ALLE AUF DIE STRASSE

“Kampf um das Leben” Die Protestcamps haben eine lange Tradition im indigenen Widerstand (Fotos: Fabio Rodrigues Pozzebom, Agência Brasil)

„Während wir unsere Dörfer, unsere Territorien, unsere Gemeinden verlassen, sind wir Indigenen uns alle darüber im Klaren, dass Bolsonaro schlimmer ist als der Virus. Denn er ermordet nicht nur indigene Körper, er ermordet auch den Geist, das Gedächtnis und den Widerstand derjenigen, die es fortsetzen möchten, Leben über die Erde zu verbreiten“, sagte die Anthropologin und Kunstpädagogin Tai Kariri zu Beginn des Protestcamps „Kampf um das Leben“, das vom 22. August bis 2. September 2021 stattfand. Die Protestcamps in der Hauptstadt Brasília − in zwei Kilometern Entfernung von Kongress, Präsidentenpalast und Oberstem Gerichtshof − sind inzwischen eine 16-jährige Tradition des indigenen Widerstandes in Brasilien.

Die diesjährige Mobilisierung gegen den marco temporal, unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht 1988“, wird von dem nationalen Zusammenschluss der indigenen Völker Brasiliens (Apib) in ihrem Ausmaß aber als historisch bezeichnet. Der Protest wird vom 7. bis zum 11. September mit dem Marsch der indigenen Frauen fortgesetzt und soll bis Ende 2021 als Dauerbesetzung bestehen – neben der Mobilisierung in den sozialen Netzwerken und den indigenen Territorien. Dabei versteht sich die indigene Bewegung als Teil der globalen Bewegung für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und der brasilianischen Demokratiebewegung.

Der Prozess des Obersten Gerichtshofes (STF) über eine Stichtagsregelung für die Anerkennung indigener Territorien begann am 26. August. In der ersten Woche wurden mehr als 30 Organisationen und Institutionen zum marco temporal angehört, darunter auch Vertreter*innen der Agro-Industrie, der Großgrundbesitzer*innen sowie der Generalstaatsanwaltschaften. Insgesamt gibt es – 33 Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung von 1988, die die juristische Anerkennung von indigenen Territorien ausdrücklich vorsieht – noch immer 300 offene Prozesse um indigenes Land. Wird die Stichtagsregelung zum Gesetz, droht tausenden von indigenen Gemeinschaften die Vertreibung aus dem Gebiet, das sie bewohnen oder das für sie große spirituelle oder kulturelle Bedeutung hat. Andere könnten voraussichtlich ihre legitimen Ansprüche auf ein bestimmtes Territorium niemals juristisch durchsetzen. Insofern wurde die Entscheidung des Richters und Berichterstatters des STF, Edson Fachin, gegen die Stichtagsregelung vom Marsch der indigenen Frauen am 9. September mit großer Freude und Erleichterung aufgenommen – auch wenn der Prozess damit noch nicht entschieden ist. Sonia Bone Guajajara, indigene Führungspersönlichkeit und eine der Koordinatorinnen von Apib, twitterte: „Der erste Sieg der indigenen Völker in diesem Gerichtsverfahren, das für das Schicksal der Indigenen in ganz Brasilien so entscheidend ist.“

Neben der indigenen Mobilisierung erlebt Brasilien eine Welle von Protesten auf der Straße. Präsident Bolsonaro hatte seine Anhänger*innen dazu aufgerufen, am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, massenhaft an Demonstrationen für die Regierungspolitik teilzunehmen. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien mobilisierten daraufhin zu Gegenprotesten, oft gemeinsam mit dem traditionellen „Grito dos excluídos“ (Aufschrei der Ausgegrenzten). In insgesamt 160 Städten fanden Kundgebungen und Demonstrationen statt, die die Absetzung Bolsonaros und Sozialprogramme forderten. Verschärft durch die Pandemie, bleibt die Anzahl der Arbeitslosen in Brasilien auf einer Rekordhöhe von fast 15 Millionen Menschen, während bereits 40 Millionen Brasilianer*innen an Hunger leiden und mindestens weitere 85 Millionen von Ernährungsunsicherheit bedroht sind. Obwohl viele Gegner*innen von Bolsonaro den Aufrufen folgten, blieb die Mobilisierung der Opposition hinter der der Anhänger*innen des Präsidenten zurück. So versammelten sich in São Paulo rund 250.000 Anhänger*innen von Bolsonaro – deutlich weniger als die angekündigten zwei bis drei Millionen, aber dennoch deutlich mehr als die der Opposition.

Bolsonaro selbst sprach am 7. September auf Kundgebungen in Brasília und São Paulo. Er forderte den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Luiz Fux, ultimativ auf, einen der STF-Richter, Alexandre de Moraes, zu entfernen. Er kündigte außerdem an, keine weiteren juristischen Entscheidungen von Moraes zu akzeptieren. Seine Reden lösten ein kleines Erdbeben im politischen Establishment aus, da es sich überdeutlich um einen Versuch handelte, die Unabhängigkeit der Justiz zu beenden. Bolsonaro, der sich ebenso wie seine Söhne juristisch in mehreren Fällen verantworten muss, versucht in seiner Anhängerschaft einen Diskurs zu etablieren, in dem jede Einschränkung der Macht des Präsidenten als „undemokratisch“ kritisiert wird. Dies ist ihm bereits weitgehend gelungen und ließ sich an den Plakaten der Demonstrationen ebenso deutlich ablesen, wie die Forderung nach einer Machtübernahme des Militärs.

Mit den öffentlichen Angriffen gegen das STF scheint Bolsonaro jedoch eine Grenze überschritten zu haben: Mehrere Parteien, darunter die mit Bolsonaro verbündete PSDB und die 18 Parteien des demokratischen Bündnisses Direitas Já – Fórum pela Democracia, kündigten erstmals an, ein Amtsenthebungsverfahren zu prüfen und seine Gesetzesvorhaben im Parlament nicht mehr zu unterstützen. Inzwischen liegen mehr als 120 Anträge auf Amtsenthebungsverfahren von Bolsonaro im Kongress vor, die der Parlamentspräsident Arthur Lira bisher nicht auf die Tagesordnung setzte. Der drohende Entzug der Unterstützung muss so deutlich gewesen sein, dass Bolsonaro unmittelbar zurückruderte. Am 9. September veröffentlichte er einen Brief – dem Vernehmen nach von seinem Vorgänger Michel Temer diktiert – in dem er seine demokratischen Grundüberzeugungen beteuert. Ein sehr durchsichtiges Manöver, das unter anderem von seinem Vorbild Trump bekannt ist. Eine Fortsetzung seiner Attacken auf die Justiz wird erwartet.

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