DIE SPIRALE VON CHAOS UND ZEIT

© courtesy of The Living and the Dead Ensemble/Spectre Productions

Ouvertures vermittelt einen zeitgenössischen Blick auf die Geschichte der Sklavenaufstände, die zur Gründung des Staates Haiti geführt haben. Im Mittelpunkt steht Toussaint Louverture, der Anführer der Haitianischen Revolution. Der Dokumentarfilm beginnt mit einer Spirale, danach wird eine Bibliothek in Paris eingeblendet, wo ein studentischer Forscher aus Haiti die Memoiren von Louverture liest. Die Szene ändert sich danach schlagartig, der Student marschiert durch den Schnee auf die Burg Château de Joux im Jura-Gebirge (Französische Schweiz) zu, wo der Revolutionsführer 1803 verstorben ist und erkundet alle Räume, auch die Todeszelle von Louverture. Im weiteren Verlauf des Films geht es von den Stalaktiten (in einer Höhle unter der Burg), durch die der Forscher die Vergangenheit zu lesen versucht, zurück nach Haiti. Zur selben Zeit, rund 7.700 km auf der anderen Seite der Welt, in Port-au-Prince, übersetzt eine Gruppe von Schauspieler*innen die Szenen der letzten Tage vor Louvertures Tod von Französisch auf Haitianisches Kreol. Beim Spielen eines Theaterstücks von Édourd Glissant verschmelzen die Schauspieler*innen immer mehr mit ihren Rollen und spüren die Anwesenheit des Geistes von Louverture.

Schnell wird klar, dass der Dokumentarfilm kein konventioneller westlicher Film ist, sondern ein Film aus haitianischer Perspektive. Besonders der Teil, der in Haiti spielt, ist geprägt von unzähligen haitianischen Symbolen, Einfluss des Voodoos, Musik (von Perkussion bis Hip Hop) und der Sicht der Haitianer*innen auf Revolution, Kolonialisierung und Weltordnung. Das Symbol der Spirale stellt dabei das Chaos der Welt dar, das durch die Sklaverei verursacht wurde und das Orte unabhängig von Ort und Zeit vereint. Der gesamte Film ist spiralförmig aufgebaut, es gibt Ortswechsel von Frankreich, Schweiz und Haiti, die alle miteinander durch die Geschichte von Toussaint Louverture verbunden sind. Für  den britischen Filmregisseur Louis Henderson und den französischen Produzenten Olivier Marbeouf stellt genau diese Symbolik einen Versuch dar, ein kreolisches Kino zu erschaffen, „wo Zeit und Raum auf den Kopf gestellt werden.“ Zusammen mit acht haitianischen Schauspieler*innen haben sie das Living and the Dead Ensemble gegründet und Ouvertures in eine Theaterinszenierung verwandelt, die vom Geist des Revolutionsführers heimgesucht wird.

© courtesy of The Living and the Dead Ensemble/Spectre Productions

Die Proben des Theaterstücks erstrecken sich über mehrere Tage an verschiedenen Schauplätzen in Port-au-Prince, meistens im Freien, bei Tag und Nacht. Die Theaterszenen bestehen aus Wiederholungen und Improvisation und vermischen sich in den Pausen mit Gesprächen über Feminismus, Identität und der Illusion des Kosmopolitismus. Der Film ist für das westliche Auge etwas zu lang geraten und einige Szenen hätten gekürzt werden können. Besonders die Anfangsszenen in Frankreich und der Schweiz sind etwas langatmig und man wartet darauf, dass die Geschichte in den Gang kommt.

Davon abgesehen ist Ouvertures jedoch ein sehr gelungener Dokumentarfilm, der Haiti aus dem Blickwinkel seiner Bewohner*innen darstellt und mit einem Hauch von Magischen Realismus verknüpft. Das Filmdebüt ist nicht nur eine Hommage an Toussaint Louverture, sondern auch eine Kritik am Postkolonialismus, ein Empowerment der Haitianer*innen und ein Aufruf Haiti trotz aller Armut und Probleme zu schätzen und an den Fortschritt zu glauben. Ein sehr detailreicher, spannender und innovativer Dokumentarfilm, der besonders für Haiti-Interessierte und Theaterliebhaber*innen zu empfehlen ist.

