Es riecht nach Rauch. Wie überall in der Stadt. Wenige Minuten vorher sind wir aus dem Boot gestiegen, das uns aus Guayaramerín, der bolivianischen Schwesterstadt auf der anderen Seite des Flusses Marmoré, nach Guajará-Mirim in Brasilien gebracht hat. Zum Frühstück in der Nähe des Hafens gibt es Tapioca, kleine Pfannkuchen aus Maniokstärke mit Käse. „Außerhalb der Stadt brennen die Viehzüchter ihre Felder ab, damit das Gras jung nachwächst“, berichtet Iremar Ferreira. Seit er 20 Jahre alt ist, setzt sich Ferreira für den Schutz Amazoniens und der indigenen Bevölkerung ein. Eigentlich sollte er Priester werden, doch er heiratete eine Indigene und das Schicksal nahm seinen Lauf. Inzwischen arbeitet er für die Nichtregierungsorganisation Instituto Madeira Vivo. Er selbst wohnt in einem kleinen Dorf am Fluss Madeira in der Nähe von Porto Velho, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rondônia.
Oft greifen die Feuer der Viehzüchter auf Wälder über, erzählt Ferreira. „Das passiert nur, wenn die Vegetation geschwächt ist. Ein gesunder Wald ist zu feucht, um einfach Feuer zu fangen.“ Die diesjährigen Feuer in Amazonien sind ein Symp-tom einer viel tieferen Zerstörung des größten Waldsystems der Erde. Und die Entwicklung hält an: In den nächsten Jahren sollen gigantische Infrastrukturprojekte für die Agrarindustrie und für Bergbauprojekte entstehen.
„Wenn der binationale Staudamm gebaut würde, stünde uns das Wasser hier bis zum Hals!“ Etwa 50 Kilometer stromabwärts, hinter dem Zusammenfluss des Marmoré mit dem Beni, wo der Fluss Madeira heißt, planen die brasilianische und die bolivianische Regierung ein gemeinsames Wasserkraftwerk. Der Staudamm Ribeirão soll Teil eines grenzüberschreitenden Komplexes werden, der insgesamt vier Staudämme umfasst. Die brasilianischen Dämme, Santo Antônio und Jirau, sind bereits 2016 fertiggestellt worden, zwei weitere sollen in Bolivien, beziehungsweise direkt auf der Grenze entstehen. Auch europäische Unternehmen waren beteiligt, ein Konsortium unter Führung des belgischen Unternehmens Tractebel betreibt Jirau, das deutsche Unternehmen Voith Hydro lieferte Turbinen an beide Dämme.
„IIRSA könnte den Todesstoß für den Wald bedeuten“
Doch die Staudämme sollen nicht nur Energie liefern. „Mit den Dämmen sollen die Stromschnellen überflutet werden, um die Flüsse schiffbar zu machen“, so Ferreira. „Diese Pläne sind alle Teil von IIRSA.“ – IIRSA, das ist die „Initiative zur Integration der Regionalen Infrastruktur Südamerikas“, auf die sich im Jahr 2000 zwölf Länder Südamerikas geeinigt haben. Entlang 31 sogenannter „Entwicklungsachsen“ sollen gigantische Infrastrukturprojekte entstehen – Straßen, Staudämme, Wasserstraßen. 14 der 31 Entwicklungsachsen verlaufen durch den amazonischen Regenwald, insbesondere durch entlegene Regionen, die bislang von dem wirtschaftlichen Boom und damit der ökologischen Zerstörung verschont geblieben waren. „IIRSA könnte den Todesstoß für den Wald bedeuten“, so Ferreira.
Wir gehen einige Schritte weiter und kommen an dem Bahnhof von Guajará-Mirim vorbei. Seit dem Jahr 2000 fahren hier keine Züge mehr. Als Denkmal stehen hier noch einige Dampfloks der „Estrada de Ferro Madeira-Marmoré“, die während des Kautschukbooms Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden war. Auch damals stellten die Stromschnellen der großen Flüsse ein kaum zu überwindendes Hindernis dar. Als 1903 Bolivien das Gebiet von Acre per Vertrag an Brasilien abtrat, vereinbarten die beiden Regierungen als Kompensation den Bau der Eisenbahnstrecke. Bolivien versprach sich viel von dem Projekt: Dem Land ohne Meereszugang seit 1903 sollte die Bahnstrecke den Zugang zum Atlantik über den Amazonas gewährleisten. Das Projekt erhielt den Spitznamen „Eisenbahn des Teufels“: Schätzungen zufolge starben zwischen 6.000 bis 10.000 Arbeiter*innen. Als die Eisenbahn 1912 fertiggestellt war, hatte auch der Kautschukboom sein Ende genommen, da Plantagen in den britischen Kolonien Südostasiens billiger produzieren konnten.
