SOG DER GEWALT

Antonia Olivares und Daniel García in Robe of Gems (Foto: © Visit Films)

Bewertung 4 / 5

„Zieh das Zeug aus! Auf der Stelle wirfst du das in den Müll!“ Roberta, der örtlichen Polizeichefin in Robe of Gems, dem mexikanischen Wettbewerbsfilm der Berlinale 2022, passt es gar nicht, wie ihr Sohn Adán so herumläuft. Teure T-Shirts und Marken-Turnschuhe, weite Hosen, glitzernde Ohrringe, Halskettchen aus Gold und Silber – das ist der Look, mit dem sich normalerweise der Nachwuchs der Narcos, also der Drogenmafia, zu erkennen gibt. Deshalb herrscht Roberta Adán an, bis er nur noch in Unterhosen auf dem Vorplatz ihres Hauses herumsteht. Aber der Drogenhandel und die Gewalt, die er mit sich bringt, lassen sich nicht einfach abstreifen wie ein paar Kleidungsstücke. Das wird auch Roberta im Laufe des Filmes noch mehrfach zu spüren bekommen.

Natalia López Gallardo, die Regisseurin von Robe of Gems, ist Bolivianerin, lebt aber seit 15 Jahren selbst im ländlichen Mexiko und musste dort aus nächster Nähe den „fortschreitenden Kollaps der sozialen Struktur“, wie sie es selbst beschreibt, beobachten. Mit ihrem Debütfilm als Regisseurin hat sie nun eine beeindruckende, manchmal rätselhafte, aber ungeheuer wirkmächtige Collage über die alles dominierenden Strukturen der brutalen Gewalt in ihrem Umfeld vorgelegt. Der Film folgt dabei dem Schicksal dreier Frauen: Isabel, selbstbestimmt und undurchschaubar, zieht nach ihrer Scheidung in ein von ihrer Mutter verlassenes und halb verfallenes Anwesen auf dem Land. Maria, ihre Hausangestellte, sucht ihre verschwundene Schwester und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Und Roberta kämpft in der Polizei und in ihrer eigenen Familie gegen die Windmühlen des Drogenhandels, die vor allem Frauen wenig Möglichkeiten lassen, ihr Leben unabhängig und ohne Furcht zu gestalten. Denn was Mercé, Marias Mutter, zu Beginn des Filmes der Outsiderin Isabel sagt, die bei der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter helfen will, bewahrheitet sich im Laufe der Geschichte immer deutlicher: „Bei allem Respekt, aber Sie wissen nicht, dass die Dinge hier bei uns anders laufen.“

Robe of Gems macht es seinen Zuschauer*innen nicht leicht, die Zusammenhänge zu verstehen, die den zähen Sog der Gewalt aufrechterhalten, der die Gemeinschaft der Bewohner*innen in den kleinen Dörfern und Anwesen wie ein unsichtbares Netz verbindet und langsam von innen zerfrisst. Nach außen bewahrt alles den Anschein des Normalen, doch ein Schritt in die falsche Richtung, ein unbedachtes Wort kann fatale Konsequenzen haben. López Gallardo folgt dabei einer ungewöhnlichen Methode: Sie macht das Sichtbare unsichtbar. Was zunächst paradox klingt und beim Betrachten des Films oft anstrengend wirkt, ergibt in der Gesamtschau Sinn. In Dialogen wird das Offensichtliche meist nicht gesagt („Alles in Ordnung, es ist nichts passiert“, wiederholt Maria im Gespräch mit einer Bekannten beispielsweise immer wieder, während ihr Tränen über die Wangen laufen). Die Erzählung folgt Personen, verliert sie, findet sie später in neuen Situationen wieder, ohne zu erklären, wie sie hineingeraten sind. Gesichter sind oft nur schemenhaft oder gar nicht zu erkennen, die Kamera filmt von hinten oder fokussiert auf Gegenstände und Körperteile, die außerhalb des Zentrums der Aktion liegen. Und versetzt das Publikum damit in die ausweglose Situation der Bewohner*innen der von Gewalt beherrschten Umgebung, die ihre verschwundenen Angehörigen suchen und mit bruchstückhaften Informationen und ihrer Verzweiflung oft alleingelassen sind.

Töne und Bilder sind in Robe of Gems häufig wichtiger und aussagekräftiger als das Gesagte. Geräusche wie das Zirpen der Insekten sind laut, manchmal überlaut zu hören und die karge Landschaft, gezeigt in matten Farben, bildet den Hintergrund für eine von Zwängen und unausgesprochenen Regeln beherrschte Lebensrealität, die sich eindeutigen Deutungen entzieht. Das macht den Film streckenweise zu einem harten Brocken, der vermutlich nicht alle Zuschauer*innen befriedigt zurücklassen wird. Sich auf Robe of Gems einzulassen, lohnt sich aber nicht nur aufgrund der beeindruckenden Bilder, die für die große Leinwand wie gemacht sind. Was Kino leisten kann, ist nicht nur, Geschichten zu erzählen, sondern auch Gefühle zu vermitteln. Dieses Potenzial hat Natalia López Gallardo mit ihrem Debüt auf beeindruckende, in ihrem Fall fast beängstigende Weise ausgeschöpft.

IM PATRIARCHALEN HINTERLAND

Bárbara Colen in Fogaréu, Berlinale 2022 (Foto: © Bananeira Filmes)

Bewertung 5 / 5

Es fällt schwer, diesen Film nicht in Superlativen zu loben: Fantastische Hauptdarstellerin, exzellente Besetzung bis in die Nebenrollen, außergewöhnlich gelungenes Drehbuch, immer neue, ungewöhnlichen Wendungen und eindrucksvolle Landschaftsbilder aus dem Agrarstaat Goiás mit seinen gigantischen Feldern und Weiden. Nicht zu vergessen die gelungene Einbeziehung des politischen Grauens Brasiliens in eine Familiengeschichte, die Regisseurin Flávia Neves in großen Teilen selbst erlebt hat.

Fernanda (gespielt von der überragenden Bárbara Colen) kehrt nach vielen Jahren zum ersten Mal in das koloniale Städtchen Goiás Velho zurück, das sie als Kind mit ihrer Mutter verlassen hat. Bei ihrer Ankunft platzt sie unangekündigt in einen kleinen Empfang im Haus ihres Onkels Antônio (Eucir de Souza), dessen erneute Kandidatur zum Bürgermeister gefeiert wird. Und obwohl Fernanda von ihrer Tante Arlette (Fernanda Vianna) bemüht freundlich empfangen wird, ist die Atmosphäre sofort geprägt von unterschwelligen Aggressionen, die sich im Laufe des Films langsam entfalten und verdichten, um dann zu eskalieren.

Bereits die Dialoge der ersten Filmszenen sind brillant geschrieben und inszeniert – deutlich ist zu spüren, dass hier Welten aufeinandertreffen: das moderne, aufgeklärte Brasilien, verkörpert durch Fernanda, und das konservative, rückwärtsgewandte, unterschwellig bis offen brutale Brasilien des weiten Hinterlandes. Immer wieder stößt sich Fernanda an der Sprache ihrer Familie. Mittels dieser werden tiefgreifende Unterschiede zwischen ihren Werten und Sichtweisen auf die Welt markiert und die zahlreichen Lügen maskiert, die sich ebenso auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart beziehen.

Doch Fernanda ist nicht zurückgekommen, um sich mit der offiziellen Geschichte abspeisen zu lassen. Sie will die Wahrheit hinter den zahlreichen Familiengeheimnissen entdecken und ist dabei unerschrocken und rücksichtslos, auch sich selbst gegenüber – bis hin zur Gefahr für Leib und Leben. Eine so mutige, offensive Frau kann im patriarchalen Raum des Hinterlandes nicht geduldet werden. Dabei verschränkt sich die persönliche Geschichte mit der politischen Dimension der Handlung. „Für mein Vaterland! Für meine Familie!“, grölten die Hinterbänkler, die im April 2016 die brasilianische Präsidentin Dima Rousseff absetzten, bei der Stimmabgabe in die Mikrophone. FOGARÉU entlarvt diesen Konservatismus: Die vorgeblichen Ideale des Patriotismus und der Familie schützen nur den rücksichtslosen Machterhalt einer weißen Elite von Landbesitzern, denen die Rechte von Frauen, Hausangestellten und Indigenen herzlich egal sind.