SCHWESTERN AM ENDE DER WELT

© Carine Wallauer

Ana (Maria Galant) und Julia (Anaís Grala Wegner) sind Schwestern und sitzen in einem Bus, um ihren Vater im Süden Brasiliens zu suchen. Die Schwestern sind Jugendliche, ihre Mutter hat eine unheilbare Krankheit, schickt sie deshalb zu ihrem Vater. Ana und Julia sind zwei selbstbewusste junge Frauen, die nicht vorhaben sich von ihrem Vater bevormunden zu lassen. Diese Vision gerät mit der eher konservativen Mentalität des Dorfes in Konflikt, in dem ihr Vater lebt. Ana und Julia sind sich bewusst, dass die Welt ihnen gehört: “Tragen Sie diesen Lippenstift, um hübsch auszusehen?”, fragt ein alter Man, “Nein, ich trage ihn, damit ich die Welt schlucken kann”, antwortet Ju.

Gleichzeitig rast der Meteorit WF42 auf die Welt zu, der alles Leben auslöschen könnte, so wie es vor Jahrmillionen mit den Dinosauriern geschah. Die Bedeutung des Meteoriten nimmt im Laufe des Films zu, doch attraktiver als das fiktive Drama des Films sind jene Szenen, in denen die Schwestern im Rhythmus elektronischer Musik in eine Art traumhafte und subjektive Welt eintreten. Die ästhetische und musikalische Umsetzung versprüht einen gewissen Charme, doch der Hauptgeschichte fehlt es an Kraft, streckenweise ist sie langweilig und die Schauspieler*innen wirken unnatürlich.

Das bedeutet nicht, dass Irmã ein Film ist, der auf dem Festival verloren geht. Einer der interessanten Punkte des Debütfilms der Regisseur*innen Luciana Mazeto und Vinícius Kopesm ist der ästhetische und drehbuchschreibende Feminismus: Sie versuchen zu zeigen, wie manche Männer von der Vorstellung abgeschreckt werden, dass Frauen in der Lage sind, selbst zu entscheiden. Ein weiterer Aspekt, der dem Film Ehre macht: Irma ist eine Low-Budget-Produktion und mehr als die Hälfte des Teams sind Frauen.

Die Gründe sich für Irmã in den Kinosessel zu setzen, könnten dennoch eher mit der Anerkennung der Bemühungen zu tun haben, welche in die Realisierung des Projekts gesteckt wurden.

DER SEE SPIEGELT LEBEN UND ZERSTÖRUNG

© Marahu Filmes

Die Kamera dreht sich langsam nach unten, Himmel und Wasser treffen aufeinander, dazwischen  ein riesiger Staudamm. Es ist der Tucuruí-Staudamm, 78 Meter hoch und 6,5 Kilometer lang, gebaut während der brasilianischen Militärdiktatur. Fernando Segtowick und seine Filmcrew begleiten in O Reflexo do Lago das Leben der Amazonasgemeinde Tucuruí mit dem angrenzenden Stausee. Wir lernen die Gemeinde kennen und erfahren wie sich ihr Leben und die Landschaft durch den Staudamm geändert haben.

Zurück im Jahr 1974. Der General und brasilianische Präsident Ernesto Geisel bestätigt das Tucuruí-Projekt und die Arbeiten am Damm beginnen im darauffolgenden Jahr. Durch den Staudamm “bildete sich ein See von 170 Kilometer Länge mit einer durchschnittlichen Breite von 17,3 Kilometern. Das Wasser überschwemmte ein Gebiet von 2875 Quadratkilometern, also die fünffache Fläche des Bodensees” wie Andreas Missbach bereits in den LN 315/316 berichtete. Zehn Jahre später ist der Staudamm fertig gestellt, aus der Gemeinde mit ehemals 8.500 Menschen ist inzwischen eine Stadt mit mehr als 60.000 Menschen geworden. Mehr als die Hälfte des durch den Staudamm gewonnenen Stromes wird für die Produktion von Aluminium verwendet.

