Brasilien | Nummer 459/460 - Sept./Okt. 2012

Keine Kontaktaufnahme, bitte

Interview mit José Carlos Meirelles und Artur Figueira de Meirelles über die Situation unkontaktierter indigener Gruppen im Amazonasbecken

2008 gingen die Bilder um die Welt: fotografiert aus einem Flugzeug waren zum ersten Mal „unkontaktierte Indigene“ zu sehen. Kurz danach wurden José Carlos Meirelles und die brasilianische Behörde FUNAI, die die Fotos veröffentlicht hatten, der Fälschung beschuldigt. Doch noch immer gibt es in freiwilliger Isolation lebende indigene Gruppen. Allein im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Peru leben bis zu zehn unkontaktierte Gruppen. Die LN sprach mit José Carlos Meirelles und Artur Figueira de Meirelles über die Forderung nach einer binationalen Schutzzone und das Verhältnis zwischen Staat und Unkontaktierten.

Interview: Claudia Fix und Tilman Massa

Wie ist die Situation von unkontaktierten Indigenen im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet?
José Carlos Meirelles: Im Bundesstaat Acre an der Grenze zu Peru gibt es auf der brasilianischen Seite bereits verschiedene demarkierte, also staatlich anerkannte, indigene Territorien, auch von einigen unkontaktierten Gruppen. Auf peruanischer Seite sind die indigenen Gebiete ebenfalls als permanente Schutzgebiete ausgewiesen. Nun ist es so, dass in diesem Gebiet in den letzten Jahren auf peruanischer Seite ständig illegale Akteure eindringen: Holzfirmen, die ohne Genehmigung Mahagoni schlagen, und mehrere tausend illegale Goldwäscher. Durch die internationale Finanzkrise hat sich der Goldpreis fast verdreifacht – deshalb gibt es einen enormen Run auf das Gold. Und der peruanische Staat hat Konzessionen für die Ausbeutung von Erdöl und Erdgas fast überall in Amazonien erteilt, einschließlich für Territorien von kontaktierten und unkontaktierten Indigenen. Um das Bild zu vervollständigen: die Großproduktion von Kokain in Peru bewegt sich von den Kordilleren in diese Region an der Grenze zu Brasilien. Das alles hat die nichtkontaktierten Indigenen in die Migration geführt. Einige siedeln auf das brasilianische Territorium über.

Haben die Regierungen schon offiziell auf die Forderung nach einer binationalen Schutzzone reagiert?
JCM: Bis jetzt hat die peruanische Regierung noch nicht offiziell zu der Kampagne Stellung bezogen. Und dies, obwohl die indigenen Gruppen in Peru, die sich auch für die Unkontaktierten engagieren, ihre Regierung ständig unter Druck setzen, damit sie die ILO-Konvention 169 zum Schutz indigener Gruppen und andere unterzeichnete internationale Abkommen respektiert. Die Realität sieht durch die Menge an vorhandenem Mahagoni und Gold aber anders aus. Außerdem sind sie mit der Produktion von Kokain verbunden. Sie werden dazu benutzt, das Drogengeld zu waschen, es ist also sehr viel Geld im Spiel. Heute ist Peru der größte Produzent von Kokain weltweit, es hat Kolumbien überrundet. Der Gewinn aus der Kokainproduktion entspricht fast dem Bruttoinlandsprodukt von Peru, sie haben genauso viel Geld wie der Staat, sie sind ein Staat im Staat.

Wie viele indigene Gruppen leben in dem peruanisch-brasilianischen Grenzgebiet?
JCM: Auf der brasilianischen Seite wissen wir es genau: es sind vier unkontaktierte indigene Gruppen. Drei dieser Gruppen leben von der Landwirtschaft. Vom Umfang der Landwirtschaft können wir herleiten, wie viele Menschen es ungefähr sein müssen. Da sie mit niemandem Handel treiben, pflanzen sie nur das an, was sie essen. In allen vier Gruppen müssten ungefähr 800 Menschen leben, vielleicht auch nur 600, irgendwo dazwischen. Die vierte Gruppe sind Jäger und Sammler, da können wir es nicht schätzen. Auf der peruanischen Seite gehen wir von fünf bis sechs Gruppen aus. Ganz grob würde ich sagen, dass 2.000 unkontaktierte Indigene in der Region leben. Und dann gibt es noch 10.000 kontaktierte Indigene, die auch das Land nutzen. Aber es gibt viel mehr illegale Eindringlinge, rund 40.000.

