No están solas! Auf der Plaza San Martín ist keine* mehr alleine (Foto: marcha.org.ar)
„Es gibt drei Mechanismen, die uns Frauen einschränken und die wir bekämpfen müssen: Die Schuld, die Scham und das Schweigen“, verkündet Sandra Morán, die erste und einzige lesbische Abgeordnete in Guatemalas Parlament, die extra zum Frauentreffen nach Argentinien gereist ist. „Deswegen werde ich jetzt ein Gedicht vortragen. Es heißt: Schluss mit dem Schweigen!“, ruft sie, trommelt wild auf eine kleine Djembe und schreit immer wieder in die Menge: „Schluss mit dem Schweigen!“ Jedes Mal schreit die Menge zurück: „Schluss damit!“ und hat damit ihren Ruf schon lautstark in die Tat umgesetzt.
„Schluss mit dem Schweigen!“
Es ist der zweite Tag des mittlerweile 34. Frauentreffens in Argentinien und auf einem der vielen Plätze der belagerten Stadt, der Plaza San Martín, findet eine riesige Asamblea (Versammlung) der antikolonialen Feminist*innen des Abya Yala statt. Abya Yala ist der Begriff in der Sprache der Kuna, unter dem der Kontinent Amerika vor der Ankunft Kolumbus‘ bekannt war. Wie viele Menschen auf dem Platz versammelt sind, ist unmöglich zu zählen, aber soweit das Auge reicht, sieht man in die Luft gestreckte Fäuste mit ums Handgelenk gebundenen grünen Tüchern, dem Zeichen des Kampfes für das Recht auf Abtreibung. An diesem Nachmittag sprechen hier viele Frauen* aus verschiedenen Regionen des Abya Yala, erzählen von ihren Kämpfen in ihren Territorien: Honduras, Ecuador, Wallmapu, dem sogenannten Chile und vielen anderen. Ihre Territorien sind eng verbunden mit ihren Körpern, ihren Leben und der sozialen Reproduktion. Viel zu oft handelt es sich dabei um Kämpfe, um diese Territorien zu verteidigen – gegen Ausbeutung, Plünderung und Gewalt, gegen den repressiven Staat, das internationale Kapital, das Patriarchat. „No están solas“ – „Ihr seid nicht allein!“ skandieren die tausenden Anwesenden immer wieder und ein warmes, aufregendes, das Herz zum Zerspringen bringendes Gefühl, nicht mehr allein mit den Kämpfen und Sorgen und dem Ungehorsam zu sein, hat die ganze Plaza eingenommen.
Seit 34 Jahren findet das selbstorganisierte Treffen statt
An allen Ecken und Enden der Kleinstadt, die nur etwa 60 Kilometer vom Zentrum von Buenos Aires entfernt liegt, finden dieser Tage Asambleas, Workshops, Talkrunden, Märkte und Aktionen statt. Jeder Raum, der nicht von Diskussionsrunden besetzt ist, dient als Unterkunft für die zehntausenden Frauen und Queers, die aus dem ganzen Land angereist sind, um an dem Treffen teilzunehmen – dem Grundpfeiler der feministischen Bewegung Argentiniens. Schon seit 34 Jahren findet das selbstorganisierte Treffen der Frauenbewegung statt. Zum ersten Treffen 1986 kamen etwa 300, von da an wuchs es beständig, auf 15.000 im Jahr 2007, auf 70.000 im Jahr 2017 und auf über 200.000 in diesem Jahr. Das Wort massiv fällt oft, innerhalb dieser Massen bekommt es jedoch erst eine wirkliche Bedeutung. Es ist ein Treffen, bei dem die ganze Stadt von Feminist*innen übernommen wird. Überall laufen und diskutieren, versammeln und drängeln sie sich, singen und marschieren sie in Gruppen durch die Straßen und schmettern Melodien aus dem schier unerschöpflichen Repertoire an Parolen gegen das Patriarchat: „Achtung, Achtung! Passt auf euch auf, Machistas, ganz Lateinamerika wird feministisch!“, oder „Hey, hey, wir sind die Enkelinnen der Hexen, die ihr nicht verbrennen konntet!“. Hier eine Demo, da eine asamblea, an dieser Plaza ein pañuelazo (Protestveranstaltung mit grünen Tüchern), an jener eine Kundgebung, hier eine Küfa, dort eine peña (Tanzveranstaltung) und alles voller singender Feminist*innen. Jedes Jahr wechselt der Ort des Treffens, die nächste ausrichtende Stadt wird auf der Abschlusskundgebung bestimmt. Manchmal sind es kleine Provinzhauptstädte mit 3.000 Hotelbetten wie vor zwei Jahren in der Provinz Chaco im armen Nordosten Argentiniens. Dieses Jahr ist der Austragungsort La Plata durch die geografische Nähe zur Hauptstadt und die zeitliche zur Präsidentschaftswahl besonders gut besucht und die Stimmung ebenso angespannt. Der erste Tag des Treffens fällt jedoch zunächst ins Wasser – die Tränen des fallenden Patriarchats, wie man munkelt – die Auftaktveranstaltung muss wegen Gewitters abgesagt werden. Wie in jedem Jahr wird als Vorsichtsmaßnahme die Kathedrale weitläufig mit Hamburger Gittern abgesperrt und von großem Polizeiaufgebot bewacht, denn die alljährliche Demonstration, das Herzstück des Treffens, führt immer einen radikaleren Teil der Demonstrant*innen, gerne oben ohne, an der Kirche vorbei, wo nicht selten Graffitis gegen die katholische Doppelmoral gesprüht werden, Mülleimer brennen und Mollis fliegen. Auch in diesem Jahr werden sieben Aktivistinnen vor der Kathedrale festgenommen, bald jedoch wieder freigelassen. Und während die größte feministische Demonstration, die es je auf einem Encuentro gegeben hat, langsam zu Ende geht, läuft im Fernsehen wie in einer Parallelwelt die erste TV-Debatte der Präsidentschaftskandidaten: sechs Männer diskutieren ernst vor schwarzem Hintergrund. Unzählige weitere unterhalten sich öffentlich darüber, was die sechs im Fernsehen gesagt haben. Von der Revolution in der Nachbarstadt scheint dort niemand was mitbekommen zu wollen.