© Marahu Filmes

Gefilmt wurde in schwarz-weiß. Die Zuschauer*innen fahren mit dem Regisseur in einem Motorboot, besuchen Anwohner*innen und sehen Häuser und Regenwald an ihnen vorbeiziehen. Hinter der augenscheinlich schönen Natur finden sich die Schäden des Staudamms: Zerstörter Wald und circa 4.000 umgesiedelte Familien. Aber die Stadt Tucuruí hat sich weiterentwickelt. Trotz der Zerstörung und der Schwierigkeiten im Ort, sehen wir wie Kinder zusammen lernen und tanzen, Menschen Fußball spielen und auf Partys gehen. Durch Radiosendungen, Interviews und alte Fernseh-Clips zeigt Segtowick den Alltag der Bürger*innen und die Zerstörung, die sie erlebt haben.

Doch der Film läßt etwas zu wünschen übrig, denn die Geschichte des Staudamms wird kaum erwähnt, meist sollen die Bilder für sich sprechen. Mit 79 Minuten ist der Film kurzweilig, doch die vielfältigen Themen wurden nur angeschnitten und so manch drängende Frage blieb unbeantwortet. Was bleibt ist der Eindruck von Gewalt gegen die Natur und ein Beispiel katastrophaler Auswirkungen der Staudamm-Industrie.

FRAUEN EROBERN BRASILIENS SKATEBOARDINGWELT

© Luh Barreto

„Ihr Jungs seid echt furchtbar. Ihr kennt das Mädchen nicht einmal und das Erste, was ihr sagt ist: ʻSie ist verdammt heißʻ. Sie macht wahrscheinlich eine ganze Menge anderer cooler Dinge, von denen ihr nicht einmal wisst.” So begegnet die 17-jährige Skaterin Bagdá (Grace Orsato) ihren Skaterfreunden, als sie in ihrer Gegenwart ein Mädchen abchecken. Bagdá, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter Micheline und zwei Geschwistern im Arbeiterviertel Freguesia do Ó in São Paulo lebt, entspricht nicht dem (brasilianischen) Frauen-Klischee: Sie hat sehr kurze Haare, benutzt kein Makeup und trägt meistens weite Kleidung. Ihre Freizeit widmet sie neben Familienaktivitäten ganz dem Skateboardfahren, Karten spielen und Marihuana rauchen – zusammen mit ihrer männlichen Skatercrew.

Wer in Meu nome é Bagdá professionelle Schauspieler*innen und akrobatische Skateboardtricks erwartet, wird enttäuscht werden. Stattdessen wird eine authentische Geschichte mit Alltagssituationen der brasilianischen Skateboarderinnenwelt und eine Auseinandersetzung mit den Themen Selbstbestimmung und Identitätsfindung geboten. Der Film ist so realistisch, dass die Zuschauer*innen das Gefühl bekommen, zu Gast bei Freund*innen in Brasilien zu sein. Diesen Effekt erreicht die Regisseurin Caru Alves de Souza durch Laienschauspieler*innen und Filmdrehs mit einer Handkamera (gefilmt von Kamerafrau Camila Cornelson), die immer aus der Perspektive eines der Filmcharaktere aufgenommen wurde. “Der Film Bagdá ist durch den Wunsch entstanden, Alltagsthemen darzustellen, erlebt von Charakteren der Arbeiterklasse in São Paulo”, beschreibt Alves de Souza.

Eine weitere Strategie, die zur “Echtheit” dieser vor und hinter der Kamera hauptsächlich von Frauen, besetzten Produktion beiträgt, ist das flexible Drehbuch. Die aus São Paulo stammende Regisseurin, die auf unkonventionelle Filme spezialisiert ist, hat sich von dem Buch Bagdá o Skatista („Bagdá der Skater“) von Toni Brandão inspirieren lassen, das allerdings von einem Jungen handelt. Das Skript war nicht komplett festgeschrieben, sondern entstand in einem kreativen Prozess mit den Schauspieler*innen und der Schauspiel-Trainerin Marina Medeiro. Weder die professionellen noch die Laien-Schauspieler*innen bekamen dabei jemals das komplette Skript zu sehen.

