ROTE FLUT
Eine toxische Algenblüte um die Insel Chiloé verursacht massenhaftes Fischsterben und nimmt tausenden Menschen die Lebensgrundlage
Kein Auslaufen Die vielen Fischerboote Chiloés bleiben in den Häfen vor Anker (Fotos: Caroline Kassin)
Fünf Kilometer lang und über einen Kilometer breit ist der Streifen toter Macha-Muscheln, der sich am Strand entlangzieht. Es sind Millionen solcher toter Muscheln, Fische, Krebse und anderer Meerestiere, die dieser Tage an die Küsten des südchilenischen Archipels Chiloé gespült werden. Die Rote Flut ist auf Chiloé nichts Ungewöhnliches, seit Jahren wird die Region von dieser Algenplage heimgesucht, aber dieses Jahr ist es extrem. Von offizieller Seite wird die Algenplage mit dem Klimawandel und dem dieses Jahr besonders stark ausgefallenem Wetterphänomen El Niño begründet. Aber die Chilotes sind sich sicher: Das Wetter ist höchstens teilverantwortlich für die Katastrophe. Sie geben die Hauptschuld den großen Lachsfarmen, die in großer Zahl in den Gewässern um Chiloé produzieren.
Auch verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen halten eine Überproduktion durch die Lachsindustrie für die Ursache; diese hätte das Ökosystem derart stark aus dem Gleichgewicht gebracht und somit ein massives Fischsterben in den Farmen ausgelöst. Um dem zu begegnen, kamen Unmengen von Antibiotika zum Einsatz – 450.000 Kilo im Jahr 2013, laut der chilenischen Fischereibehörde Sernapesca. Die Fischexkremente aus den riesigen Lachsfarmen und die Entsorgung von insgesamt fast 40.000 Tonnen toter Fische haben am Meeresgrund einen perfekten Nährboden für die giftige Alge geschaffen. Und die Regierung, so der Vorwurf, habe die Unternehmen gewähren lassen – es gibt keine wirksamen Regulierungen und Umweltstandards zum Schutz des Meeres und der Menschen. Die Entsorgung von etwa 4.000 Tonnen toter Lachse auf einen Schlag im März, unter Aufsicht und mit Hilfe der Marine und Sernapesca, gilt für viele als der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
„Das Meer ist keine Mülldeponie“ heißt es auf einem Banner, das Greenpeace-Aktivist*innen Ende Mai vor der Lachsfarm Marine Harvest aufspannten. „Wir sind hier, um auf die Folgen aufmerksam zu machen, die die Ausweitung der Lachsindustrie auf die Umwelt und die Bewohner Chiloés hat. Diese Industrie ist überhaupt nicht effektiv reguliert und wir sehen keinen politischen Willen, dies zu ändern, um so dem Grundproblem zu begegnen, das hinter dieser Katastrophe steht“, sagt Estefanía González, Koordinatorin der Kampagne von Greenpeace Chile. Die Behörden hätten selbst zugegeben, dass sie die Entsorgung im Meer autorisiert hätten, weil man nicht wusste, wohin mit den als gefährlich eingestuften Massen an verwestem Fisch. „Wer kam denn überhaupt auf die Idee, eine Industrie zu erlauben, die 37.000 Tonnen vergammelten Fisch produziert, ohne dafür angemessene Entsorgungspläne zu haben?“, fragt Estefanía González.
Es ist bereits das zweite große Fischsterben um Chiloé innerhalb eines Jahrzehntes. 2007 verursachte ein Virus die größte sozio-ökonomische und gesundheitliche Krise in der Geschichte des Archipels – es entstanden Kosten in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar, die Lachsproduktion brach um 60 Prozent ein und 26.000 Beschäftigte wurden entlassen. Eine der ersten Maßnahmen der damaligen Regierung Michelle Bachelets waren Kredite in Höhe von 450 Millionen US-Dollar für die Lachsindustrie, die damals schon unter Verdacht stand, das Fischsterben mit ihrer unverantwortlichen Produktion selber verursacht zu haben. Und das, obwohl die Unternehmen trotz der Einbrüche Exporte über 2,4 Milliarden US-Dollar verbuchen konnten. Maßgeblich beteiligt an diesem Prozess war auch Felipe Sandoval, damals Staatssekretär für Fischerei und Aquakultur – heute ist er Vorsitzender der Lobbygruppe SalmónChile, der Interessensvertretung der lachsexportierenden Unternehmen Chiles. Mit seinen direkten Kontakten in die Regierung soll er die Unternehmen auch dieses Mal aus dem Schlamassel ziehen.