Regisseurin Flávia Neves, die auch gemeinsam mit Melanie Dimantas das Drehbuch geschrieben hat, inszeniert die Erschütterung der lokalen Macht durch eine Gruppe sehr unterschiedlicher Frauen, die sich gegenseitig unterstützen. Dabei kommt keine ohne Schmerzen und Verluste davon. Dass es am Ende ein bisschen Magie braucht, um das Böse zu zerstören, ist angesichts der Situation im brasilianischen Hinterland vielleicht die realistischste Option.

FOGARÉU ist der erste abendfüllende Spielfilm der Brasilianerin Flávia Neves, die mit 16 Jahren ihren ersten Kurzfilm drehte und seither im Bereich Film arbeitet. An der Produktion von FOGARÉU waren vor allem Frauen beteiligt, einschließlich der beiden Produzentinnen Vania Catani (Bananeira Filmes) und Mayra Faour Auad (Mymama Entertainment). Im Interview mit der Berlinale sagte Neves dazu: „Filme von Frauen sind vielleicht die besten, die unser Land heute zu bieten hat. Als Frauen müssen wir uns viel besser vorbereiten, um einen Platz in einem feindlichen, sehr komplexen Markt zu erkämpfen, der nicht für uns geschaffen wurde. Aber wenn wir die Bedingungen selbst bestimmen können, werden wir ebenfalls brillieren.“ Das ist Neves mit FOGARÉU definitiv gelungen.

KOLLEKTIVES EMPOWERMENT

Alis, Berlinale 2022 (Foto: © Casatarantula, deFilm, Pantalla Cines)

Bewertung: 5 / 5

Alis, das ist eine imaginäre Freundin, die sich zehn Jugendliche aus einem Internat für ehemalige Straßenkinder in Bogotá vorstellen sollen. Der Trick, den sich die kolumbianischen Filmemacher*innen Clare Weiskopf und Nicolás van Hemelryck ausgedacht haben, ist so einfach wie wirkungsvoll: Statt über sich selbst sprechen Luisa und Magaly, Shesley und Obando in ihren gefilmten Interviews über die Erfahrungen eines 15-jährigen fiktiven Mädchens, das neu zu ihnen in die Schule kommt. Was spielerisch mit der Beschreibung von Alis‘ Person beginnt – mal ist sie blond und groß, mal klein und gepierct, mal trägt sie schicke Kleidung und mal Baggy Pants – entwickelt sich schnell zu einer schonungslosen und brutal offenen Schilderung ihrer Erfahrungen auf der Straße. Spätestens nach den hochemotionalen Erzählungen von Schlägen und Verstoßung, von sexueller Gewalt, Drogenkonsum und Mord wird klar: Das hier kann sich niemand ausdenken, der es nicht selbst gesehen hat oder gar am eigenen Leib durchmachen musste. Alis funktioniert wie eine Projektionsfläche für alles, was die zehn Teenager*innen selbst erlebt haben. Ihre Erfahrungen werden durch das gemeinsame Erzählen zu einem kollektiven Narrativ, zur Anklage einer brutalen Gesellschaft, die sie ohne eigenes Verschulden misshandelt und ausgestoßen hat.

Aber Alis ist kein reiner Horrorfilm geworden und das ist das Wunderbare an der Dokumentation. Denn die Protagonist*innen behalten durch den Filter Alis immer die Kontrolle über das, was sie sagen und wie sie es sagen. Alis schützt sie davor, in eine reine Opferrolle zu rutschen und ermutigt sie, über ihre Hoffnungen und Träume zu sprechen. Tierärztin und Lehrerin wollen sie werden, Pilotin oder – warum klein denken? – Präsidentin von Kolumbien. Ob Alis Mutter werden will, wird David, der früher Xiomara hieß, gefragt. „Nein, Vater!“ kommt wie selbstverständlich die Antwort. An Nicol stellt die Interviewerin die etwas verdruckste Frage, wie die erste „intime Beziehung“ von Alis war, und bekommt prompt von ihr eine Lektion verpasst: „Intime Beziehung? Meinst du Sex? Sag‘s doch gleich so, damit ich dich auch verstehe!“ Später gibt es noch Tanz-Performances und Flirttipps, selbstgeschriebene Raps und Songs, die zwar melodisch komplett schräg, aber dafür mit umso beeindruckender Selbstsicherheit vorgetragen werden. Ein besseres Empowerment ist schwer vorstellbar.

Dass der Film trotz seines einfachen Aufbaus wie magnetisch in seinen Bann zieht, liegt natürlich vor allem an seinen Hauptdarsteller*innen, die mit entwaffnender Offenheit und Klarheit über ihre Erfahrungen sprechen, wobei sie fast nie den Blick von der Kamera wenden – Blicke, die niemanden kalt lassen. Es liegt aber auch an der großartigen Regiearbeit von Weiskopf und van Hemelryck, die das statische Setting der Einzelinterviews in der Umkleide der Schule mit Aufnahmen der Institution konterkarieren. Diese wirken zu Beginn des Films ebenso unbewegt, da sie menschenleere Räume zeigen. Während die Interviewten aber immer mehr auftauen, werden auch die anderen Filmszenen immer belebter. Am Schluss tanzen alle zusammen auf dem Schulhof Reggaeton.

Alis ist ein Film, der seine Zuseher*innen so schnell nicht loslässt und seine Preise auf der Berlinale 2022 (bester Jugendfilm, beste queere Dokumentation) völlig zu Recht gewonnen hat. Und offensichtlich auch das Leben der Teenager*innen im Film verändert hat. Denn auf die Frage, ob Alis denn nur eine Vorstellung war oder ob es sie wirklich gibt, ist die Antwort am Ende so eindeutig wie einstimmig: „Ja, Alis existiert!“

Alis, Berlinale 2022 (Foto: © Casatarantula, deFilm, Pantalla Cines)

Alis, Berlinale 2022 (Foto: © Casatarantula, deFilm, Pantalla Cines)

Vom Glauben abgefallen

Diego Armando Lara Lagunes in El reino de Diós, Berlinale 2022 (Foto: © Jaqueca Films)

Bewertung 2 / 5

„Und hier kommt Kardashian… Niemand kann sie schlagen, sie gewinnt immer!“ Neimars Stimme überschlägt sich fast. Doch so wenig der achtjährige Junge aus einem Dorf in Veracruz in Südmexiko im Film El reino de Diós (Das Reich Gottes) selbst mit dem brasilianischen Fußballstar gemeinsam hat, so wenig denkt er beim Namen Kardashian an Reality-TV. In seiner Fantasie ist Kardashian ein Pferd und Neimar spielt ein Rennen von ihr nach, denn das ist es, was er über alles in der Welt liebt: Pferde. Bei seiner Lieblingsstute darf er sogar schon ab und zu die Pflege übernehmen und als Dank dafür bekommt er seinen Anteil am Preisgeld, wenn sie Rennen gewinnt. Zeit dafür hat er genug, denn zu Hause kümmert sich kaum jemand um ihn. Der Vater hat schon lange das Weite gesucht, die Mutter ist meistens arbeiten oder bei ihrem Freund, nur die Großmutter ist manchmal da und spielt mit ihm. Ansonsten verbringt Neimar seine Freizeit mit Schweinen, Hühnern oder eben Pferden. Da seine Erstkommunion bald ansteht, besucht er aber auch regelmäßig den Unterricht, der die Kinder darauf vorbereiten soll. Dort lernen sie unter anderem die Zehn Gebote auswendig, um Gott nach der Kommunion näher sein zu können, wie Neimars Großmutter ihm erklärt. Doch in seinem Leben ereignen sich bald Dinge, die ihn weit mehr beeinflussen werden als die bevorstehende Feier.