© Camila Cornelsen

Obwohl es mit Bagdá im Film, eine klare Protagonistin gibt, steht die Solidarität zwischen den Mädchen und Frauen mehr im Vordergrund, als die Darstellung ihrer Geschichte und Entwicklung. Die jüngste Schauspielerin im Team ist Helena Luz, die als Bagdás 9-jährige Schwester Bia mit ihrer süßen, unschuldigen-smarten Art und ihrem Wunsch, eine Expedition zum Mars zu machen, die Herzen der Zuschauer*innen erwärmt.

Eine sehr erfrischende Rolle nimmt auch Bagdás Mutter, die resolute Powerfrau Micheline ein, die ihre Töchter sein lässt, wie sie möchten. Sie arbeitet in einem Beautysalon, der der Trans*frau Giralda (Paula Sabatini) gehört. In einer der stärksten Szenen des Films unterbricht sie in ihrer Stammkneipe ein frauenfeindliches Gespräch zwischen zwei Männern, indem sie zum Tisch geht, ihnen das Bier wegtrinkt und ihnen lautstark ihre Meinung sagt. Daraufhin bleiben die Männer mit offen stehenden Mündern zurück. Da hauptsächlich Laienschauspieler*innen zu sehen sind, ist Karina Buhr in dieser Rolle die einzige prominente Besetzung. Die Rock- und Mangue Beat-Sängerin, die in Bahia geboren ist, war sogar schon in Deutschland auf Tournee, engagiert sich in ihrer Freizeit feministisch und schreibt Gedichte.

Die Authentizität der Schauspieler*innen und die Fähigkeit, vielfältige gesellschaftlich wichtige Themen gekonnt in nur einem Film zu thematisieren und zum Nachdenken anzuregen, macht Lust auf weitere Filme von Caru Alves de Souza, die schon 2013 für “Undergage” einen Preis gewonnen hat. Fazit: Ein sehr empfehlenswertes Erlebnis für Kinofans, die Lust auf einen feministischen Film aus Brasilien haben und kleine Produktionsfirmen wie “Manjericão Filmes” unterstützen möchte.

100 JAHRE WHITENESS

© Héléne Louvart/Dezenove Som e Image

„Der Unterschied zwischen Rom und Brasilien liegt darin: Rom wurde von einer Demokratie zum Kaiserreich. Brasilien dagegen war ein Kaiserreich und ist jetzt eine Demokratie. Wir blicken nicht zurück, sondern in die Zukunft!“ Das sagt Maria, Lehrerin an einer Klosterschule ganz zu Beginn von Todos os Mortos, dem neuen Film der Regisseure Marco Dutra (Good manners) und Caetano Gotardo. Diese Sichtweise war Standard in der herrschenden Klasse Brasiliens am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Sklaverei war abgeschafft, ganz nach dem Motto auf der neuen Nationalflagge sollten ab nun „Ordem e Progresso“ (Ordnung und Fortschritt) regieren. Allein, das neue republikanische Verständnis Brasiliens hatte eine große Schwäche: Es war dezidiert und exklusiv weiß.

1888 hatte Brasilien als letztes Land der westlichen Hemisphäre und damit dem Zeitgeist meilenweit hinterherhinkend viel zu spät die Sklaverei abgeschafft. Die weiße Oberschicht hielt dies für eine große Errungenschaft, während sie die Ausbeutung, Diskriminierung und kulturelle Negation der Schwarzen Bevölkerung ungebremst, ja manchmal gar noch schlimmer als zuvor weiterführte. Todos os mortos begibt sich in die Familie des Kaffeebarons Soares, der sein bröckelndes Imperium soeben nach Italien weiterverkauft und seine Familie weg vom Landgut in die Stadt nach São Paulo geschickt hat. Dort geht es ihnen spätestens nach dem Tod der Hausangestellten Josefina überhaupt nicht mehr gut. Der Vater beschränkt seine Zuneigung auf immer spärlicher werdende Geld- und Kaffeesendungen und bleibt ansonsten unsichtbar und seine resolute Tochter Maria kann sich aufgrund ihrer Verpflichtungen als Nonne im Kloster auch nicht so um die Familie kümmern, wie sie will. Bleiben ihre labile und unberechenbare Schwester Ana und die gebrechliche Mutter Isabel, die beide im Grunde nicht alleine im Haus bleiben können. Also soll eine neue Hausangestellte her. Aber das ist gar nicht so einfach, denn die gesellschaftlichen Vorstellungen der Familie haben sich trotz des Endes der Sklaverei keinen Millimeter fortbewegt. Geplant ist, dass Iná, eine ehemalige Sklavin von der Kaffeeplantage, Josefinas Job übernimmt. Doch weil ihre Religion von Maria als Teufelszeug und Hokuspokus abgelehnt wird und sie zudem keine Lust hat, die dreist über das normale Arbeitspensum hinausgehenden Forderungen der Familie zu erfüllen („Wer soll mir jetzt nur die Füße waschen?“) lehnt sie dankend ab, bevor sie überhaupt gefragt wird: „Es würde mir im Traum nicht, einfallen, euch jemals um einen Gefallen zu bitten!“ Außerdem hat sie noch etwas Wichtigeres vor: Sie muss ihren Ehemann Eduardo finden, der auf der Suche nach Arbeit schon weit vor ihr nach São Paulo migriert und seit längerer Zeit verschwunden ist.