Leben nur noch im Amazonasbecken unkontaktierte Gruppen?
JCM: In ganz Brasilien gibt es mit Sicherheit 30 isolierte Gruppen, denn diese wurden schon genau untersucht, ohne sie zu kontaktieren. Und es gibt Berichte über weitere 40 unkontaktierte Gruppen, die man verifizieren müsste.

Warum sollen isoliert lebende Indigene nicht kontaktiert werden?
JCM: Ich will das in wenigen Worten erklären. Von 1910, als der SPI, die Vorgängerorganisation der FUNAI, gegründet wurde, bis 1988, als die aktuelle Verfassung in Kraft trat, war die brasilianische Politik gegenüber Unkontaktierten folgende: die Grenze der Ausbeutung der Naturreserven schritt voran und wenn sie auf unkontaktierte Indigene gestoßen sind, dann haben sie zu diesen Kontakt aufgenommen. Zwischen 1987 und 1989 trafen sich verschiedene Leute, die mit Indigenen arbeiteten und stellten fest, dass es nur negative Geschichten über Kontaktaufnahmen gibt. Auch ich könnte keine positive Geschichte über die Kontaktaufnahmen erzählen, die ich gemacht habe. Wir haben dann eine Evaluation der registrierten, offiziellen Kontaktaufnahmen des brasilianischen Staates gemacht: binnen eines Jahres nach dem Kontakt waren in allen Fällen zwei Drittel der Kontaktierten gestorben.

Ist das vor allem auf Krankheiten zurückzuführen?
JCM: So ist es. Die unkontaktierten indigenen Gruppen haben keine Antikörper gegen Grippe, Masern oder Tuberkulose, also sterben sie daran. Ich niese einmal in einem isolierten Dorf und innerhalb von drei Tagen sind alle tot.Was haben wir also gemacht? Wenn ein Mitarbeiter der FUNAI heute isolierte Gruppen entdeckt, bestimmt er möglichst genau, wo ihr Territorium liegt, ohne sie zu kontaktieren. Anschließend präsentiert er die Ergebnisse dem brasilianischen Staat, dieser demarkiert das Gebiet, schützt es und zieht sich danach zurück. Die Möglichkeit der Kontaktaufnahme liegt dann bei den Indigenen. An dem Tag, an dem sie beschließen, uns zu zivilisieren, werden sie das tun [lacht]. Das ist die heutige Politik des brasilianischen Staates: er erkennt die Gruppen an, ohne sie kennenzulernen. Das war früher anders. Es gab also einen Paradigmenwechsel.

Sie würden also sagen, dass alle bisher unkontaktierten Indigenen freiwillig auf den Kontakt verzichten? In Europa ist unsere Vorstellung von isolierten Gruppen, dass sie gar nicht wissen, dass es „die Zivilisation“ gibt.
JCM: Alle indigenen Gruppen in Amazonien – und vermutlich auf der ganzen Welt – hatten eines Tages Kontakt mit uns. Als die Gummi-Industrie um 1900 in den Bundesstaat Acre kam, erschienen bald, so um 1905, die ersten Berichte über isolierte Gruppen. Diese Indigenen kennen uns schon sehr lange. Als sie uns zum ersten Mal trafen, versuchten sie, Kontakt aufzunehmen. Aber wenn ich dich zum ersten Mal zu Hause besuche und du auf mich schießt, werde ich dich sicher nie wieder besuchen!
Artur Figueira de Meirelles: Die indigenen Gruppen sind nicht gezwungen sich zu isolieren, sie wollen das so. Die Möglichkeit der Kontaktaufnahme liegt bei ihnen. Ihre Geschichte wird nicht schriftlich, sondern mündlich vom Vater an den Sohn weitergegeben, und so wird auch überliefert: „Vorsicht mit diesem Volk dort, sie töten uns.“
JCM: Dennoch nutzen sie die Vorzüge der Zivilisation. Wenn wir Luftaufnahmen von ihren Dörfern betrachten, sehen wir, dass sie Metalläxte benutzen, Macheten, und Kochtöpfe aus Metall. Wie kommen sie an diese Gerätschaften? Sie lassen sie irgendwo mitgehen. Sie hatten Steinäxte, Macheten aus Holz und Keramiktöpfe. Plötzlich taucht in ihrer Region ein Volk auf – wir – das Metalläxte besitzt, die tatsächlich Bäume fällen können, eine Machete, die sehr gut schneidet und magische Kochtöpfe, die auf die Erde fallen und nicht zerbrechen. Sie sind Menschen wie wir: wer will heute noch mit einer mechanischen Schreibmaschine schreiben? Niemand! Die Indigenen sind da nicht anders als wir! Sie wollen diese Dinge gern nutzen, nur möchten sie keinen Kontakt mit uns! Kulturen sind nicht statisch. Niemand will eine Glasglocke über diese indigenen Gemeinschaften stülpen und sie ins Museum verfrachten. Kulturen sind dynamisch, sie verändern sich, auch die indigenen Gemeinschaften. Selbst die Unkontaktierten.