Regisseurin Claudia Sainte-Luce stammt selbst aus einem Dorf in Veracruz und hat den Film mit Laiendarsteller*innen von dort besetzt. Die Hauptrolle spielt ihr Neffe Diego. El reino de Diós zeigt eine Welt, in der es Jungen schwer haben, verlässliche männliche Vorbilder zu finden. Am meisten Kontakt hat er mit den Pferdepflegern, die ihn aber meistens auslachen und sexistische Bemerkungen über Frauen machen, die er nicht versteht. Ebenso wenig kindgerecht ist der Religionsunterricht, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen: Mit hochgestochenen Bibelzitaten versucht der Lehrer die Kinder von Gottes Liebe zu überzeugen. Die Botschaft dahinter – die Kirche versagt bei ihrer Aufgabe, sich um die Alleingelassenen zu kümmern – wird allerdings etwas zu sehr mit dem Holzhammer vermittelt. Neimar hat angesichts der völlig abgehobenen Kirchenzeremonien fast keine andere Chance, als vom Glauben abzufallen. Dass dieser nicht unbedingt mit Kirche gleichzusetzen ist, arbeitet der Film leider nicht ausreichend heraus. Durch das Fehlen positiver Beispiele verpasst er das Ziel, eine Diskussion über Glauben und Gott zu eröffnen, die auch Kinder interessieren könnte. Gegen Ende geschehen zudem einige ziemlich schockierende Ereignisse. In Verbindung mit der stark sexualisierten und sexistischen Ausdrucksweise der Pferdepfleger ist El reino de Diós deshalb für jüngere Kinder nur eingeschränkt empfehlenswert.

Diego Armando Lara Lagunes in El reino de Diós, Berlinale 2022 (Foto: © Jaqueca Films)

Lizbeth Gabriela Nolasco Hernández, Margarita Guevara Gonzales und Diego Armando Lara Lagunes in El reino de Diós, Berlinale 2022 (Foto: © Jaqueca Films)

Feuer, Rohöl und rote Erde

Andreia Vieira in Mato seco em chamas, Berlinale 2022 (Foto: © Cinco da Norte, Terratreme Filmes)

Bewertung 4 / 5

Die Flammen lodern und züngeln, entzünden Benzinpfützen und Signalkörper, sie werfen bewegte Schatten, spiegeln sich auf Schwarzer Haut und verbrennen am Ende sogar ein gepanzertes Fahrzeug der Militärpolizei. Nicht zu vergessen das Entzünden der unzähligen Zigaretten, die von den Protagonistinnen in diesem Film geraucht werden, tief inhalierend und langsam den Rauch entweichen lassend. Es ist eine wuchtige Bildsprache, die der Regisseur Adirley Queirós und die Co-Regisseurin und Kamerafrau Joana Pimenta in Mato seco em chamas („Trockene Wildnis in Flammen“) geschaffen haben. Bildgewaltig und ungewöhnlich zieht sich die Kombination von Feuer, Rohöl und roter Erde in langen Einstellungen durch den gesamten Film.

Nicht weniger ungewöhnlich ist seine Entstehungsgeschichte: Über einen Zeitraum von drei Jahren drehten Queirós und Pimenta in der Satellitenstadt Ceilândia und in Sol Nascente, der zweitgrößten Favela Brasiliens, beide am Rande der Hauptstadt Brasília. Dort lebt Regisseur Queirós, der eine erstaunliche Karriere vom professionellen Fußballspieler zum professionellen Filmemacher hinter sich hat, bereits seit 50 Jahren. Mit Mato seco em chamas hat er seit 2005 seinen dritten Film in der Region gedreht. Auch Pimenta stand bereits 2017 für Queirós’ Film Era uma Vez Brasília hinter der Kamera und hat für die Dreharbeiten zwei Jahre dort verbracht.

Sechs Frauen aus beiden Städten schlugen Queirós und Pimenta vor, bei der Produktion von Mato seco em chamas zusammenzuarbeiten. Gemeinsam entwickelten sie die Figuren und das Drehbuch: „Mit diesen Frauen – Léa Alves, Joana Darc Furtado, Andreia Vieira, Débora Alencar, Mara Alves und Gleide Firmino – haben wir eine Fiktion geschaffen, die für uns zum Aktionsraum werden konnte. Eine Fiktion, in der die Peripherie zum Zentrum wird. Eine Fiktion, die auch dokumentarisch verstanden werden kann. Zusammen mit den Frauen haben wir Figuren entwickelt, geformt aus gemeinsamen politischen Erinnerungen und einer kollektiven Idee für diese umkämpften Gebiete”, sagten die Regisseur*innen im Interview mit der Berlinale.

Entstanden ist so eine Geschichte mit fantastischen Elementen, die immer ganz hart an der Realität ist. Queirós und Pimenta haben den Schauspielerinnen – der Begriff Laiendarstellerinnen wird ihrem Können nicht gerecht – viel Freiheit gelassen: Es sind ihre Orte, ihre Geschichten und ihre Sprache, das ist deutlich zu spüren. Im Kern geht es um die Bandenchefin Chitara, die auf die gewinnbringende Idee kam, die Erdöl-Pipeline anzuzapfen, die unter ihrem Grundstück verläuft. Sie ist ebenso furchtlos wie ihre Schwester Léa. Gemeinsam mit den anderen Frauen schaffen es die Schwestern problemlos, eine Gang von Motorradkurieren zu dominieren, die ihnen für billiges, selbst raffiniertes Benzin Prozente der Lieferungen zahlen.

Doch gleichzeitig ist es ein hartes Leben: Die Bedrohung durch die Militärpolizei und ihre Überwachungsdrohnen ist ebenso präsent wie die durch andere Gangs und die Politik – das macht eine lange, dokumentarische Szene einer Wahlkampfveranstaltung der Anhänger*innen von Präsident Bolsonaro deutlich. Aber vor allem gibt es die bedrohliche Möglichkeit, jederzeit wieder im Gefängnis zu landen. „Das Verbrechen zieht dich irgendwie rein, dein ganzes Leben”, sagt Chitara in einem nachdenklichen Moment.

Doch die Frauen haben auch eine Menge Spaß, vor allem miteinander. Léa mietet einen Bus mit DJ für eine Party, die Forró-Brega-Band Muleka 100 Calcinha spielt zum Tanz auf und der Wahlkampfwagen der von Andreia Vieira gegründeten Partei PPP (für die Verbesserung der Situation der Gefängnisinsassen und ihrer Familien) verwandelt sich in eine wogende Tanzfläche. Queerness wird in diesen Situationen so selbstverständlich gelebt, als gäbe weder den Konservatismus evangelikaler Kirchen noch Gangster-Machos.

Das alles wirkt authentisch und realistisch, so dass der Anspruch der Regisseur*innen, „eine Form der Ethnografie zu schaffen, die sich aus einer Fiktion heraus entwickelt”, durchaus eingelöst wird. Schwierig ist dabei nur die mehrfach gebrochene, verschlungene Erzählstruktur mit verschiedenen Zeitebenen – selbst wenn diese durchaus den lokalen Erzählmustern entspricht. Da folgt Rückblende auf Rückblende auf Gegenwart und zurück, immer wieder unterbrochen von Erinnerungen an das Gefängnis. Erst ganz zum Schluss erschließt sich, wie alles zusammenhängt. Und das dauert bei einer Filmlänge von 153 Minuten eine ganze Weile.

Zwei Stimmen, viele Ebenen

Mis dos voces, Berlinale 2022 (Foto: Courtesy of Rayon Verde)

Auf den allerersten Blick könnte der Dokumentarfilm Mis dos voces von Lina Rodriguez ein Architekturfilm sein, wenn die Kamera langsam die Fassaden von Hochhäusern in Toronto erklimmt. Vieles eröffnet sich bei diesem Film erst auf den zweiten Blick, denn Rodriguez setzt die filmischen Mittel Ton und Bild nicht direkt zueinander ins Verhältnis, sondern lässt sie umeinander kreisen.

Die Protagonistinnen Ana (Garay) Kostic, Marinela Piedrahita und Claudia Montoya hat es zu verschiedenen Zeiten und auf unterschiedlichen Wegen nach Kanada verschlagen. Ihre Herkunftsländer Kolumbien und Mexiko spielen mal mehr, mal weniger eine Rolle in den abwechselnden Erzählungen der drei Frauen, die stets als Stimmen aus dem Off die grobkörnigen Bilder des 16-mm-Films überlagern. Währenddessen gleitet die Kamera über Alltagsgegenstände, Dekoartikel und Einrichtungselemente. Die Bildsprache verliert sich im Detail, zwei Hände, die abwaschen, Close-Up-Aufnahmen von Füßen, die bei einer Parade tanzen. Erst ganz am Ende erreichen die Kamerabilder die Totale, so dass die Protagonistinnen mit ihren Familien zu sehen sind.