Nun sollen die Staudämme und die Wasserstraße den von Bolivien so ersehnten schnelleren Zugang zum Meer und damit zum Weltmarkt ermöglichen. Wenn die Stromschnellen überwunden sind, könnten bis zu 4.000 Kilometer Wasserwege in Bolivien an den Atlantik angebunden werden. „Hinter dem Projekt IIRSA steckt die brasilianische Agrarindustrie“, erzählt Ferreira. „Es geht um Viehzucht und den Anbau von Soja, Sonnenblumen, Weizen und Mais.“ In den Studien zu dem Projekt ist die Rede von einem Potenzial von 24 Millionen Tonnen Soja pro Jahr, das in Bolivien produziert werden könnte. Viele brasilianische Unternehmer*innen drängen mittlerweile auf den bolivianischen Markt. „Und dann gibt es noch Kassiterit-Lagerstätten.“ Aus dem wirtschaftlich bedeutenden Erz Kassiterit kann Zinn gewonnen werden, was die Begehrlichkeiten von Bergbaufirmen erregt.
Die Dynamik der Inwertsetzung dieses Gebietes für Bergbau und Agrarindustrie ist es auch, die die aktuellen Brände verursache, erzählt Ferreira. Mit dem Bau jeder neuen Straße in Amazonien entsteht das berüchtigte Fischgrätmuster: Von den Überlandstraßen gehen kleinere Straßen ab, von denen die Entwaldung ausgeht. Auf Satellitenaufnahmen entsteht so ein Grätenmuster inmitten des Waldes. Dies macht ihn anfälliger: Von den Straßen aus ins Innere des Waldes sinkt die Feuchtigkeit um 60 Prozent – der trockenere Wald kann leichter Feuer fangen.
Laut Ferreira, der selbst Mitglied der Arbeiterpartei PT ist, begann diese fatale Entwicklung bereits unter den Regierungen seiner Parteigenoss*innen Luiz Inácio „Lula“ da Silva (2003-2011) und dessen Nachfolgerin Dilma Rousseff (2011-2016). „Als Lula die Gesetze für die öffentlich-privaten Partnerschaften im Jahr 2004 erlassen hatte, wurden die ganzen Projekte von IIRSA möglich gemacht. Am Madeira begann dann das, was ich die Große Nacht für Amazonien nenne.“ Mit der aktuellen Regierung unter Jair Bolsonaro hätte sich die Situation enorm verschlimmert. Die beiden Staudämme Santo Antônio und Jirau waren die ersten beiden großen Infrastrukturprojekte, die im Rahmen von IIRSA realisiert wurden. Die Kraftwerke haben zu zahlreichen sozialen und ökologischen Problemen geführt. Anfang 2014 kam es zu einer großen Flut, die durch den Rückstaueffekt der Dämme verstärkt wurden. „Wenn man über die Flüsse fliegt, sieht man, wie sie sich durch die Landschaft schlängeln. Im April 2014 sah man aber nur einen geraden Fluss: Alles dazwischen war überflutet“, erzählt Ferreira. Die Betreiber der Kraftwerke leugnen dagegen, dass die Flut durch die Staudämme verursacht wurde. „Sie manipulieren die Daten, um sich aus der Verantwortung zu stehlen“, kommentiert Ferreira.
