Aktuell | Brasilien | Corona | Nummer 568 - Oktober 2021

EXTREM POLARISIERT

Die Opposition sucht Allianzen

Für den 2. Oktober hatten große Gewerkschaften und verschiedene Parteien des linken Spektrums erneut zu landesweiten Protesten gegen die Politik der Regierung Bolsonaro aufgerufen. Laut den Veranstalter*innen fanden in 304 brasilianischen Städten und 18 Ländern Demonstrationen statt, darunter in Deutschland, Argentinien und Mexiko. Damit war die Mobilisierung deutlich stärker als am 7. September (siehe LN 567). Dennoch ist die Opposition auf der Straße noch weit davon entfernt, der Regierung wirklich gefährlich zu werden – trotz Rekordarbeitslosigkeit, Hunger und mehr als 600.000 Corona-Toten. Auch über die richtige Strategie herrscht Uneinigkeit.

Von Niklas Franzen

Unter Beobachtung: Gesundheitsminister Marcelo Queiroga musste schon dreimal vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagen.Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom / Agência Brasil

Am 10. Februar brach für Silvina Macedo die Welt zusammen. An diesem Tag starb ihr Mann an COVID-19. „Hätte die Bolsonaro-Regierung auf Experten gehört und den Kauf von Impfungen nicht behindert, würde mein Mann vielleicht noch leben“, sagt die kleingewachsene Frau, während sie an der Spitze einer Demonstration in der Stadt Belém marschiert. In der Hand hält sie ein Schild, auf dem ein Foto ihres verstorbenen Mannes zu sehen ist. Macedo war eine von zehntausenden Demonstrant*innen, die am 2. Oktober auf die Straße gingen. In ganz Brasilien fanden Proteste gegen die rechtsradikale Regierung von Präsident Jair Bolsonaro statt.

In Belém, einer Millionenstadt im Mündungsgebiet des Amazonas, kommen die Demonstrant*innen wegen der Hitze schon früh am Morgen zusammen. Der São Brás-Marktplatz verwandelt sich in ein buntes Wirrwarr. Fahnen, Transparente, gereckte Fäuste. Trommelklänge hallen durch die Straßen. Einige vorbeifahrende Autofahrer*innen hupen unterstützend, andere beschimpfen die Demonstrant*innen. Ein junger Mann mit Maske, blauem T-Shirt und Federschmuck auf dem Kopf wuselt durch die Menge, telefoniert, gibt Anweisungen. Es ist Telmiston Guarajara. Der 21-Jährige indigene Jurastudent ist einer der Organisator*innen, bei ihm laufen viele Fäden zusammen. „Wir dürfen nicht bis zur Wahl 2022 warten“, meint er. „Wir müssen Bolsonaro jetzt stürzen.“

Viele machen den ultrarechten Präsidenten für das Chaos im Land verantwortlich. Zwar hat sich die Corona-Lage in den letzten Wochen entspannt. Doch die Pandemie hat das Land schwer gebeutelt, mehr als 600.000 Menschen starben an dem Virus. Wie kaum ein anderer Staatschef leugnete Bolsonaro die Gefahren der Pandemie, ignorierte den Rat von Wissenschaftler*innen und machte Stimmung gegen Impfungen. Zudem soll der selbsterklärte Saubermann von Korruptionsversuchen bei der Beschaffung des indischen Covaxin-Impfstoffes gewusst und nicht eingegriffen haben. Eine parlamentarische Untersuchungskommission (COVID-19 CPI) untersucht seit April Unterlassungen und Fehlverhalten der Regierung während der Pandemie.

In einem extrem ungleichen Land wie Brasilien sind die Nachwirkungen der Corona-Pandemie brutal: Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordwerte geklettert, zehntausende Obdachlose bevölkern die Straßen der großen Städte, mindestens 19 Millionen Brasilianer*innen hungern. Eine Reportage in der Tageszeitung Extra sorgte Ende September für Aufregung: Sie handelt von Menschen in Rio de Janeiro, die in Fleischabfällen wühlen müssen, um sich ernähren zu können.

„Bolsonaro interessiert sich nicht für das Leid der Bevölkerung“, meint Telmiston Guarajara. Laut dem Aktivisten müsse deshalb nun „eine möglichste breite Front“ gegen die Regierung gebildet werden – auch zusammen mit Konservativen und Rechten. Viele hoffen auf eine Neuauflage der „diretas já“-Kampagne: Im Jahr 1984 gingen Millionen Menschen, getragen von einer Allianz verschiedener politischer Spektren, noch während der Militärdiktatur gemeinsam für eine Wiedereinführung der Direktwahl des Präsidenten auf die Straße. Doch dass es zu einer neuen Kam- pagne über die Parteigrenzen hinweg kommt, ist unwahrscheinlich. Nach turbulenten Jahren ist die brasilianische Gesellschaft extrem polarisiert, die Gräben sind tief. Auf den landesweiten Protesten am Samstag waren fast nur Linke sichtbar, auch in Belém. Deshalb sind die Demonstrationen noch weit davon entfernt, der Regierung wirklich gefährlich zu werden. Es gelingt kaum, Menschen außerhalb der linken Blase zu mobilisieren. Im November sind erneut landesweite Demonstrationen geplant, doch die Organisator*innen wirken bisweilen orientierungslos.