Die Erfahrungen der drei Frauen kreisen um Erinnerungen, um teilweise gewaltvolle Erlebnisse aus der Vergangenheit und deren Folgen für die Gegenwart. Durch die indirekte Form bleiben die Erzählungen vage. Die Stimme im Hintergrund berichtet von traumatischen Erfahrungen wie einem Bombenalarm in Medellín mitten in der Nacht, bei dem Pablo Escobar mit Megafon Menschen anweist und damit unbewusst die Protagonistin vor der kurz danach eintretenden Explosion warnt. Sie erzählt aber auch von schwierigen Momenten des Ankommens in der neuen Heimat, die scheinbar diametral zu den farbenfrohen Detailaufnahmen stehen: Türkisfarbener Nagellack wird sichtbar, eine Hand, die ein Holzstück abschleift, während das Voiceover demütigende Arbeitserfahrungen als Putzhilfe schildert.

Text und Subtext wechseln sich ab und bilden damit gewissermaßen die zwei Stimmen, mit denen die Frauen ihren Alltag bewältigen. Sprachlich nähern sich die drei aufgrund ihrer Migrationserfahrung an: Spanisch dominiert als emotionales Ausdrucksmittel, während die englische Fremdsprache nur indirekt thematisiert wird. Meistens ist unklar, wer gerade spricht und da die Gesichter zu den drei Stimmen bis ans Ende nicht gezeigt werden, entsteht ein Erzählfluss, der sinnbildlich für die fließenden Identitäten der drei Frauen steht. Lina Rodriguez ist damit ein mehrstimmiger Blick auf die Lebensrealitäten der drei Migrantinnen gelungen, der in seiner Uneindeutigkeit mitunter anstrengend ist, aber dessen experimenteller Charakter bestens in die Berlinale Sektion Forum passt.

Mis dos voces, Berlinale 2022 (Foto: Courtesy of Rayon Verde)

Mis dos voces, Berlinale 2022 (Foto: Courtesy of Rayon Verde)

Von Trap bis Tango

Julieta Laso in Terminal Norte, Berlinale 2022 (Foto: © Rei Cine SRL)

Bewertung: 4 / 5

Musik aus Argentinien – das ist Tango, das ist Buenos Aires. Diese unumstößliche Wahrheit muss spätestens nach der Kurzdoku Terminal Norte der argentinischen Regisseurin Lucrécia Martel (La ciénaga) durch das Wörtchen „auch“ ergänzt werden. Denn die Vielfalt des Landes bringt ebenso diverse wie faszinierende Musikstile hervor, wie in diesem Film zu sehen und vor allem zu hören ist.

Terminal Norte entstand als spontanes Projekt von Lucrécia Martel und der Tangosängerin Julieta Laso. Letztere kaufte während der Pandemie ein malerisches, wenn auch renovierungsbedürftiges Landhaus bei Salta im Norden Argentiniens und lud einige bekannte Künstler*innen ein, dort mit ihr zu feiern und Musik zu machen. Die Region ist bekannt für die Copla, einen traditionellen Musikstil, bei dem die Sänger*innen Verse vorsingen und das Publikum einladen, sie zu wiederholen. Einige der bekanntesten Copleras treten auch im Film auf, so zum Beispiel Mariana Carrizo oder die trans* Künstlerin Lorena Carpanchay. Aber auch die Trap-Sängerin B Yami, die Pianistin Noelia Sinkunas oder das Elektronik-Projekt Whisky sind mit dabei.

Der Film entstand so spontan wie die Musikdarbietungen auf dem Treffen. Es gibt deshalb keine ausführliche Vorstellung der Künstler*innen, auch die technische Ausstattung (nur zwei Scheinwerfer standen zur Verfügung) und die Drehzeit (4 Tage, von denen einer wegen Regens nicht genutzt werden konnte) waren limitiert. Angesichts dessen ist wirklich bemerkenswert, was am Ende herausgekommen ist. Die Musikperformances, man muss sie Auftritte nennen, sind ohne Ausnahme großartig – ganz gleich, ob B Yami am Lagerfeuer mit Trap loslegt oder beim Spaziergang durch den Wald coplas zelebriert werden. Das Highlight sind aber die vom Piano begleiteten Tangostücke von Julieta Laso, deren fantastische Stimme außerhalb Argentiniens noch weitgehend unbekannt ist. Das könnte sich nach diesem Film ändern. Auch die Kameraarbeit von Mauricio Asial, die den Rhythmus der Performances gekonnt untermalt, trägt ihren Teil zum Gelingen des Films bei. So bleibt nach viel zu kurzen 37 Minuten nur ein – allerdings schwerwiegender – Kritikpunkt: Dieser Jam-Session fehlt die Zugabe! Gerne hätte man noch viel mehr über die Künstler*innen erfahren und ihnen mit Vergnügen noch mindestens eine Stunde beim Musikmachen, Feiern und Philosophieren zugesehen. Director‘s Cut nachlegen, bitte!

Lorena Carpanchay in Terminal Norte, Berlinale 2022 (Foto: © Rei Cine SRL)

Trap-Sängerin B Yami in Terminal Norte, Berlinale 2022 (Foto: © Rei Cine SRL)

Jagen in der Leere

Gerardo Trejoluna und Paloma Petra in El norte sobre el vacío, Berlinale 2022 (Foto: © Claudia Becerril/Agencia Bengala)

Bewertung: 4 / 5

Den Hof hat Don Reys Vater an der Stelle errichtet, an der er vor langer Zeit einen Puma erschossen hat. Eigentlich der einzige Grund, hierzubleiben. Denn ansonsten ist der ländliche Norden Mexikos vor allem eins: leer. Reynaldo, den all nur Don Rey nennen, bewohnt mit seiner Frau Sofía und den zwei indigenen Angestellten Rosa und Tello das karge, staubige Anwesen und vertreibt sich seine Zeit mit der Jagd. Dabei ist er nicht einmal ein guter Schütze.

In die Trostlosigkeit der Jagdgesellschaften kommt die Osterwoche und damit die Kinder und Enkel aus der Stadt. Während sie verbissen fröhlich auf das Farmjubiläum anstoßen, wird deutlich, mit welcher Wucht sich hier verschiedene Lebensrealitäten begegnen. Das moderne, städtische Mexiko trifft auf ein armes, ländliches Mexiko, welches völlig auf sich bezogen in der Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Keines von Reynaldos Kindern kann sich vorstellen, den Hof eines Tages zu übernehmen und auch seine Enkel wollen lieber schnell wieder weg. So scheitern die Versuche, die Ausgelassenheit einer Familienfeier zu inszenieren. Sie fallen in sich zusammen wie das Luftschloss, welches ein zur Feier bestellter Clown vor dem Hof aufgebaut hat.

Denn was hat Don Rey hier schon? Die Landbesitzer sind arm, die Ausbeute der Jagd und der Ertrag dessen, was der karge Boden abwirft kaum erwähnenswert und dann verschwinden auch noch Menschen von den benachbarten Höfen. Einzig die Bediensteten können noch herumkommandiert werden. Und so nimmt Rosa, wie sie zu Beginn des Films Don Reys Waffe nimmt, um einen Hirsch zu erlegen, irgendwann die Fäden der Geschichte in die Hand und wird zur eigentlichen Protagonistin des Niedergangs einer anachronistischen Ordnung.

Dabei wird El Norte sobre el Vacío von Anfang an von einem gewissen Unbehagen gezeichnet. Die schwer fassbare Bedrohung konkretisiert sich schließlich, als bewaffnete Unbekannte auftauchen. Diese versprechen Don Rey Sicherheit in diesen ungewissen Zeiten – wenn er denn bereit ist, dafür zu zahlen. Das kommt für Reynaldo nicht in Frage, und auch wenn seine Familie und Angestellten ihn dringend warnen, der Patriarch bleibt resigniert widerständig und steuert so auf die unvermeidliche Eskalation zu.

Die schleppende Entwicklung der Handlung macht erst das Ausmaß der Hoffnungslosigkeit und Gewalt in dieser verblassenden Welt deutlich. Dabei klammert sich die Kamera manchmal beinahe aufdringlich an einer Person fest und rückt so immer wieder neue Facetten der Beziehungen zwischen den Protagonist*innen ins Licht. Dann wieder schweift sie ziellos umher und bietet dabei ein karges und doch lebendiges Panorama des ländlichen Mexiko. Denn bei genauem Hinsehen ist die Leere voller Leben. Den Tieren wird abseits ihrer Rolle als Jagdtrophäen und Nahrung ihre eigene Rolle eingeräumt, sogar ihre Perspektive eingenommen. Sie waren schon vor den Menschen da und sie werden auch bleiben, wenn die Menschen von diesem kargen Fleck Erde verschwunden sind. Und so wundert es auch nicht, wenn am Ende dann Menschen statt Tiere gejagt werden.

