OFFENSIVE GEGEN INDIGENE

Gegen den marco temporal Protest vor dem Bundesgerichtshof (Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom, Agência Brasil)

Das Gesetzesvorhaben marco temporal steht im Fokus der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen der brasilianischen Regierung und den Interessenvertretungen der indigenen Völker. Dabei geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse am Stichtag auf diesem Land gelebt, sich in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden haben. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) sieht deshalb den marco temporal als verfassungswidrig an, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, als Grundlagen des neuen Gesetzes anerkennt. Darüber hinaus werde die Tatsache ignoriert, dass es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage gab, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebiets am 5.Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die eine kulturelle und spirituelle Bedeutung haben, aber nicht bewohnt werden.

Bereits im Wahlkampf hatte Jair Bolsonaro erklärt, dass unter seiner Präsidentschaft für indigene Gemeinschaften kein Zentimeter Land zusätzlich als Schutzgebiet ausgewiesen („demarkiert“) werden würde. Dieses Ziel hat er bisher umgesetzt: Unter seiner Regierung sind die Demarkationen indigener Territorien auf Null zurückgegangen. Die ausstehende juristische Entscheidung zum marco temporal diente der Regierung und einem Teil der Justiz als Rechtfertigung für die Lähmung der Demarkationspolitik. Ohne die juristische Anerkennung ihrer Territorien droht den Menschen dort die Vertreibung aus ihrer traditionellen Heimat, die untrennbar mit ihrer Kultur und ihren Lebensgrundlagen verwoben ist. Die möglichen Zwangsräumungen würden zur Auslöschung vieler indigener Gemeinschaften führen.

Legislative greift indigene Territorien an

Dabei schwelt der juristische Streit um die Stichtagsregelung schon länger. 2009 hatte der Oberste Gerichtshof (STF) bereits einmal über den marco temporal entschieden, als das indigene Territorium Raposa Serra do Sol anerkannt wurde. Das 1,7 Millionen Hektar große Gebiet in der nördlichen Hälfte des Bundesstaates Roraima ist die Heimat der Macuxi. Es ist das größte Schutzgebiet Brasiliens und eines der größten der Welt. Das 2009 erlassene Urteil wurde einerseits mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn das Gericht erkannte an, dass die rechtliche Absicherung der indigenen Gebiete ein nationales Gebot ist – auch aufgrund der historischen Schuld gegenüber den indigenen Völkern. Anderseits führte das Urteil in seiner Begründung auch die bewiesene Besiedlung des Gebiets im Jahre 1988 an, berief sich also auf den Stichtag. Dies löste seinerzeit Befürchtungen aus, dass in diesem eigentlich positiven Urteil eine Zeitbombe versteckt sei. 2013 entschied der Oberste Gerichtshof in einem weiteren Verfahren, dass das Urteil von 2009 über das Gebiet Raposa Serra do Sol nur für diesen konkreten Fall gelte. Seitdem steht ein Grundsatzurteil zur Stichtagsregelung aus. Offen blieb damals auch, inwieweit ein Gesetz, wie zum Beispiel die Gesetzesinitiative PL 490 im Jahr 2007, den marco temporal etablieren könne. Damit war klar, dass Brasiliens Agrobusiness und die Agrarlobby der ruralistas wegen der Stichtagsregelung wieder vor Gericht ziehen würden. Dies geschah nun Anfang September dieses Jahres mit der Enteignungsklage der Regierung des Bundesstaates von Santa Catarina gegen das indigene Volk der Xokleng in Bezug auf deren Territorium Birama-Laklãnõ. Dieser Prozess führte nicht nur zu Protesten der Indigenen, sondern auch zu einer großen Mobilisierung des Agrarbusiness, das einhellig für eine Stichtagsregelung eintritt.

Der aktuelle Versuch, den marco temporal zu etablieren, ist nicht der einzige Angriff auf die Rechte der indigenen Völker. So hat Bolsonaro im Jahr 2020 die Gesetzesinitiative PL 191 den beiden Kammern des Nationalkongresses zur Entscheidung vorgelegt, die Bergbau und Wasserkraft in indigenen Territorien erlauben soll. Dies ist tragischerweise nicht durch die Verfassung ausgeschlossen. Die Legalisierung und Regulierung des Bergbaus wird damit zu einer zentralen Frage für die Zukunft der indigenen Völker in Brasilien.

