Jagen in der Leere
Alejandra Márquez Abellas El norte sobre el vacío erzählt eindrücklich aus einem von Hoffnungslosigkeit erdrückten Mexiko
Gerardo Trejoluna und Paloma Petra in El norte sobre el vacío, Berlinale 2022 (Foto: © Claudia Becerril/Agencia Bengala)
Bewertung: 4 / 5
Den Hof hat Don Reys Vater an der Stelle errichtet, an der er vor langer Zeit einen Puma erschossen hat. Eigentlich der einzige Grund, hierzubleiben. Denn ansonsten ist der ländliche Norden Mexikos vor allem eins: leer. Reynaldo, den all nur Don Rey nennen, bewohnt mit seiner Frau Sofía und den zwei indigenen Angestellten Rosa und Tello das karge, staubige Anwesen und vertreibt sich seine Zeit mit der Jagd. Dabei ist er nicht einmal ein guter Schütze.
In die Trostlosigkeit der Jagdgesellschaften kommt die Osterwoche und damit die Kinder und Enkel aus der Stadt. Während sie verbissen fröhlich auf das Farmjubiläum anstoßen, wird deutlich, mit welcher Wucht sich hier verschiedene Lebensrealitäten begegnen. Das moderne, städtische Mexiko trifft auf ein armes, ländliches Mexiko, welches völlig auf sich bezogen in der Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Keines von Reynaldos Kindern kann sich vorstellen, den Hof eines Tages zu übernehmen und auch seine Enkel wollen lieber schnell wieder weg. So scheitern die Versuche, die Ausgelassenheit einer Familienfeier zu inszenieren. Sie fallen in sich zusammen wie das Luftschloss, welches ein zur Feier bestellter Clown vor dem Hof aufgebaut hat.
Denn was hat Don Rey hier schon? Die Landbesitzer sind arm, die Ausbeute der Jagd und der Ertrag dessen, was der karge Boden abwirft kaum erwähnenswert und dann verschwinden auch noch Menschen von den benachbarten Höfen. Einzig die Bediensteten können noch herumkommandiert werden. Und so nimmt Rosa, wie sie zu Beginn des Films Don Reys Waffe nimmt, um einen Hirsch zu erlegen, irgendwann die Fäden der Geschichte in die Hand und wird zur eigentlichen Protagonistin des Niedergangs einer anachronistischen Ordnung.
Dabei wird El Norte sobre el Vacío von Anfang an von einem gewissen Unbehagen gezeichnet. Die schwer fassbare Bedrohung konkretisiert sich schließlich, als bewaffnete Unbekannte auftauchen. Diese versprechen Don Rey Sicherheit in diesen ungewissen Zeiten – wenn er denn bereit ist, dafür zu zahlen. Das kommt für Reynaldo nicht in Frage, und auch wenn seine Familie und Angestellten ihn dringend warnen, der Patriarch bleibt resigniert widerständig und steuert so auf die unvermeidliche Eskalation zu.
Die schleppende Entwicklung der Handlung macht erst das Ausmaß der Hoffnungslosigkeit und Gewalt in dieser verblassenden Welt deutlich. Dabei klammert sich die Kamera manchmal beinahe aufdringlich an einer Person fest und rückt so immer wieder neue Facetten der Beziehungen zwischen den Protagonist*innen ins Licht. Dann wieder schweift sie ziellos umher und bietet dabei ein karges und doch lebendiges Panorama des ländlichen Mexiko. Denn bei genauem Hinsehen ist die Leere voller Leben. Den Tieren wird abseits ihrer Rolle als Jagdtrophäen und Nahrung ihre eigene Rolle eingeräumt, sogar ihre Perspektive eingenommen. Sie waren schon vor den Menschen da und sie werden auch bleiben, wenn die Menschen von diesem kargen Fleck Erde verschwunden sind. Und so wundert es auch nicht, wenn am Ende dann Menschen statt Tiere gejagt werden.
Alejandra Márquez Abellas dritter Langspielfilm schafft ein beeindruckendes und vor allem bedrückendes Panorama von ländlicher Hoffnungslosigkeit und dem Aufeinandertreffen verschiedener Klassen und Generationen, in dem jede*r wieder für sich allein steht. Die langsame Entfaltung des Films macht ihn zu einem eindringlichen, aber auch herausfordernden Kinoerlebnis, wofür die großartigen Bilder aber voll und ganz entschädigen.
Paloma Petra in El norte sobre el vacío, Berlinale 2022 (Foto: © Claudia Becerril/Agencia Bengala)
Paloma Petra, Mariana Villegas, Dolores Heredia, Gerardo Trejoluna, Camile Mina, Diego Garcia, Mayra Hermosillo, Fernando Bonilla, Francisco Barreiro in El norte sobre el vacío, Berlinale 2022 (Foto: © Claudia Becerril/Agencia Bengala)
El norte sobre el vacío // Mexiko // 114 Minuten // Berlinale-Sektion Panorama //
Alejandra Márquez Abella (Foto: © Jacobo Parra)
Regie: Alejandra Márquez Abella
Weitere Vorführungen auf der Berlinale:
17.02., 14:00 h Cubix 9
19.02., 14:00 h Cubix 9
20.02., 15:00 h Zoo Palast 2