Alejandra Márquez Abellas dritter Langspielfilm schafft ein beeindruckendes und vor allem bedrückendes Panorama von ländlicher Hoffnungslosigkeit und dem Aufeinandertreffen verschiedener Klassen und Generationen, in dem jede*r wieder für sich allein steht. Die langsame Entfaltung des Films macht ihn zu einem eindringlichen, aber auch herausfordernden Kinoerlebnis, wofür die großartigen Bilder aber voll und ganz entschädigen.

Paloma Petra in El norte sobre el vacío, Berlinale 2022 (Foto: © Claudia Becerril/Agencia Bengala)

Paloma Petra, Mariana Villegas, Dolores Heredia, Gerardo Trejoluna, Camile Mina, Diego Garcia, Mayra Hermosillo, Fernando Bonilla, Francisco Barreiro in El norte sobre el vacío, Berlinale 2022 (Foto: © Claudia Becerril/Agencia Bengala)

Erzählte Topographie

Camuflaje, Berlinale 2022 (Foto: © Alina Films and Off The Grid)

Bewertung: 3 / 5

Félix Bruzzone läuft. Er läuft und läuft. Kein Jogger, sondern ein Langstreckenläufer. Sein tägliches Training führt ihn immer entlang des Zauns, der den Campo de Mayo – Argentiniens größte Militärbasis – umgibt. Ein tragischer Ort, in dem sich während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 vier geheime Folterzentren befanden. In einem davon, El Campito, starb Bruzzones Mutter, als er erst drei Monate alt war.

Bruzzone ist die Hauptfigur und Co-Autor des Dokumentarfilms Camuflaje von Jonathan Perel. Im wirklichen Leben ist er nicht nur Langstreckenläufer, sondern auch argentinischer Schriftsteller, der bereits mehrere Romane, Kurzgeschichten und auch ein Kinderbuch veröffentlicht hat. Seine Bücher wurden ins Französische, Schwedische und Deutsche übersetzt; 2010 erhielt er den internationalen Anna Seghers-Preis. Über den Campo de Mayo hat er 2019 ein Buch geschrieben, das er in den folgenden Jahren auch als Performance-Lesung im Theater inszenierte. Und nun der Film Camuflaje, in dem er sich ein weiteres Mal mit dem Militärgelände auseinandersetzt.

In einer Art erzählter Topographie lässt sich Bruzzone (und das Filmteam) von ganz unterschiedlichen Menschen in den Campo de Mayo mitnehmen, während sie von ihrer Geschichte mit und auf dem Gelände erzählen. Obwohl der Zutritt der noch aktiven Militärbasis eigentlich verboten ist (und Autos die beiden großen Verbindungsstraßen durch das Gelände zwar befahren, dort aber nicht anhalten dürfen), sind überall im Zaun große und kleine Löcher, die von Besucher*innen genutzt werden.

1901 gegründet, ist der Campo de Mayo heute in weiten Teilen eine Wildnis am Rande der Stadt. Dort finden sich viele alte Gebäude, die nur noch teilweise für militärische Übungen genutzt werden, wie vergessene Relikte einer vergangenen Zeit. Bruzzone trifft hier einen Naturschützer, der das Gelände am liebsten in ein offizielles Naturreservat umwandeln würde. Oder eine Gruppe von drei Künstlerinnen, die in klandestinen „Begehungen“ Material für ihre künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Gelände sammeln. Ein Extremsportler schätzt die verschiedenen Geländeformationen, wenn er dort mit dem Mountainbike unterwegs ist. Nur ein kleiner Teil des Geländes ist als 3-D-Ausstellung erschlossen und dokumentiert die grausamen Geschehnisse während der Diktatur. Absurder Höhepunkt der Begegnung von Freizeitkultur und militärischer Geschichte ist Bruzzones Teilnahme am „Killer Race“, eine Art Hindernislauf durch das Gelände, dessen beängstigende Momente den Autor immer langsamer und nachdenklicher werden lassen.

Unbearbeitet, ungeordnet und nahezu unsichtbar erscheinen das Gelände des Campo de Mayo und seine Geschichte. So wie auch das Militär als sein eigentlicher Nutznießer fast unbeobachtet ist – nur ein einziges Mal begegnet das Filmteam beim Dreh einer Gruppe Soldaten. Regisseur Jonathan Perel hat sich seit seinem Dokumentarfilm über das Folterzentrum der ESMA 2008 auf „verschiedene Orte der Erinnerung, besonders solche, die als geheime Haftzentren funktionierten“ spezialisiert. „Orte, die schwierig zu filmen sind – entweder wegen der Schwierigkeit, zu ihnen Zugang zu erhalten, oder die schwierig zu durchqueren sind, weil sie von Geistern bewohnt werden“, erklärt er zum Film. Obwohl sich Argentinien stärker als andere Länder auch offiziell mit den Verbrechen der Militärdiktatur auseinandergesetzt hat, offenbart sich in Camuflaje im Zustand des Campo de Mayo ein noch immer ungeklärtes Verhältnis zum Militär und seiner Rolle in der Geschichte des Landes.

Ein schwer zu öffnendes Päckchen

Angeliki Papoulia und Carmen Chaplin in A little love package, Berlinale 2022 (Foto: © Little Magnet Flims / Filmy Wiktora)

Bewertung: 2 / 5

Es ist eine Krux mit der Wohnungssuche. Sogar wenn frau viel zu viel Geld hat, so wie Angeliki im Film A little love package, der auf der Berlinale 2022 in der Sektion Encounters seine Weltpremiere feiert. Mal knarzt in den attraktiven Wiener Altbauten der Parkettboden, dann liegt wieder ein potenziell streng riechendes Restaurant unter dem Wunschdomizil oder im Badezimmer sind statt dem gewünschten Marmor nur schnöde Fliesen. So treibt die anspruchsvolle Griechin ihre Luxus-Innenarchitektin Carmen, die sie auf Schritt und Tritt begleitet, fast in den Wahnsinn. Wer so viel Geld hat, der muss es doch irgendwann auch ausgeben wollen!

Der Argentinier Gastón Solnicki ist auf internationalen Filmfestivals von Toronto bis Venedig ein gern gesehener Gast. A little love package, auf einer Geschichte des mexikanischen Schriftstellers Mario Bellatin basierend, aber ohne Drehbuch gefilmt, ist bereits sein fünfter Kinofilm. Was Solnicki mit seinem jüngsten Werk vermitteln will, bleibt allerdings höchst unklar. Die beiden Damen flanieren mit ihrem Luxusproblem durch die Stadt, treffen dabei auf eine koreanisch-österreichische Klavierlehrerin, zwischendrin sieht man Menschen bei der Schuh- und Käseherstellung, beim Massieren oder Eierkochen zu. Das sieht alles auch ganz nett aus (Wien ist halt einfach fesch), hat aber oft überhaupt keinen erkennbaren Zusammenhang, von einem stringenten Narrativ ganz zu schweigen. Völlig abstrus wird es, als der Film wie aus dem Nichts erst zu Bildern einer Salzwüste und dann zur ausgiebigen Beobachtung einer andalusischen Ziegenherde übergeht, die (Überraschung, Überraschung) Carmens Familie gehört. Im Anschluss werden ausgiebig Familienprobleme diskutiert, das alles selbstverständlich auf Englisch. Am Ende geht es dann zwar zurück an die schöne blaue Donau, aber was das nun alles miteinander zu tun hat – jo mei. Diesen Film kann man wohl nur Hardcore-Fans der österreichischen Hauptstadt ans Herz legen. Alle anderen brauchen schon einen speziellen Humor, um Solnicki auf diesem doch recht wirren Trip zu folgen.