Auch hier ist zu befürchten, dass die Mehrheitsfraktionen der Landwirtschaftslobby und der Bergbaulobby sich durchsetzen könnten. 280 der insgesamt 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses sind Mitglieder der sogenannten „Ruralistas“-Fraktion, also des parteiübergreifenden Zusammenschlusses der Landwirtschaftslobby, der Frente Parlamentar da Agropecuária (FPA). Laut Recherchen der Nichtregierungsorganisation De Olho nos Ruralistas ging die mehrmalige Vertagung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes über die Stichtagsregelung auf den politischen Druck der FPA zurück. Die FPA verfolge damit das Ziel, zunächst in der Abgeordnetenkammer die Gesetzesinitiative PL 490/2007 durchzubringen. Dieser Gesetzentwurf soll maßgeblich Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien gestatten, wenn es dem „relevanten öffentlichen Interesse des Bundes“ diene. Außerdem würde dieser Gesetzentwurf in der Praxis noch nicht abgeschlossene Demarkationsverfahren erheblich erschweren; die Anerkennung neuer Gebiete wäre praktisch unmöglich und darüber hinaus könnten sogar bereits bestehende Demarkationen rückgängig gemacht werden. Auch könnte mit indigenen Gruppen in freiwilliger Isolation leichter ein Kontakt erzwungen werden, was für diese Gemeinschaften lebensbedrohlich ist. Falls dieser Gesetzentwurf in Kraft tritt, wird sich die Lage der indigenen Völker Brasiliens weiter zuspitzen, Landraub und Konflikte sowie Entwaldung und Brandrodung werden zunehmen. Am 23. Juni dieses Jahres war der Gesetzesentwurf PL 490/2007 im zuständigen Ausschuss des brasilianischen Abgeordnetenhauses verabschiedet worden und muss nun im Parlamentsplenum beschlossen werden, bevor es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt wird. Bereits im Juni hatten fast 1.000 indigene Repräsentant*innen vor dem Kongress in Brasília protestiert und die Gefahr von Landraub durch das Gesetz 490 sowie den darin ebenfalls enthaltenen Passus zum marco temporal wütend kritisiert.

Stichtagsregelung marco temporal

Weitere Gesetzesinitiativen sind zwei auch als „Landraubgesetze“ (PL da grilagem) bekannte Gesetzesvorhaben: eines im Nationalkongress (PL2633/2020), das andere im Senat (PL 510/2021), die beide unter anderem die illegale Aneignung von Land nachträglich legalisieren sollen.

Eine weitere zentrale Konfliktlinie ist die Zustimmung Brasiliens zur Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz indigener Völker. Die Frente Parlamentar da Agropecuária hat am 12. August dieses Jahres ein Dokument veröffentlicht, in der sie den Austritt aus der ILO 169 fordert. Dort argumentiert das Agrobusiness, die ILO 169 beschneide Brasilien in den „Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen – kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten“ sei. Daher fordert die FPA, dass Brasilien zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der ILO 169 austreten solle. Nach den Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen. Da Brasilien die ILO-Konvention 169 im Jahr 2002 unterzeichnet hat, könne dieser Schritt bis zum 5. September 2022 vollzogen werden, so die Agrarlobby. Dies deckt sich mit Bolsonaros Vorstellungen. Denn auch er hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt geäußert, der Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sei dringend notwendig, um die Entwicklung des Landes nicht weiter zu behindern. Ein Austritt Brasiliens aus der ILO 169 würde dem Trend hierzulande entgegenlaufen: Deutschland hat 2021 nach jahrzehntelanger zivilgesellschaftlicher Kampagne die ILO 169 endlich ratifiziert. Diese Ratifizierung sollte auch ein internationales Signal der Unterstützung der ILO 169 sein.
Brasilien ist für Deutschland der einzige sogenannte „strategische Partner“ in Südamerika und im Spätherbst stehen erneut hochrangige Regierungskonsultationen beider Partner-Länder an. Es bleibt zu hoffen, dass bei den Konsultationen jenseits von Dialog und gegenseitiger Partnerschafts-Beteuerung endlich auch einmal klare rote Linien gezogen werden: Ein drohender Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sollte so eine rote Linie sein.