Bolsonaro versteht es wie kein zweiter, Ängste zu schüren


Unklarheit herrscht zum Beispiel darüber, wie genau man agieren soll. Einige setzen darauf, Bolsonaro bei der Wahl 2022 zu schlagen. Andere kämpfen dafür, ihn so bald wie möglich abzusetzen. Bei den Protesten am 2. Oktober war auf vielen Schilder zu lesen: „Impeachment jetzt!“ Dem Präsidenten werden schwere Vergehen im Umgang mit der Pandemie vorgeworfen, die eine Amtsenthebung rechtfertigen könnten. Doch es ist unwahrscheinlich, dass es so weit kommt. Über die Aufnahme des Verfahrens entscheidet der Präsident des Abgeordnetenhauses, Arthur Lira von der rechtskonservativen Partei Progressistas (PP), ein Verbündeter Bolsonaros. Und im Parlament genießt Bolsonaro bisher noch die Unterstützung des centrão, des einflussreichen Mitte-Rechts-Blocks. Außerdem kann sich der Rechtsradikale auf den Rückhalt von rund 25 Pro-zent der Bevölkerung verlassen. Seine teils fanatischen Anhänger*innen verehren den Pöbel-Präsidenten mit fast schon religiösem Eifer und mobilisieren ebenfalls regelmäßig zu Protesten.

Bis zur Wahl im kommenden Jahr wird noch viel passieren. Das Wahlverhalten ist in Brasilien oft unberechenbar und hat viel mit aktuellen Entwicklungen zu tun. Es ist davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie bei vielen Wähler*innen bis Anfang Oktober 2022 nicht mehr im Fokus stehen wird. Im krisengeplagten Brasilien versteht es Bolsonaro außerdem wie kein zweiter, Ängste zu schüren. Mit einer populistischen Medienstrategie, infamen Attacken auf Minderheiten und den bisweilen paranoid anmutenden Warnrufen vor einer angeblichen kommunistischen Gender-Diktatur könnte er es erneut schaffen, willige Anhänger*innen zuhauf um sich zu scharen. Auch im Wahlkampf von 2018 fand er mit seinen homophoben und rassistischen Statements viel Anklang. Statt über Inhalte diskutierte das Land seinerzeit wochenlang, ob Bolsonaros Gegenkandidat Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT Babyfläschchen in Penisform an Kitas verteilen ließ.

Eine Kampagne über Parteigrenzen hinweg ist unwahrscheinlich

Auch der politische Analyst und ehemalige Kommunikationsminister Thomas Traumann warnt davor, Bolsonaro abzuschreiben. „Im kommenden Jahr wird die Wirtschaft wieder wachsen und es wird ein neues Sozialprogramm geben, durch das arme Menschen ein bisschen mehr Geld in der Tasche haben werden“, sagte Traumann gegenüber LN. „Bolsonaro wird sich erholen können. Deshalb muss bei der nächsten Wahl auf jeden Fall mit ihm gerechnet werden.“

Parlamentarische Untersuchungskommission zur Pandemie
Aktuell sterben in Brasilien laut offiziellen Zahlen im Durchschnitt 500 Menschen täglich an COVID-19. Im Vergleich zum Höhepunkt der Pandemie im April, als es täglich 3.000 Opfer der Virusinfektion gab, sank die Anzahl deutlich, ist aber immer noch sehr hoch. Ob die nationale Regierung durch Unterlassungen und Fehlverhalten zur Ausweitung der Pandemie beigetragen hat, untersucht seit Ende April eine parlamentarische Kommission, die COVID-19 CPI.

Beantragt hatte die CPI nach der schweren Krise im Gesundheitssystem in Amazonien der Senator Randolfe Rodriges von der Umweltpartei REDE aus Amapá. Vor allem sollte der Verdacht untersucht werden, ob die nationale Regierung Hygienemaßnahmen wie Abstandsgebot oder das verpflichtende Tragen von Masken verhindert habe. Außerdem der verspätete Ankauf von Impfstoffen und der Einsatz von Medikamenten, die nicht gegen COVID-19 wirken, wie das Malaria-Medikament Chloroquin.
Die CPI, die sich aus Senatoren verschiedener Parteien zusammensetzt, wird am 5. November ihren Abschlussbericht veröffentlichen. Sie kann nur Empfehlungen geben, hat aber nachgewiesen, dass Präsident Bolsonaro und seine Berater*innen auf die Erlangung einer „natürlichen Herdenimmunität“ durch „schnelle Durchseuchung“ der Bevölkerung setzten. Lockdowns und Impfungen sind aus dieser Sicht kontraproduktiv. Der Sprecher der CPI, Renan Calheiros, erklärte am 5. Oktober, dass neben Präsident Bolsonaro weitere 50 Personen im Abschlussbericht verantwortlich gemacht werden, darunter Eduardo und Carlos Bolsonaro, Söhne des Präsidenten. Sie verbreiteten gezielt Falschinformationen, wie ein separater Bericht der CPI („fake news“) belegt.

Die CPI machte auch die Verzögerungen beim Kauf von Impfstoffen öffentlich, was das Impftempo letztlich beschleunigte. Ein wichtiges Ergebnis ist auch die Offenlegung des überhöhten Preises beim Kauf des indischen Impfstoffes Covaxin, worüber der Präsident zumindest informiert war. Der Oberste Gerichtshof eröffnete dazu eine Untersuchung wegen des Verdachts auf Korruption.
// Claudia Fix

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