetz und der Schleppnetzfischerei teilt, redet er nicht viel von Kampf und Streik, dafür mehr von den Geschäftsmöglichkeiten und dem Profit, den die Gewerkschaft mit ihrem Restaurant für die Mitglieder abwirft. „Wir betreiben unsere Gewerkschaft wie ein Unternehmen, könnte man sagen. Die anderen machen Versammlungen, sagen, dass man auf die Straße gehen müsse, aber die Mitglieder haben wenig davon. Hier bekommt jeder am Ende des Jahres 500.000 Pesos.“ Das sind rund 650 Euro – ob dieser Betrag ihre Zukunft sichern kann, ist mehr als zweifelhaft. In San Antonio zumindest ist die Resignation von Don Jesus Fernández nur eine der unterschiedlichen Positionen in der Kleinfischerei.