Die aktuellen Konflikte zeigen, dass der brasilianische Präsident jenseits aller rechtsradikalen Skurrilität eine konsistente Agenda verfolgt: Die Kampagne gegen die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften war bereits im Wahlkampf ein zentrales Thema Bolsonaros. Und die aktuelle Offensive geschieht mit der expliziten Unterstützung des mächtigen Agrobusiness und dessen massiver Präsenz im Parlament. Eine Kooperation mit dieser Regierung wird immer problematischer und unverständlicher.

OFFENER BRIEF DER SHUAR

shuar_cidhEin Shuar-Vertreter vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte / Foto: CIDH (CC BY 2.0)

An meine Shuar-Brüder, an die Indigenen des Amazonasbeckens und der Anden, an die Männer und Frauen aus Ecuador und der Welt.

Wie viele von Euch wissen, waren die vergangenen Tage sehr gefährlich für unsere Leute. Und die Gefahr ist noch nicht vorbei. Das ist vermutlich erst der Anfang einer großen territorialen Auseinandersetzung, die die nationale Regierung gegen die Shuar Arutam eingeleitet hat.

Unser Urwald wurde mit Tränen, Angst und Blut befleckt. Die Pfade, die wir in Frieden begingen, sind unsicher und gefährlich geworden. Es ist nun fast 30 Jahre her, dass die Ecuadorianer uns als Helden des Cenepa (Krieg um die Landesgrenze mit Peru Anm. d. Red.) anerkannten, als die Verteidiger von Ecuador, dem Land, dem wir angehören.

Nun ist es an der Zeit, dass die Leute aus unserem eigenen Mund erfahren, wer wir sind. Viele haben in unserem Namen gesprochen, ohne uns zu fragen: die Regierung, Politiker, soziale Aktivisten – manche mit guten, manche mit schlechten Absichten.

Wir sind hier geboren, in diesem riesigen Urwald, der die Cordillera del Cóndor und die Flüsse Zamora und Santiago umfasst. Stacheldraht und Privatbesitz kannten wir nicht. Bis der Staat unser Land zu Brachland erklärte und seine Besiedelung organisierte, mit dieser Überzeugung und Selbstlegitimierung, die allen Siedlern zueigen ist. Als die Siedler dann kamen, haben wir sie freundlich empfangen, weil wir wussten, dass sie arme, hart arbeitende Leute sind, die nur eine Chance für sich und ihr Leben suchen. Ganze Landstriche gehörten uns von einem Tag auf den anderen nicht mehr, weil Besitztitel auf die Namen von Leuten ausgestellt worden waren, die wir zum Teil nicht einmal kannten.

In den 60er Jahren mussten wir die Interprovinzielle Shuar-Vereinigung FICSH gründen, die wir bis heute als unsere Mutter betrachten, damit der Staat endlich anerkannte, was immer unseres gewesen war: das Territorium, unsere Lebensräume und unsere Kultur. Erst in den 80er Jahren wurden dann Gemeinschaftstitel auf unser Land ausgestellt. Wir erhielten nicht nur aufgrund des Cenepa-Kriegs Anerkennung, sondern auch weil wir diese jahrtausendealten, riesenhaften Wälder erhalten hatten, in Frieden und zum Schutz der Landesgrenze.

Im Jahr 2000 bereiste eine Gruppe von Shuar-Anführern dieses Land und gründete das Shuar Arutam Territorium, so wie die Verfassung es vorschrieb. Das war nicht einfach; es gab hunderte von Versammlungen und Diskussionen, bis sich schließlich sechs Verbände mit ihren 48 Gemeinden zusammentaten, um so ein zusammenhängendes Territorium von 230.000 Hektar in der Provinz Morona Santiago an der Grenze zu Peru zu schaffen.

„Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben  worden.“


Die FICSH eröffnete uns ihr Pilotprojekt, innerhalb des ecuadorianischen Staates eine neue Form indigener Selbstregierung auszuprobieren, eine Art Spezialregime in den Grenzen dieses Shuar-Gebiets. Im Jahr 2003 entwickelten wir unseren Lebensplan, der das Rückgrat unserer Organisation darstellt. Er ist der Kompass, der uns die Richtung weist, der uns sagt, welche Flüsse wir befahren können und wo wir unsere Nase besser heraushalten. Unser Lebensplan behandelt grundlegende Fragen wie Gesundheit, Bildung, den Erhalt und die Kontrolle des Waldes und seiner Ressourcen, Wirtschaft und Umweltschutz. Wir sind praktisch die einzige Gruppe des Landes, die ihr Territorium nach Kategorien nachhaltiger Nutzung eingeteilt hat. 120.000 Hektar haben wir zum strikten Schutzgebiet erklärt, zum Nutzen aller Ecuadorianer.

Im Jahr 2006 wurden wir vom Entwicklungsrat der Nationalitäten und Völker Ecuadors CODENPE als Shuar Arutam Volk legalisiert. Zwei Jahre später unterzeichneten wir einen Vertrag mit der Regierung, um unseren Wald 20 Jahre lang in perfektem Zustand zu erhalten und dafür Zuschüsse zu bekommen, die uns helfen würden, unseren Lebensplan umzusetzen. Dieser Vertrag heißt Socio Bosque – Waldpartner.

Im Jahr 2014 haben wir unseren Lebensplan aktualisiert. Einmal mehr sprach sich unsere Generalversammlung dagegen aus, dass innerhalb unseres Gebiets Bergbau im mittleren oder industriellen Maßstab betrieben wird. Wir haben zu Präsident Correa gesagt: Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm.  Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.

In dieser Situation brach der Konflikt von Nankins aus. Schon seit dem Jahr 2008 bieten wir der Nationalregierung einen institutionalisierten Dialog an, doch trotz all unserer Bemühungen ist es uns nicht gelungen, im Rahmen des plurinationalen Staates ein ernsthaftes, ehrliches, aufrichtiges Gespräch auf Augenhöhe herzustellen. Das ist der Grund für das mangelnde Verständnis und die Fehlinterpretationen der Bedürfnisse der Shuar.

Im Namen eines „nationalen Interesses“, und indem die Vorfälle in Nankints zum Einzelfall erklärt werden, ignoriert die Regierung andere Rechte und Dinge, die laut Verfassung ebenfalls im nationalen Interesse liegen sollten: die Plurikulturalität und der Naturschutz. In Nankints benimmt sich die revolutionäre Regierung wie jeder x-beliebige Kolonisator und vergisst sogar die internationalen Verpflichtungen, die sie selbst eingegangen ist.

Das Problem liegt nicht in dem Stück Land um Nankints, das wir mit den Siedlern teilen. Von dem die Leute glauben, dass es niemals den Shuar gehört hat. Es lag außerhalb unserer Vorstellungswelt, dass einmal ein Bergbauunternehmen einfach das Land unserer Vorfahren vom Staat und von ein paar Siedlern kaufen könnte. Die Regierung ist vergesslich, und da sie viele Medien besitzt, um sich Gehör zu veschaffen, setzt sie ihre eigenen Wahrheiten durch. Unser Gebiet umfasst nicht nur Nankints. Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben worden. Die gesamten Flussläufe des Zamora und des Santiago wurden an den Klein-Bergbau konzessioniert. Und ein riesiges Wasserkraftwerk ist im Begriff, gebaut zu werden. Unsere Frage lautet: Wo sollen wir Eurer Ansicht nach leben?

„Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben?“


Aus diesem Grund haben wir vor neun Jahren dem Unternehmen gesagt, es soll unser Land verlassen, und uns Nankints zurückgeholt. Neun Jahre später hat irgendjemand den Präsidenten manipuliert, damit er uns gewaltsam vertreibt, noch bevor er abtritt. Weil wir uns das nicht gefallen lassen, kommt es zu Gewalt. Sie haben uns die Schuld für die Tragödie mit dem ermordeten Polizisten gegeben, aber wir haben keinerlei Befehl ausgegeben, jemanden umzubringen. Die Regierung hingegen schickt, anstatt mit uns zu sprechen, tausende von Polizisten und Militärs in unsere Häuser, auf unser Land, terrorisiert und bedroht unsere Kinder. Soweit ich weiß, ist keiner von uns Scharfschütze, noch besitzen wir Feuerwaffen, die einen Polizeihelm durchschlagen würden. Warum ermitteln sie nicht gründlich, bevor sie uns verfolgen, bevor sie Haftbefehle für all unsere Familienväter ausstellen? Warum verkünden sie bei uns den Ausnahmezustand, anstatt mit uns zu reden um zu ermitteln, um die Gewalt zu stoppen, um den dunklen Kräften die Türen zu verschließen? Warum dringen sie in unsere Häuser ein? Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben? Die Antwort, die wir erhalten, ist, dass wir angesichts des nationalen Interesses nur eine Handvoll folkloristischer und terroristischer Indios sind und nicht verstehen, was Buen Vivir bedeutet. Und schon gar nicht Sumak Kawsay oder das Projekt der Bürgerrevolution.

In diesem ersten Kommuniqué aus den Wäldern der Cordillera del Cóndor sagen wir tausend Familien Euch, dass wir es unter keinen Umständen zulassen werden, dass die Gewalt und die Macht der Regierung unser Haus, Dein Haus, das Haus der Welt zerstört.

Präsident Rafael Correa muss ein Klima des Friedens schaffen, seine Truppen zurückziehen, den Ausnahmezustand in unserer Provinz aufheben sowie die Haftbefehle gegen unsere Anführer und Angehörigen. Der einzig richtige Weg, um diesen Weg der Zerstörung zu beenden – der einzelne Shuar zu isolierten Widerstandsaktionen treibt, um ihr Gebiet zurückzuerobern –, ist der Dialog, der Respekt, das gegenseitige Verständnis.

Wir fordern alle Bewohner Ecuadors und Morona Santiagos auf, sich unserer Forderung nach Frieden, der Beendigung der Gewalt und einem ernsthaften Dialog mit der Regierung anzuschließen; einem Dialog, der unser Leben als Ureinwohner respektiert.

„WIR GEBEN UNSER LAND NICHT AUF“

Unser Kleinbus schaukelt durch die Schlaglöcher einer Schotterpiste. Ab und zu bricht ein kurzer Regenschauer über uns herein. Je weiter wir uns von der Hauptstadt Tegucigalpa nach Norden Richtung Atlantikküste begeben, desto flacher wird es, umso tropischer werden die Temperaturen. Nach neun Stunden Fahrt sind wir froh, die erste Station unserer dreiwöchigen Reise zu erreichen: Trujillo, die ehemalige Hauptstadt zu frühkolonialen Zeiten. Wir, das sind sechs Menschen aus Honduras, Spanien und Deutschland, die sich in der Solidaritätsbewegung HondurasDelegation engagieren. Wir haben uns für diese Reise zusammengetan, um uns ein Bild von der aktuellen Menschenrechtslage in Honduras zu machen und in Deutschland darüber zu berichten. Seit dem Putsch 2009 ist es bereits die fünfte HondurasDelegation. Aus den Reisen entstanden zahlreiche Berichte, Filme und eine Fülle von Kontakten. Jede Delegation hatte andere Schwerpunkte, wir interessieren uns besonders für den Kampf der indigenen Bevölkerung um ihre Landrechte.

Fotos: Rita Trautmann

In Trujillo erwarten uns blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Das Meer liegt ruhig in der Bucht. Das Städtchen ist auf einer kleinen Anhöhe gelegen und neben einem Denkmal für Christoph Kolumbus, der hier 1502 erstmals den amerikanischen Kontinent betrat, haben wir einen guten Blick über die Bucht. Wir treffen Malvin Morales, Aktivist bei OFRANEH (Organización Fraternal Negra Hondureña), der Bewegung der afro-indigenen Garifuna. Malvin begrüßt uns herzlich und berichtet sofort von den Landkonflikten in der Bucht: „Wir haben als Garifuna seit 1901 kollektive Landtitel, die der damalige Präsident Manuel Bonilla ausstellte. Doch nach und nach hat man uns dieses Landes beraubt.“ Er zeigt auf die gegenüberliegende Landzunge: „Dort befand sich mein Dorf Puerto Castilla. Wir mussten der staatlichen Hafengesellschaft weichen und haben dabei einen guten Teil unseres Landes verloren. Nun wohnen wir südlich vom Hafen und sind wieder von einer Umsiedlung bedroht.“ Wir spähen gegen das Sonnenlicht herüber und können Umrisse der riesigen Container im Hafen erkennen. Von dort werden Bananen von den Plantagen in die USA verschifft.