Todos os Mortos ist ein besonderer Film, weil er zwar einerseits ein stimmiges Porträt der ungleichen Gesellschaft Brasiliens an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zeigt. Auf der anderen Seite erinnert fast jeder einzelne der geschliffenen Dialoge an die aktuelle, weiterhin bestehenden Diskriminierung von Schwarzen in Brasilien und die überheblichen Privilegienansprüche der weißen Oberschicht. Auch visuell ruft der Film das mit einem brillanten Kunstgriff immer wieder ins Gedächtnis: Während innerhalb des Hauses das 19. Jahrhundert in perfekter Weise aufrecht erhalten wird, sind die Außenaufnahmen im São Paulo des 21. Jahrhunderts gedreht. Die Protagonist*innen stehen vor mit Graffiti bemalten Wänden, laufen an Baustellen vorbei, im Hintergrund sieht man die Wolkenkratzer der Metropole. Fantastisch die Szene, in der João, Inás kleiner Sohn, vor die Tür geht, um Orangen zu verkaufen. Auf der ungepflasterten Straße trifft er seinen Freund, sie diskutieren, wie man die besten Preise herausschlägt. Als sie um die Ecke biegen, ändert sich fast alles: Die Straße ist asphaltiert, Autos fahren vorbei, man hört (wie auch sonst häufig im Film) die Geräusche einer modernen Stadt. Nur eines ist gleich geblieben: Die beiden Schwarzen Jungen laufen weiter mit ihren Orangen die Straße entlang, auf der Suche nach Kund*innen.

Was Todos os Mortos so außergewöhnlich und einem zwingenden Anwärter auf den Goldenen Bären macht, erklärt Co-Regisseur Caetano Gotardo: Der Film ist zwar auch eine empowernde Promotion Schwarzer Kultur. Aber in erster Linie geht es um whiteness – also die Privilegien und Vorurteile der weißen Bevölkerung und deren Reflexion. Die findet bei Familie Soares so gut wie gar nicht statt. Vor allem kulturell werden die Bräuche afrikanischen Ursprungs exotisiert oder gar religiös verteufelt, Europa dagegen als erstrebenswert und einzige Wiege der brasilianischen Kultur propagiert. Als Ana und Isabel versuchen, João das Klavierspielen beizubringen und ihm von Europa vorzuschwärmen („Da hat alles für Brasilien angefangen!“), platzt Iná, der die Ausübung ihrer eigenen Kultur mehrfach verboten wurde, der Kragen: „Warum lassen Sie uns nicht endlich in Ruhe?!?“ Auch in weiteren Szenen wird vor allem im sozialen Umgang deutlich, wie die weißen Personen krampfhaft Stellung und Macht verteidigen, indem sie der Schwarzen Bevölkerung trotz rechtlicher Gleichstellung auf informelle Weise den Zugang zu Ressourcen verweigern. Glücklich werden zumindest die Soares im Film damit nicht: Ana driftet immer mehr in Wahnvorstellungen ab, Isabel verlässt der Lebensmut und Maria verliert die Kontrolle über die Familie, was sich am Ende des Films als fatal herausstellen wird.