Zwischen Schlangen und Smartphones

Juunt Pastaza entsari | Waters of Pastaza | Die Kinder vom Río Pastaza, Berlinale 2022 (Foto: © Inês T. Alves)

Bewertung: 3 / 5

Appetitlich sehen sie aus, die Früchte, die sich die Kinder von den Bäumen holen und öffnen, indem sie sie gegen deren riesige Stämme schlagen. Aber auch ein bisschen wie aus einer anderen Welt. So wie die übergroßen Pilze, Schmetterlinge, Käfer und Spinnen, die sie auf dem Weg durch den tropischen Regenwald finden und in die Hand nehmen. Nur ist diese Welt am Amazonas für die Kinder keine exotische, sondern ihre ganz normale Umgebung. Ohne Erwachsene durch das endlose Grün der meterhohen Vegetation streifen, mit der Machete umgehen, Fische fangen, Feuer machen – auch für Sechs- bis Achtjährige ist das Alltag. Und zu zweit mit dem Kanu über den riesigen Rio Pastaza zu fahren ist, wie für Gleichaltrige woanders den Schulbus zu nehmen.

Die portugiesische Filmemacherin Inês Alves ist für ihre Dokumentation Juunt Pastaza entsari („Die Kinder vom Rio Pastaza“) zur indigenen Gemeinschaft der Achuar gefahren, die im ecuadorianischen Amazonasgebiet an der Grenze zu Peru lebt. Eigentlich nur für ein Bildungsprojekt in der Grundschule der Gemeinschaft gekommen, war sie schon bald von der Autonomie der Kinder beeindruckt, die ihren Alltag umgeben von der spektakulären Natur fast komplett ohne ihre Eltern meistern. Sie beschloss, einen Film mit ihnen zu drehen. Die Perspektive ist dabei nicht voyeuristisch. Vielmehr folgt die Kamera den Kindern bei ihren täglichen Unternehmungen, Spielen und Aufgaben, als wäre sie selbst ein Teil der Gruppe. Einige Aufnahmen wurden sogar von den Kindern selbst gemacht. Interessant ist Juunt Pastaza entsari auch, weil die Siedlung, in der die Kinder wohnen, erst kurz vor Alves‘ Ankunft ans Elektrizitätsnetz angeschlossen wurde. Smartphones sind deshalb natürlich ein begehrtes Spielzeug, der Umgang damit ist aber bald schon so normal, wie eine Schlange um einen Stock zu wickeln.

Juunt Pastaza entsari zeigt, wie anders die Lebenswelt von Kindern in einem Umfeld aussehen kann, das sich völlig von dem den meisten Kinobesucher*innen bekannten unterscheidet. Aber es gibt auch Ähnlichkeiten: So gehören T-Shirts von Frozen oder den regionalen Fußballklubs zu den beliebtesten Kleidungsstücken. In der Berlinale-Sektion Kplus ist der Film gut aufgehoben und ein Kinobesuch für Eltern auch mit kleinen Kindern empfehlenswert. Die schönen Naturaufnahmen und die mit knapp über einer Stunde nicht allzu lange Laufzeit sollten dafür sorgen, dass es trotz eines fehlenden Narrativs oder Off-Kommentars nicht zu langweilig wird.

Wahnsinn mit Methode

La Edad Media, Berlinale 2022

La Edad Media, Berlinale 2022 (Foto: © El Pampero Cine)

Bewertung: 4 / 5

Argentinien hat sich während der Corona-Pandemie die zweifelhafte Auszeichnung erworben, einen der unerbittlichsten Lockdowns weltweit durchgeführt zu haben. Je nach Region musste bis zu einem Jahr komplett auf den Gang zu Schule, Universität, Restaurants oder Kulturveranstaltungen verzichtet werden, rigide überwacht von der Polizei. Im Land, dessen Hauptstadt Buenos Aires gerüchteweise ohnehin schon die höchste Dichte an Psychotherapeut*innen weltweit hat, lagen die Nerven zeitweise ganz schön blank. Allerdings gab es auch einen positiven Nebeneffekt:  Die mit Galgenhumor schon in normalen Zeiten reichlich gesegneten Argentinier*innen liefen bei der Produktion sarkastischer Memes und Videos zum Thema COVID zu Hochform auf. Die lange Version dieses ungewollten kreativen Outputs ist mit der absurden Komödie La Edad Media nun im Kino zu bewundern. Der Film ist ein Versuch, den Wahnsinn des endlos erscheinenden Zusammenlebens auf engstem Raum gleichzeitig festzuhalten und ins Groteske zu steigern.

Die Filmemacher Alejo Moguillansky und Luciana Acuña sowie ihre Tochter Cleo sind die Hauptfiguren in diesem speziellen Experiment. Denn sie spielen sich in La Edad Media selbst – und doch auch wieder nicht. Der Film wurde komplett innerhalb der vier Wände ihres eigenen Hauses gedreht, die Szenen von ihrem Alltag im Lockdown inspiriert und dennoch inszeniert, übersteigert, verzerrt. Als theoretisches Gerüst dienen die Theaterstücke Samuel Becketts (Warten auf Godot), aus denen im Laufe des Films immer wieder zitiert wird.

Alejo und Luciana (oder Lu) sind in La Edad Media als Kulturschaffende (er Filmregisseur, sie Tänzerin) hart von der Pandemie getroffen. Daher versuchen sie, durch hyperaktives Aufgehen in recht seltsamen Online-Projekten ihren Mangel an Selbstverwirklichung auszugleichen. Auf der Strecke bleibt die 8-jährige Cleo, die dem merkwürdigen Treiben der Eltern verwundert bis genervt zusieht. Als Ausweg aus der Lockdown-Langeweile fasst sie den Plan, sich ein Teleskop zuzulegen, um die Sterne zu beobachten. Doch diese im Grunde vernünftige Idee wird von den Eltern ignoriert, das mit Mühe von ihnen erbettelte Geld reicht hinten und vorne nicht für einen Kauf. Und so sieht Cleo keine andere Möglichkeit, als unternehmerisch tätig zu werden: Gemeinsam mit „Moto“, dem Motorradkurier vom Lieferdienst, beginnt sie hinter dem Rücken ihrer Eltern Teile des Hausstandes zu verkaufen (und lernt dabei ganz nebenbei Prozentrechnen). Doch die Inflation in der Pandemie lässt das Teleskop auf dem Online-Marktplatz immer teurer werden, und Cleo muss das Risiko erhöhen, um sich ihren Traum zu erfüllen.

La Edad Media ist eine gelungene Lockdown-Komödie, die auf mehreren Ebenen funktioniert und mit absurdem Witz und genauer Beobachtung ihrer Figuren punktet. Realität und Fiktion verschwimmen dabei nicht nur für die sich selbst filmende Familie (man könnte den Film also fast als Mockumentary bezeichnen), sondern auch für die Zuschauer*innen. Diese dürften sicher so manche Situation aus ihrem eigenen ganz normalen Lockdown-Wahnsinn wiedererkennen, wobei das Lachen auch mal im Hals steckenbleiben kann. Großartig ist die Szene, in der Cleo beim Versuch, die roboterhaften Fragen eines Englisch-Lernprogrammes zu beantworten, immer mehr abschweift, während daneben ihre Mutter wie verrückt auf einen Boxsack einprügelt. Oft wirft der Film aber auch relevante Fragen auf, wie zum Beispiel die, warum die Kunst auf die veränderten Lebensbedingungen seit Corona kaum reagiert hat, sondern sie einfach nur ignoriert – in wie vielen Kinofilmen tragen Menschen Masken? Ein weiterer Aspekt, der La Edad Media zu einem absolut lohnenswerten Kinoerlebnis macht, jetzt und vielleicht auch über die Pandemie hinaus.