Die Garifuna sind Nachfahren der karibischen Arawak-Indigenen und afrikanischer Versklavter, die Ende des 18. Jahrhunderts von englischen Kolonisator*innen nach Honduras deportiert wurden. Von dort aus besiedelten sie die Küste Zentralamerikas zwischen Belize und Nicaragua. Die meisten leben in 46 Gemeinden der honduranischen Karibikküste. Seit mehreren Jahren plant die honduranische Regierung in der Bucht von Trujillo eine sogenannte ZEDE (Zona de Empleo y Desarrollo Económico), auch bekannt als „Modellstadt“ oder Sonderwirtschaftszone (LN 466), die zusätzlich Investor*innen anlockt. „Alle Gemeinden sind von diesen Plänen gefährdet. Dazu kommen illegale Landverkäufe an Privatinvestoren“, fährt Malvin fort. „Auf der westlichen Seite der Bucht sind die Gemeinden Santa Fé, San Antonio und Guadelupe von Landraub durch einen kanadischen Investor betroffen“. Was all dies für die Garifuna-Gemeinden bedeutet, wird schnell klar. Sie werden vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage, die vor allem auf Fischfang und kleinbäuerliche Landwirtschaft basiert. Die Regierung übt Druck auf die Garifuna aus: Während Malvin von den Regierungsplänen zur Schaffung der sogenannten Modellstadt in der Bucht von Trujillo berichtet, patrouillieren ständig Militärs an uns vorbei. Er lässt sich davon allerdings nicht beeindrucken.

Bereit zum Rückerobern: Landaktivist Malvin Morales

Malvin hat sich OFRANEH angeschlossen, um die kollektiven Landrechte der Garifuna zu verteidigen und bereits geraubtes Land zurückzugewinnen. Bevor die Sonne höher steigt und es noch wärmer wird, machen wir uns mit ihm auf den Weg, um zwei der OFRANEH-Projekte zur Landrückgewinnung, sogenannte recuperaciones, zu besuchen. Wir fahren einen malerischen, aber unbefestigten Küstenweg entlang und treffen Carmen Alvarez, ebenfalls Aktivistin bei OFRANEH. Sie erzählt uns, wie die Garifuna-Gemeinden Teile ihres Landes verloren: „Unsere Landwirtschaft funktioniert so, dass wir nicht alles Land gleichzeitig bebauen, sondern immer einen Teil des Landes brachliegen lassen. Die Brachen  wurden nach und nach von anderen besetzt und, wenn wir dort im Folgejahr etwas anbauen wollten, war das Land bereits eingezäunt. Hinzu kommt, dass staatliche Behörden, besonders die Gemeindeverwaltung von Trujillo, korrupt sind. Sie verkaufen Land, das uns gehört, ohne uns zu fragen. Sie erkennen unseren kollektiven Landtitel von 1901 einfach nicht an. So konnte zum Beispiel Randy Jorgensen unser Land kaufen.“

Jorgensen, ein als „Porno-König“ bekannter Kanadier, nutzt seine Nähe zu konservativen Politikern in Honduras, um sich im großen Stil Land für Tourismusprojekte anzueignen. „Er versprach den Gemeinden, dass sie vom Tourismus profitieren würden. Und der einzige, der verdient, ist Randy“, berichtet Carmen. Auf dem Weg zur recuperación des Dorfes Guadelupe kommen wir an mehreren neuen Luxus-Altersresidenzen für Rentner aus dem globalen Norden vorbei, die sich in seinem Besitz befinden. In direkter Nachbarschaft zu einer dieser Residenzen, die hinter Mauern und mit Sicherheitspersonal gut vor Blicken von außen abgeschirmt ist, liegt das Gelände des Projektes. Ein großes Banner mit der Aufschrift: „Unsere Kultur und unser Land sind nicht zum Verkauf! – OFRANEH“ kündigt es an. Wir werden bereits von einer Gruppe junger Menschen aus Guadelupe erwartet. Einige Frauen haben in einer provisorischen, mit Plastikplanen überdachten Küche Essen zubereitet. Auf dem Grundstück der recuperación stehen fünf fertige Häuser, an weiteren wird gebaut.