Todos os Mortos ist ein Film, der schmerzlich die Versäumnisse bei der Eingliederung der Nicht-weißen Bevölkerung in die Demokratie Brasiliens aufzeigt, ohne dabei klischeehaft werden. Dass die relevante Thematik auch noch mit einer originellen Machart, glaubhaften und ambivalenten Charakteren und wunderschönen Kostümen und Ausstattungen einhergeht, macht den Film schon jetzt zu einem der absoluten Highlights der Berlinale 2020.

ZIVILE KOMPLIZ*INNEN

© Jonathan Perel

„Es ist nicht wahr, dass wir nur für bessere Löhne gekämpft haben: Wir wollten die Welt verändern und das ist es, was uns nicht verziehen wird.“ Mit diesen Worten beschreibt Carlos Leguizamón im Oktober 2014 den Kampf der Arbeiter*innen des Unternehmens Astarsa vor und während der argentinischen Militärdiktatur. Selbst Mitglied der peronistischen Arbeiterjugend, ist er als Zeuge für den Gerichtsprozess gegen neun Angeklagte der Streit- und Sicherheitskräfte geladen. Es ist der Tag des Urteils: sechs der neun Angeklagten werden wegen Entführungen und Verschwinden-Lassen in 33 Fällen verurteilt, drei werden freigesprochen. Doch die, die an diesem Tag vor Gericht stehen, sind laut Leguizamón nicht die einzigen Verantwortlichen für die Entführungen seiner ehemaligen Kolleg*innen: „Jeder normale Mensch erkennt, wenn er das alles hört, die zivile Mittäterschaft an diesen Verbrechen, dass es Listen von der Unternehmensleitung in der Armee gab, aber die Mächtigen sind immer noch zu Hause.“ Erst zwei Jahre nach dem Gerichtsurteil im Fall der Astarsa-Arbeiter*innen wird erstmals in Argentinien ein Unternehmer – Marcos Levin – wegen Komplizenschaft zu 12 Jahren Haft verurteilt.

Der argentinischen Regisseur Jonathan Perel thematisiert in seiner neuen Dokumentation die Beteiligung von Unternehmer*innen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Diktatur. Damit ordnet er sich in die schon länger voranschreitende historische Aufarbeitung ein, während die strafrechtliche Aufarbeitung nach wie vor stockt. Der Film basiert auf dem 2015 erschienenen Bericht des Ministeriums für Justiz und Menschenrechte.  Perel bleibt sich auch in dieser filmischen Aufarbeitung der Militärdiktatur treu, indem er auf die Didaktik klassischer Dokumentarfilme verzichtet. 68 Minuten lang ist die Kamera auf die zum Teil noch genutzten, zum Teil bereits leerstehenden Fabriken gerichtet. Vor deren Hintergrund liest er Ausschnitte des Berichtes vor, aus denen die Verwicklung der oberen und mittleren Hierarchieebenen in die Repression gegen die Arbeiter*innen hervorgeht.

Wie auch in seinen früheren Filmen Toponimia (2015) und 17 monumentos (2012) widmet sich Perel, selbst Sohn von Verschwundenen, in der Dokumentation den historischen Orten der Gewalt. In der Kombination der Handkamera-Totalen und dem laienhaften Vorlesen Perels wird eine große Nähe zu den Orten geschaffen, ganz so als würde man ihn auf seiner Suche nach den Verantwortlichen begleiten. Aus dem Vorgelesenen wird deutlich, dass die im Bericht genannten Unternehmen in der Diktatur nicht nur mittelbar von deren Wirtschaftspolitik profitierten, sondern auch, dass die Zerschlagung der gewerkschaftlichen Strukturen und die Errichtung eines neuen Arbeitsregimes unmittelbar Profite generierte. Dabei lief die Mittäterschaft der Unternehmensleitung immer nach dem gleichen Muster ab: Sie legte Listen mit Namen von Personen vor, deren gewerkschaftliches Engagement bekannt war oder die anders aufgefallen waren. Die Listen, teilweise mit Fotos aus den Beständen des Unternehmens, wurden an die Militärs ausgehändigt. Weiterhin sorgten die Unternehmensleitung dafür, dass die Arbeiter*innen unter fadenscheinigen Gründen von ihren Arbeitsplätzen geholt wurden. Viele von ihnen gehören weiterhin zu den Verschwundenen (desaparecidos).