Harmonie statt Ecken und Kanten

Sublime, Berlinale 2022Sublime (Foto: © Tarea Fina)

Bewertung: 3 / 5

„Ein ganzes Bier trinken ohne zu atmen? Oder mit drei Kakerlaken im Bett aufwachen?“ Manu muss nicht lange überlegen: „Das mit dem Bier natürlich! Obwohl das eigentlich gar nicht geht.“ Es ist ein Spiel, das der introvertierte 16-Jährige und sein bester Freund Felipe bei fast allen ihren Treffen im Film Sublime spielen: Für welche von zwei Scheußlichkeiten würde man sich wohl eher entscheiden? Zum Glück müssen sich die beiden damit nur in ihrer Fantasie beschäftigen. Denn so schlecht ist das Leben der Teenager in ihrem kleinen argentinischen Küstenort nicht: Die Schule läuft so vor sich hin, in ihrer Freizeit spielen sie Fußball am Strand oder jammen in einer Rockband, die ihren Lebensmittelpunkt bildet. Und auch beziehungstechnisch ist eigentlich alles im grünen Bereich, beide haben eine Freundin. Als Felipe aber von seinem Vater einen alten Van geschenkt bekommt und ihn zum Rückzugsort für ihre Dates umbaut, beginnen die Probleme: Denn Manu bemerkt immer mehr, dass er dort statt mit seiner Freundin Azul viel lieber mit Felipe alleine wäre  …

Regisseur Mariano Biasin hat sich mit einem Film über Jugendliche an der Schwelle zwischen erster Liebe und Erwachsenwerden schon einmal einen Namen gemacht: Bereits 2016 gewann er mit El inicio de Fabrizio (Fabrizios erstes Mal)  bei der Berlinale den Preis für den besten Kurzfilm in der Kinder- und Jugendsektion Generation. Mit Sublime hat es nun sein erster Langfilm ebenfalls ins Programm des Festivals geschafft. Auch hier legt Biasin wieder eine vor allem atmosphärisch gelungene Coming-of-Age-Geschichte vor, die sich um eine Gruppe heranwachsender Jungen und deren Gefühlswelt dreht. Homosexualität spielt in ihren Gesprächen höchstens in Witzen und Randbemerkungen eine Rolle. Manu fühlt sich aufgrund seiner Gefühle für Felipe deshalb zwar nicht ernsthaft bedroht, aber eben auch nicht ermutigt, sich dazu zu bekennen. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine ganze Emotionalität in die Songtexte für die gemeinsame Rockband zu legen.

Musik ist ein tragendes Element von Sublime. Die qualitativ durchaus hochwertigen Rocksongs der Jungs-Band (einer klingt vermutlich nicht von ungefähr verdächtig nach „Boys Don‘t Cry“ von The Cure) geben dem Leben der Jugendlichen, und damit auch dem Film insgesamt, ein Gefühl von Größe, das über den Alltag in dem recht verschlafenen Örtchen am Meer hinausgeht. Mariano Biasin lässt die Kamera dabei meist ganz nah an seine Protagonist*innen und die Intimität ihrer Gefühle heran. Allerdings mag der Regisseur und Drehbuchautor seine Figuren offenbar so sehr, dass er sich scheut, ihnen wirklich wehzutun. Durch diesen Verzicht auf Ecken und Kanten kommt der Film etwas arg harmonisch und nicht mehr so ganz realistisch daher. Eine*n richtige*n Bad Guy gibt es in Sublime genauso wenig wie offene Homophobie. Und auch die Eltern sind (im Gegensatz zu Biasins preisgekröntem Kurzfilm) alle liebe-und verständnisvoll, ihre angedeuteten Probleme untereinander fallen nicht ins Gewicht und Konflikte lösen sich (oft abseits der Kamera) wie von selbst. Das alles ändert nichts daran, dass Sublime ein sehr warmer, einfühlsamer und gut beobachteter Feelgood-Film über das Erwachsenwerden ist, der sich prima ansehen lässt. Für das nächste Mal würde man Mariano Biasin aber trotzdem wieder ein bisschen mehr Mut zum Dissens wünschen.

Hölzerner Spionagethriller

Iosi, el espía arrepentido, Berlinale 2022

Iosi, el espía arrepentido (Foto: © Amazon)

Bewertung: 2 / 5

Buenos Aires, 1992. Originale Filmaufnahmen zeigen die nach einem Bombenanschlag zerstörte israelische Botschaft, Zeug*innen und Polizist*innen versuchen, den Verletzten zu helfen, Rettungswagen rasen herbei. Fast unmerklich gehen die Originalaufnahmen in den Film über. Ein elegant gekleideter Mann stolpert durch die Trümmer, sein Blick bleibt an zerstörten Gegenständen hängen, an leblosen Körpern. Mit dieser drastischen Szene beginnt die für Amazon Prime Videos produzierte achtteilige Serie „Iosi, el espía arrepentido“ (Iosi, der reumütige Spion) des argentinischen Regisseurs Daniel Burman. Er basiert auf dem gleichnamigen Buch von Miriam Lewin und Horacio Lutzky.

Schon mit „El abrazo partido“ (2004) und „El rey de Once” (2016) drehte Burman Filme in und über den von der jüdischen Diaspora geprägten Stadtteil Once in Buenos Aires, in dem er selbst aufgewachsen ist. Nun also zeigt er jüdisches Leben in Argentinien durch die Augen eines jungen Geheimpolizisten in einer actiongeladenen Aufarbeitung zweier traumatischer Ereignisse der jüngeren Geschichte Argentiniens: dem Anschlag auf die israelische Botschaft in Buenos Aires 1992 und auf die jüdische Organisation Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) 1994. Beide Anschläge wurden nie wirklich aufgeklärt.

Ob Iosi die Aufklärung gelingen wird, der in Folge der Ereignisse untertaucht und seine Jahre auf der Flucht – auch vor seinen ehemaligen Auftragsgebern – verbringt, bleibt in den ersten Folgen der Serie unklar. Seine Geschichte beginnt 1985, zwei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur. Iosi heißt da noch José Perez und ist Auszubildender einer Spezialeinheit der argentinischen Bundespolizei. Während um ihn herum sehnsuchtsvoll über den nächsten Staatsstreich spekuliert wird, fällt Perez durch eine kritische Bemerkung zu antisemitischen Kommentaren auf. Daraufhin wird er zum Schein aus der Einheit geworfen und auf geheime Mission nach Buenos Aires geschickt. Das Ziel: Die Unterwanderung der jüdischen Community, um Informationen über den „Plan Andinia“ zu sammeln, eine angebliche Konspiration zur Aneignung weiter Teile Patagoniens, um dort einen eigenen jüdischen Staat zu errichten. Beweise dafür findet Iosi keine, doch er infiltriert erfolgreich eine linke jüdische Gruppe.

Dort wird Iosi, obwohl er stets sehr wortkarg, verschlossen und gleichzeitig neugierig auftritt, schnell aufgenommen und wird ein immer beliebteres Mitglied der jüdischen Community. Deren Traditionen, Vielschichtigkeit und auch inneren Konflikte, beispielsweise zur Siedlungspolitik Israels, werden in der Serie leider nur angedeutet. Die Aufmachung als Spionagethriller lässt kaum Zeit zum Innehalten; auch wenn manche Szenen liebevoll detailliert ausgestaltet sind, bügelt der mit Klischees überfrachtete Spionageplot darüber hinweg. Das ist schade, denn die Auseinandersetzung mit dem völlig undurchsichtigen postdiktatorischen argentinischen Polizeiapparat, dem allgegenwärtigen Antisemitismus und weiteren historischen Ereignissen, wie den Protesten gegen die Amnestiegesetze für Verbrecher*innen der Militärdiktatur, gerät dabei zu kurz.

Neben der rasanten Erzählung ist es durch hektische Zeitsprünge in das Jahr 2007 stellenweise schwer, der Geschichte zu folgen. 15 Jahre nach dem Anschlag auf die Botschaft schlägt sich Iosi, nun selbst verfolgt, auf eigene Faust durch. Immer bleibt er dabei erstaunlich charakterlos, und begegnet sogar Ausbrüchen extremer Gewalt mit stoischem Gleichmut. Das tut der Spannung der Serie keinen Abbruch, macht sie aber weniger mitreißend. Zumal die Szenen expliziter, auch sexualisierter Gewalt, der Handlung wenig geben, aber schwer anzuschauen sind. Dabei bieten die unklaren Hintergründe der Anschläge, internationale Verstrickungen, politische Intrigen und die Beteiligung verschiedener Geheimdienste wirklich Stoff für einen Thriller – aber Iosi, el espía arrepentido bleibt hölzern an der Oberfläche und wirkt deshalb fast unangenehm spekulativ.