„Achtung, Achtung! Passt auf euch auf, Machistas, ganz Lateinamerika wird feministisch!“
Die übergreifende Debatte, die sich durch alle der über 100 verschiedenen thematischen Workshops und unzähligen Nebenveranstaltungen zieht, ist wie auch schon im letzten Jahr die des Namens: der Umbenennung des Treffens von Nationales Treffen der Frauen in Plurinationales Treffen von Frauen, Lesben, Travestis, Trans, intersexuellen, bisexuellen und nicht-binären Personen. Auch in diesem Jahr hat das offizielle Organisationskomitee, das sich immer in der ausrichtenden Stadt zusammenfindet, allerdings meist von den Strukturen der kommunistischen Partei dominiert wird, keinen Raum zur Abstimmung über die Namensänderung eröffnet. Im Kampf um die Umbenennung hat sich eine nicht ganz selbstverständliche Allianz aus indigenen, migrantischen und queeren Aktivist*innen gebildet, zunächst zögernd, doch immer plausibler finden die verschiedenen Kämpfe um längst überfällige Inklusion solidarisch zueinander und mit ihnen ihre Protagonist*innen. So erobern Lolita Chávez, Maya k’iche’, Umweltaktivistin aus Guatemala und Claudia Vasquez Haro, Dozentin an der Universität von La Plata und Präsidentin des Vereins OTRANS, der für Rechte von Trans und Travestis in Argentinien eintritt, trotz Redeverbot mit vollem Körpereinsatz gemeinsam die Bühne der Abschlusskundgebung und rufen von dort unter johlendem Applaus die Umbenennung des Treffens aus. Denn die Realität des Treffens ist längst plurinational und queer, indigene Frauen* sind seit langer Zeit genauso wichtiger Teil der Bewegung wie verschiedene queere Identitäten. „Wir erkennen uns in diesem breiten Feminismus von unten wieder und kämpfen gegen jede Form von Gewalt, gegen Gewalt gegen Queers, gegen Xenophobie, gegen Rassismus“, ruft Vazquez Haro von der Bühne. „Compañeras, wir müssen lernen, uns gegenseitig zuzuhören und uns in unserer Verschiedenheit zu respektieren. Der Feind ist nicht hier unter uns, der Feind ist das Patriarchat!“ appelliert sie, jedoch bleibt die offizielle Anerkennung der Umbenennung auch in diesem Jahr aus. Eine Enttäuschung für die Feminist*innen des Abya Yala und die disidencias sexuales, der sexuellen Dissident*innen gegen die erzwungene Heteronormativität. Es bleibt unklar, ob das offizielle Organisationskomitee aus San Luis, dem Ort des Treffens im nächsten Jahr, die Namensänderung anerkennen wird.
Dennoch ist es wieder einmal vollbracht: Zehntausende Frauen und Queers haben sich organisiert, um oft etliche hunderte Kilometer zu dem wichtigsten Treffen des Jahres zu reisen. Und wie in jedem Jahr wird immer wieder gesungen: „¡Qué momento! A pesar de todo, les hicimos el encuentro“, will sagen: „Was für ein Moment! Trotz allem haben wir das Treffen gemacht“ – gegen „sie“, gegen die da oben, die, die nie zuhören wollen, die, die uns nie gesehen haben. Und es ist dieses Durchhaltevermögen einer jahrzehntelangen Tradition, sich gegen alle Hindernisse zu organisieren, sich zusammenzutun, um wieder zum nächsten Treffen zu reisen. Diese Praxis von Autonomie und Organisation und vor allem die Erfahrung, das Zusammensein zu zelebrieren, was die Bewegung in Argentinien so stark und mächtig gemacht hat. „Heute, compañeras, heute sind wir widerständig aufgewacht…” schließt Sandra Morán ihr gesungenes Gedicht, „und das Herz, das beinahe zu explodieren schien, hat es soeben getan!”