Da Perel den Bericht des Ministeriums in stark gekürzter Fassung wiedergibt, verbleibt der Film auf der Ebene der Zahlen und Namen. Dadurch verlangt er seinen Zuschauer*innen nicht nur sehr viel Geduld und Aufmerksamkeit ab, sondern bricht auch mit der Darstellung der Unternehmensgeschichte als Bewegungsgeschichte, wie sie im Bericht angelegt ist. Die wechselnden Machtverhältnisse innerhalb der Betriebe vor und während der Diktatur werden im Bericht durch eine multiperspektivische Quellenzusammenstellung dokumentiert. So wird die Repression in der Kontinuität der Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital und der Verschwisterung des Militärs mit dem Kapital verstehbar. Durch die notwendige Komplexitätsreduktion des Filmes, wird die Repression während der Militärdiktatur aus der Konfliktgeschichte der Unternehmen herausgelöst. Dadurch hat die Dokumentation für Menschen, die sich nicht explizit mit der Verwicklung der Unternehmer*innen in die konkreten Verantwortungshierarchien interessieren, vermutlich seine Längen. Perels Leistung besteht maßgeblich darin, durch die gekürzten Falldarstellungen die aktive Rolle des Führungspersonals in den Menschenrechtsverletzungen herauszustellen und damit die scheinbar trennscharfe Definition von Komplizen- und Täterschaft zu hinterfragen.

RÄTSELHAFTE TÖNE

© Rei Cine SRL, Picnic Producciones SRL

Schön ist es nicht, was sich Inés da von ihrem Chorleiter anhören muss. “Ich weiß, Sopran ist deine Tonlage. Aber du musst dich auch wohlfühlen!” teilt er ihr vor versammelter Belegschaft bei der Probe ihres Frauenchors mit. Und schwupps – ist sie degradiert zum Mezzo-Sopran, ein Prestigeverlust, der durch peinliches Stühlerücken für alle sicht- und hörbar wird.

So unsensibel die Kommunikation auch gerät, verdenken kann man dem Dirigenten die Entscheidung nicht. Denn Inés (Érica Rivas, bekannt als entfesselte Braut aus “Wild Tales”) hat Probleme mit ihrer Stimme, was für sie, als professionelle Sängerin und Synchronsprecherin, potenziell existenzgefährdend ist. Seit ihr unbeholfen-übergriffiger Lover Leopoldo (Daniel Hendler) im gemeinsamen Urlaub verunglückt ist, klingen ihre Töne schief. Mehr noch, es schleichen sich Geräusche in ihre Stimme ein, deren sie sich selbst nicht bewusst ist. Ein stattliches Pensum an Pillen und Psychotherapien hat sie deswegen schon ohne Erfolg ausprobiert. Und so wird sie einer eigentlich durchgeknallt klingenden Idee der Schauspielerin Adela, die sie im Tonstudio trifft, immer zugänglicher: In ihr hat sich ein “Prófugo”, ein Eindringling eingenistet, der sie in eine ihrem Bewusstsein verborgene Parallelwelt ziehen will. Mit der Zeit gestaltet es sich für Inés fast unmöglich, Traum und Realität voneinander zu unterscheiden. Zudem wird immer klarer: Auf Hilfe von außen kann sie bei der Lösung ihrer Probleme nicht vertrauen. Auch wenn ihr die Annäherungen ihres Kollegen Alberto (überzeugend gespielt vom aufsteigenden Schauspiel-Sternchen Nahuel Pérez Biscayart) zumindest nicht ganz unangenehm zu sein scheinen.