Während die milliardenschwere Lachsindustrie auch dieses Mal auf die Hilfe vom Staat hoffen kann, stehen die Menschen auf Chiloé vor dem Nichts. Viele wissen nicht, wie sie sich und ihre Familien in den nächsten Monaten ernähren sollen. Deswegen fordern sie Unterstützung von der Regierung, doch diese gibt sich zögerlich. Aber auf Chiloé kann und will man nicht warten. Seit Wochen protestieren die Chilotes mit Demonstrationen und Straßenblockaden, mehrere Zufahrtswege auf die Insel sind blockiert. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen haben sich mit ihnen solidarisiert. Auch Anführer*innen der Studierendenbewegung sind trotz der eigenen Großproteste auf die Insel gereist. „Wir als Studenten rufen zur Solidarität mit der Bevölkerung Chiloés auf. Dieses Problem betrifft nicht nur Chiloé, sondern das ganze Land!“, sagte Marta Matamala, Sprecherin des Studierendenverbands CONFECH. Solidaritätsdemonstrationen in der Hauptstadt Santiago, bei der Aktivist*innen auch tote Lachse in die Wasserbecken vor dem Regierungspalast La Moneda warfen, wurden von der Polizei gewaltsam zerschlagen.
Mit den Protesten soll der Druck auf die Regierung erhöht werden, aber die Verhandlungen gehen nur langsam voran. Umgerechnet etwa 130 Euro Entschädigung wurde den Fischer*innen von der Regierung Bachelets angeboten – zu wenig, wie die meisten finden. Eine Familie lässt sich in Chile davon jedenfalls nicht ernähren. Die Fischer*innen fordern mindestens das Dreifache für die kommenden sechs Monate. „Wenn es um die armen Leute geht, werden alle Finanzreserven mit einem doppelten Schloss versehen, aber sobald es die Industrie und Politik zu entschädigen gilt, öffnen sich die Kassen plötzlich“, sagte Humberto Paredes, der für die Fischer*innen mit der Regierung verhandelt gegenüber CNN Chile. „Seit Jahren beobachten wir, wie der Staat die Lachsindustrie mit Millionen entschädigt. Aber heute sind sie nicht einmal in der Lage zu sagen: ‚Das ist, was wir haben, um das Problem zu lösen‘“, kritisierte er das Verhalten der Regierung nach einem Gespräch mit Wirtschaftsminister Céspedes und Fischereistaatssekretär Súnico. Wegen der offenbaren Inkompetenz der beiden, forderte Paredes die direkte Intervention Michelle Bachelets: „Ich glaube, wenn die Präsidentin nicht eingreift, wird es zu Blutvergießen kommen“.
Die Situation auf Chiloé zeigt wieder einmal, welche Folgen das neoliberale Entwicklungsmodell Chiles für Mensch und Umwelt hat. Die Krise um die Rote Flut steht für viele Krisen im ganzen Land. Ein Land, das einem System unterworfen wurde, das Wirtschaftswachstum um jeden Preis fordert und in dem alle Regierungen seit der Militärdiktatur Pinochets die extraktivistischen Industrien privilegiert haben – ob Lachs-, Forst-, Bergbau- oder Energieunternehmen. Die Privatisierung aller Ressourcen und Lebensbereiche und die Nichtregulierung der Wirtschaft ist zum Vorteil einiger weniger und zum Nachteil vieler. Anhaltende Proteste, wie jetzt auf Chiloé oder die gleichzeitig stattfindenden Großproteste der Studierenden im ganzen Land, zeigen aber auch, wie immer größere Teile der Gesellschaft sich diesem System entgegenstellen – fest entschlossen, sich das Land wieder zu eigen zu machen. Auf ruhiges Fahrwasser kann sich die Regierung Bachelets also auch nach der Roten Flut nicht freuen.