2008 gab es den Vorwurf, dass Sie und die FUNAI bei einer gemeinsamen Kampagne mit „Survival International“ falsche Tatsachen verbreitet hätten – wie sehen Sie diese Vorwürfe heute?
JCM: Wir haben die unkontaktierten Indigenen viele Jahre lang geschützt und niemals hat irgendjemand auch nur ein einziges Foto gesehen. Aber als 2006 die Holzfäller, Goldschürfer und Kokainproduzenten einfielen, sagte der letzte peruanische Präsident Alan Garcia öffentlich, dass es in dieser Region keine einzige isoliert lebende indigene Gruppe gäbe. Dass dies ein Traum verrückter Umweltaktivisten sei. In Brasilien gab es zu der Zeit in anderen Regionen ebenfalls Probleme, verschiedene unkontaktierte Gruppen anerkennen zu lassen. Wir haben uns dann zusammengesetzt und gedacht, dass es an der Zeit wäre, einige dieser Fotos zu veröffentlichen. Denn diese indigenen Gruppen existieren! Als die Nachricht dann bei den Medien ankam – mein Gott – es hat nur noch gefehlt, dass mein Telefon geschmolzen wäre …

In einem Video sagen Sie, dass die unkontaktieren Indigen die letzen freien Völker dieser Erde seien. Ist das nicht eine Idealisierung?
JCM: Nun leben die Menschen, die Sie in dem Video gesehen haben, nicht ein bisschen anders als Sie? Ich weiß, dass es früher einen Wald gab, der sich von Russland bis Portugal erstreckte – wo ist er geblieben? Die Indigenen entdeckten eine Form des Lebens, die ein bisschen mehr mit dem Ort harmoniert, an dem sie leben. Ich würde aber auch nicht sagen, dass sie besser oder schlechter sind als wir. Sie haben sich einfach für eine andere Art zu leben entschieden. Und ich persönlich glaube, dass sie freier sind als wir. Ich habe seit 20 Jahren indigene Freunde und das Fundamentalste was sie mich gelehrt haben, ist folgendes: Sie wollten mich niemals verändern. Sie haben mich so akzeptiert, wie ich bin. Wir schaffen es nicht, dasselbe mit ihnen zu machen. Oder wie es einmal ein Journalist, dessen Namen ich leider gerade vergessen habe, formulierte: „Wir beurteilen Indigene immer nach dem, was sie nicht haben. Und niemals nach dem, was sie haben.“

Kasten:

José Carlos Meirelles und Artur Figueira de Meirelles

José Carlos Meirelles arbeitete 40 Jahre als Spezialist für in Isolation lebende oder kürzlich kontaktierte Indigene, in der brasilianischen Behörde FUNAI, deren Aufgabe der Schutz der indigenen Bevölkerung ist. Zurzeit beraten er und sein Sohn, Artur Figueira de Meirelles, die Regierung des Bundesstaates Acre zu indigenen Fragen. Ende Mai 2012 reisten sie auf Einladung der GfbV durch Europa, um auf die für indigene Gruppen besonders kritische Situation im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet aufmerksam zu machen.

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