„Bis hier stand das Wasser“ Haus und Hof von Doña Flora wurden überschwemmt // Fotos: Thilo F. Papacek
Auch ohne Flut sind die Folgen der Staudämme für die Bevölkerung auf der anderen Seite des Grenzflusses in Bolivien zu spüren. In dem Städtchen Cachuela Esperanza – dem „Wasserfall der Hoffnung“ – am Fluss Beni treffe ich Vertreter*innen der Fischervereinigung. Seit die Staudämme auf der brasilianischen Seite gebaut worden sind, seien ihre Erträge um 80 Prozent zurückgegangen, weil die Fischmigrationen unterbrochen wurden. „Früher sah man hier Unmengen von Fischen die Stromschnellen hochspringen, wenn die Wanderungen kamen. Das ist jetzt vorbei“, erzählt einer der Fischer.
„Wovon sollen wir leben, wenn der Wald verschwindet?“
Auch hier soll ein Staudamm gebaut werden, auch um Stromschnellen zu überfluten. Dann würde fast der ganze Ort verschwinden. „Uns erzählen sie, dass mit dem Bau der Staudämme Arbeitsplätze entstehen. Ja, vielleicht für drei oder vier Jahre. Und was ist dann? Wovon sollen wir leben?“, sagt Don Elías Inumo, Präsident der Fischervereinigung.
Würde Cachuela Esperanza durch einen Staudamm überflutet werden, verschwände auch ein Teil des historischen Erbes von Amazonien. Cachuela Esperanza war 1882 von dem bolivianischen Kautschukbaron Nicolás Suárez Callaú gegründet worden, der hier das Zentrum seines Handelsimperiums mit modernster Einrichtung aufbaute. Viele Gebäude, die teilweise verfallen, künden noch von dieser Zeit, die Villen der Suárez-Familie, Verwaltungsgebäude und das erste Theatergebäude der Region. „Es tut mir weh zu sehen, wie das hier alles aussieht!“, erzählt mir Rafael Suárez, einer der vielen Urenkel des Ortsgründers. Er lebt, wie fast alle im Ort, vom Fischfang und vom Sammeln der Pará-Nuss, die hier „Castaña“ genannt wird. „Wenn der Wald verschwindet, können wir keine Nüsse mehr sammeln. Wovon sollen wir leben?“, fragt Don Rafael.
„Wenn der Staudamm gebaut wird, muss ich hier weg.“
Möglichkeiten für alternative Entwicklung gibt es. „Cachuela Esperanza hat ein großes touristisches Potenzial. Aber dazu müsste sich die Regierung auch um die Denkmäler kümmern“, sagt Lidia Antty von der Kommunalen Organisation Amazonischer Frauen (OCMA). In der Region gibt es noch viele Wildtiere, in den Flüssen leben Amazonas-Delfine. „Man könnte Öko-Tourismus mit Beteiligung der Bevölkerung durchführen“, meint Lidia Antty.
OCMA unterstützt auch Agroforstprojekte von Kleinbäuerinnen und -bauern. Gemeinsam sind wir in den Nachbarort Cachuela Marmoré gefahren und besuchen den Chaqueo, das kleine Feld von Flora Aracupa Chan. Die 70-Jährige führt uns durch ihre Landparzelle. Zwischen Kakaobäumen, Bananen und anderen Obstbäumen wachsen auch Edelhölzer. Wenige Hektar können auf diese Weise eine Familie ernähren. Auf den Viehweiden, die an das Dorf angrenzen, stehen dagegen drei Rinder pro Hektar. „Diese Form der Bewirtschaftung hält Feuer besser stand“, erklärt Lidia Antty. Die Agroforstbetriebe schützen also auch den Wald: Sie erhalten die Feuchtigkeit mit der Vegetation und schützen so vor Bränden.
Von der Flut 2014 war der Betrieb von Doña Flora ebenfalls betroffen. Monatelang standen ihr Haus und ihre Obsthaine unter Wasser, die meisten Bäume starben. Während dieser Zeit musste sie in einem Zelt wohnen. Staatliche Hilfe oder Entschädigung bekam sie keine. Und auch die geplanten Projekte würden sie betreffen. „Wenn der Staudamm gebaut wird, muss ich hier weg“, erzählt Doña Flora. „Aber wo soll ich hin? Mit über 70 kann ich doch nicht noch einmal anfangen!“ Die Infrastrukturprojekte in Amazonien sollen Entwicklung in die Region bringen, sagen Regierungsvertreter*innen. Doch die Kleinbäuerinnen und -bauern und Fischer*innen der Region müssten wahrscheinlich aufgeben.