Tatort Landraub: Puerto Castilla

Von den rund 30 jungen Menschen, die sich an diesem OFRANEH-Projekt beteiligen, hatten viele den Traum vom großen Glück in den USA. Sie wurden deportiert oder kamen nie bis zur Grenze. Ohne Besitz und ohne Aussicht auf Arbeit kehrten sie zurück und schlossen sich den Landprojekten an. Einer von ihnen, Darwin Arriola, erzählt von seiner Motivation: „Ich kam bis Mexiko, hatte kein Geld mehr und wusste nicht mehr weiter. Ich hatte Hunger und Durst und hoffte darauf, dass mir jemand etwas geben würde, ich habe geweint. Es war ein furchtbar entwürdigender Moment. So etwas möchte ich nie mehr erleben. Ich bin froh wieder hier zu sein und möchte arbeiten, deshalb habe ich mich der recuperación angeschlossen.“ Die meisten Menschen in diesem Projekt haben zuvor nicht in der Landwirtschaft gearbeitet. Wir sind beeindruckt, wie viel Kraft und Arbeit sie in die Nutzbarmachung des Landes stecken. Ausführlich zeigen uns einige aus der Gruppe das Gelände: Hier eine kleine Pflanzung von Bananen, dort Maniok. Sie wissen, dass das Land ihnen die einzige Chance bietet, um zu überleben. Deshalb gehen sie die Risiken ein, die damit verbunden sind.

Malvin erzählt uns, dass OFRANEH und die Aktivist*innen, die bei den recuperaciones dabei sind, kriminalisiert, verfolgt und eingeschüchtert werden. Alle Projekte in der Bucht haben bereits Räumungsversuche der Polizei erlebt, auch wenn es rechtlich dafür keine Grundlage gibt. Medelín David Hernández, eine der Aktivist*innen aus Guadelupe, wurde im November von der Polizei unrechtmäßig verhaftet und misshandelt. Dennoch lässt sie sich nicht einschüchtern: „Wir haben Gruppen gebildet und wechseln uns hier auf der recuperación ab, so dass eine Gruppe im Dorf ist und die andere hier arbeitet, so ist immer jemand auf diesem Grundstück. Es ist unser Land und wir werden es nicht aufgeben.“ Medelín David Hernández wurde wegen Landbesetzung angezeigt. Während sie erzählt, hält sie ihren kleinen Sohn an der Hand. Er ist für Medelín eine große Motivation, das Land zu verteidigen. Bei den Gesprächen mit den Aktivist*innen merken wir kaum, wie schnell die Zeit vergeht. Aber da der Weg von Guadelupe nach Trujillo nicht beleuchtet ist, müssen wir noch vor der Dämmerung aufbrechen.

Gemeinsam stark: OFRANEH-Aktivistin Medelín David Hernández mit ihrem Sohn 

Am folgenden Tag besuchen wir Puerto Castilla auf der Landzunge, die sich östlich von Trujillo um die Bucht erstreckt. Die nicht weit entfernten Bananenplantagen und der Hafen machen das Garifuna-Land attraktiv für Investitionen verschiedenster Art. Wir fahren durch das Dorf und wir ahnen, wie dringend für die Bewohner*innen die Rückgewinnung ihres Landes ist. Die Häuser stehen dicht gedrängt, es gibt keinen Platz für Hausgärten, manchmal nicht einmal Platz, um Wäsche hinter dem Haus aufzuhängen. Malvin, der selbst aus Puerto Castilla stammt, bestätigt dies: „Wir alle haben Kinder, aber wir haben nicht genug Häuser und wir haben nicht einmal mehr ein kleines Stück Land, um Maniok anzubauen. Was sollen wir unseren Kindern geben? Und das, obwohl wir die Landtitel für viel größere Flächen besitzen.“ *Es bleibt noch viel zu tun, bis diese Titel und das Recht der Garifuna auf Land wieder respektiert werden

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