VON POETISCH BIS POLITISCH

Einfach wurde es den Zuschauer*innen nicht gemacht, alle lateinamerikanischen Kurzfilme der 72. Berlinale zu sehen. Breit über verschiedene Sektionen und Programme verstreut konnten sie insgesamt auch das fast durchgehend hohe Niveau der Langfilme nicht ganz erreichen. Dennoch waren einige reizvolle Beiträge dabei, die das Festival bereichert haben. Hier das LN-Ranking aller Beiträge:

1. The Wake (Haiti, Ausstellung Closer to the Ground, Sektion Forum Expanded)

Eine poetisch-politische Reflexion über den Stand der Dinge im Karibikstaat. Wie weitermachen in einem Land, das, immer wieder von Naturkatastrophen geschüttelt, vom Ausland vernachlässigt oder gar beschimpft wird und von Korruption und Gewalt zerfressen ist? Mit Kunst, mit Protest, mit Aktivität, so die Antwort der Künstler*innengruppe The Living and Dead Ensemble, die die Kurzdoku The Wake produziert hat. Verschiedene künstlerische, politische oder persönlich-reflexive Testimonials verdichten sich zu einem ausdrucksstarken Panorama einer Generation, die versucht, Frust und Resignation in positive Energie umzuwandeln. Auch ästhetisch wurde das Projekt mit einer Präsentation als digitales Triptychon (auf drei großen vertikalen Bildschirmen) anspruchsvoll umgesetzt. Manchmal etwas herausfordernd, insgesamt aber ein ausdrucksstarkes Plädoyer für politischen und künstlerischen Aktivismus.

Bewertung: 4/5

2. Yarokamena (Kolumbien, Programm 8 Forum Expanded)

Die Kurzdoku erzählt die Geschichte von Yarokamena, dem Anführer einer bewaffneten Rebellion von Kautschukarbeiter*innen im Amazonasgebiet. Sie kämpften gegen die brutale Ausbeutung und Versklavung der indigenen Gemeinschaft der Uitoto durch die peruanische Firma Casa Arana zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der Nähe der Siedlung Atenas im heutigen Kolumbien gelang es Yarokamenas Kämpfer*innen einige Zeit lang, ihren erbitterten Widerstand aufrecht zu erhalten. Schließlich wurden sie von der herbeigerufenen peruanischen Armee besiegt. Lange Zeit war selbst die mündliche Weitergabe von Yarokamenas Geschichte bei Strafe verboten. Nun hat der Filmemacher Andrés Jurado sie mit den Mitteln des Kinos wiederbelebt. Er lässt sie Gerardo Sueche Cañube, ein heutiges Ratsmitglied der Uitoto, erzählen, wobei rotes Licht und ein knisternder Umhang aus Silberfolie die Illusion eines Lagerfeuers erzeugen. Ergänzt wird dies durch verwaschene Aufnahmen von Technikruinen im heutigen Amazonasgebiet. Der Film endet mit dem Einspielen des Stücks Yarokamena der kolumbianischen Metalband Jitoma Safiama. Einiges an Kontext müssen sich Zuseher*innen ohne Vorkenntnis zwar nach dem Film noch selbst erarbeiten. Dennoch bietet er eine relevante und anspruchsvoll inszenierte Geschichtsstunde, die gerne noch etwas länger hätte dauern dürfen.

Bewertung: 4/5

3. Manhã de Domingo (Brasilien, Programm Berlinale Shorts II)

Als einziger rein fiktionaler Kurzfilm aus Lateinamerika folgt Manhã de Domingo der Klavierspielerin Gabriela, die das gleiche Klavierstück in verschiedenen Situationen spielt: Für ihren Liebhaber, als Probe am Vorabend eines Konzerts, auf einem Keyboard alleine in ihrem Elternhaus. Dabei variiert sie das Stück je nach ihrem Gemütszustand. Während des Spielens und in den Sequenzen dazwischen erfährt man einiges über Gabrielas Verhältnis zu ihrer kürzlich verstorbenen Mutter und den Erwartungsdruck, dem sie sich als Schwarze Pianistin ausgesetzt sieht und selbst aussetzt. Der Film wird getragen von der wunderschönen Klaviermusik Gabrielas, belässt aber die Deutung einiger Situationen im Ungefähren. Die Jury der Sektion Berlinale Shorts konnte Regisseur Bruno Ribeiro damit überzeugen: Manhã de Domingo gewann den Silbernen Bären für den Preis der Jury im Bereich Kurzfilme.

Bewertung: 3/5

4. Moune Ô (Frankreich / Französisch-Guyana, Programm 1 Forum Expanded )

Regisseur Maxime Jean-Baptiste rechnet in Moune Ô mit dem Erbe des französischen Kolonialismus ab. Am Beispiel des französischen Films Jean Galmot, aventurier von 1990 und seiner Rezeption zeigt seine Kurzdokumentation die bis heute stereotypisierten Rollenbilder und die ökonomische Ausbeutung und Abhängigkeit des Überseedepartements Französisch-Guyana vom Mutterland auf. Diese manifestieren sich heute vor allem in der Verseuchung der Umwelt durch die größte Goldmine der Welt. Jean-Baptiste nutzt zu diesem Zweck einzig Bildmaterial und Off-Kommentar, was den Film zwar künstlerischer macht, aber das Verständnis des Kontextes erschwert.

Bewertung: 3/5

5. O dente do dragão (Brasilien, Programm 1 Forum Expanded )

Auch dieser Kurzfilm behandelt eine in Vergessenheit geratene historische Katastrophe. 1987 wurde im brasilianischen Goiânia ein Röntgengerät aus einem verlassenen Krankenhaus gestohlen. Die Diebe bauten das defekte Gerät auseinander, wodurch radioaktive Strahlung austrat. 253 Personen wurden verseucht, vier davon starben. Mehrere Häuser mussten mitsamt ihrer kompletten Einrichtung zerstört werden. Der Vorfall gilt bis heute als einer der schwerwiegendsten nuklearen Unglücksfälle weltweit.
Regisseur Rafael Castanheira Parrode hat seinen Film als fortschrittskritische Kurzdoku mit vielen Verfremdungseffekten in Bild und Ton inszeniert. O dente do dragão beginnt mit einem Ausschnitt des alten Nibelungen-Spielfilmes von F.W. Murnau, bei dem Siegfried den Drachen tötet und zeigt immer wieder Auswüchse technischer und militärischer Entwicklung. Die Message hat ihre Berechtigung, ist allerdings nicht ganz neu. Und die mit stroboskopischen Blitzen versehenen Aufnahmen erfüllen ebenfalls ihren ästhetischen Zweck, geraten aber auf die Dauer etwas anstrengend – und brachten dem Film eine Epilepsiewarnung ein.

Bewertung: 3/5

6. Heroínas (Peru, Programm Berlinale Shorts V)

Kolonialismus Teil 3 bei den lateinamerikanischen Kurzfilmen: Tomasa Tito Condemayta war eine indigene Adlige aus Peru, die sich im 18. Jahrhundert den spanischen Kolonialherren mit einer Brigade von Soldatinnen entgegenstellte. Heroínas, das Regiedebüt der Peruanerin Marina Herrera, erklärt aber weniger die historischen Gegebenheiten, sondern zeigt einen heutigen, fiktiven Kult um Tomasa, der einer katholischen Wallfahrt zu Orten von Marienerscheinungen ähnelt. Dabei kommen Laiendarstellerinnen in Interviews zu Wort, die sich von der vermeintlichen Heiligen verbesserte Lebensbedingungen oder gute Noten in der Schule erhoffen.
Auch wenn es zum Wesen von Mockumentarys gehört, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt, hat Herrera in diesem Fall das Spiel für nicht Eingeweihte etwas zu weit getrieben. Wer nicht schon vor dem Film gut über die geschichtlichen Fakten informiert ist, könnte denken, die Szenen im Film seien komplett echt – oder im Gegenteil alles, inklusive Tomasa, komplett erfunden. Die Verbindung zwischen realer historischer Figur und fiktivem Kult schafft es so nie, wirklich zu zünden. Vielleicht auch, weil ironische Distanz bei einer Widerstandskämpferin, die ein berechtigtes Anliegen hatte und dafür brutal ermordet wurde, einfach nicht das geeignete Mittel ist. Schade, denn Tomasa Condemayta und ihre Vorbildfunktion für indigene Frauen in Peru heute wären auch für eine normale Kurzdokumentation interessant genug gewesen.

Bewertung: 2/5

7. Se hace camino al andar (Brasilien, Ausstellung Closer to the Ground, Sektion Forum Expanded)

Ein Mann läuft eine halbe Stunde lang mit seinen Schuhen in der Hand an einem Maisfeld vorbei und durch ein Gemüsefeld. Die einzige Abwechslung: Einmal taucht eine riesige Landmaschine auf, untermalt von dramatischer Musik. Cineastisch zu vernachlässigen – und selbst der meditative Charakter als einzig nennenswerte Qualität wurde auf der Berlinale 2022 durch die Platzierung in einer größeren Ausstellungshalle mit akustischer und optischer Ablenkung zunichte gemacht.

Bewertung: 1/5

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