El prófugo (Englischer Titel: The Intruder) basiert auf dem Horrorroman El mal menor (Das kleinere Übel) des argentinischen Autors C.E. Feiling. Ein klassischer Horrorstreifen ist der Film von Regisseurin Natalia Meta, die die durchaus vorhandenen Schock- und Suspensemomente dafür zu subtil und zu selten einsetzt, aber nicht. Überhaupt ist ein Genre relativ schwer zu verorten, weil der Film mehrere Bedeutungsebenen anspricht und dabei geschickt mit den Erwartungen spielt. Wer die Geschichte verstehen möchte, sollte deshalb unbedingt eine Idee von der komplexen, fantastischen Welt, in der die Romanvorlage spielt, haben. In dieser existiert neben der uns bekannten physischen auch eine körperlose, spirituelle Dimension und ein Zwischenraum des Austauschs, zu dem allerdings nur sehr wenige Menschen Zugang haben. Diese Auserwählten haben die Möglichkeit ihre Körper zu verlassen und von  anderen Besitz zu ergreifen – als Prófugos.

Es hilft, diese Ausgangssituation im Hinterkopf zu behalten, wenn man die von Rätseln und ungelösten Fragen durchzogene Handlung von El prófugo verfolgt. Da der Film aber eine eher freie Adaption des Buches darstellt und einige Interpretationsangebote macht, sind verschiedene Deutungen der Geschichte weiterhin möglich. Zum Beispiel kann der Film durchaus auch als feministisches Statement gesehen werden. Schließlich sieht Hauptdarstellerin Rivas nach eigener Aussage die Ausübung ihres Berufs als “den Platz, wo ich meinen feministischen Kampf führe” an und auch ihre Figur Inés muss gegen einige Männer und ihre Helikoptermutter Marta (Cecilia Roth) ihre unabhängige berufliche und private Existenz (keine Kinder, keine feste Partnerschaft) verteidigen. Die Darbietung des Schauspielensembles – allen voran von Érica Rivas, die sich dadurch für einen Silbernen Bären ins Gespräch bringen könnte – ist dabei zu jeder Zeit gelungen. Vergnüglich anzusehen sind vor allem die Szenen, in denen sich Inés mit Leopoldo oder ihrer Mutter kabbelt. Auch optisch und atmosphärisch gibt der meist in Blautönen gehaltene und – dem Thema angemessen –  akustisch sehr ansprechende Film einiges her. Dass der geheimnisvolle Plot mit vielen Rätseln und offenen Enden gespickt ist, ist gemein – zumindest für diejenigen, die sich vor dem Ansehen nicht mir der sehr speziellen  Realität des Romans, der ausschließlich auf Spanisch erhältlich ist, befasst haben. Diese laufen Gefahr, das Kino etwas ratlos zu verlassen. Hier hätte Regisseurin Meta ihr Publikum also gerne etwas mehr an die Hand nehmen dürfen. Denn der auf mehreren Ebenen funktionierende, vielschichtige Thriller hätte es verdient, dass so viele Zuschauer*innen wie möglich ihn auch ohne Gebrauchsanweisung in vollen Zügen genießen können. Mit El prófugo hat Lateinamerika aber trotzdem einen starken ersten Kandidaten für die Vergabe gleich mehrerer Preise im Wettbewerb der Berlinale im Rennen.

SCHLICHT UND EINFACH VERSPIELT

Die faltigen Hände zittern, als sie über das Klavier gleiten. Scheinbar orientierungslos tasten sie die Abstände zwischen den Tönen ab, rücken die vergilbten und zerfledderten Notenblätter zurecht. Doch dann bricht die Anfangssequenz von Medium die erzeugten Erwartungen: Die eben noch so müden Finger beginnen ihren Tanz über die Tasten, konzentriert und ohne Fehler führen die Hände eine perfekte Inszenierung des Intermezzo Opus 117 Nr. 3 von Brahms auf, dessen Melodien den ganzen Film begleiten werden.

Die Hände, denen die gut einstündige Dokumentation aus Argentinien eine so eindrückliche Szene widmet, gehören Margarita Fernández. Die inzwischen über 90 Jahre alte Pianistin und Künstlerin aus Buenos Aires ist eine langjährige Freundin des argentinischen Filmemachers und Autors Edgardo Cozarinsky. Dass der Regisseur die Porträtierte gut kennt, fällt bald auf: keine einleitenden Worte über Fernández, kaum biografische Bezüge oder Anekdoten. Cozarinsky konzentriert sich in Medium allein auf Margarita Fernández als Künstlerin und Vermittlerin – zwischen Film, Musik und Theater ebenso wie zwischen Jung und Alt. Historische Aufnahmen von Theater- und Musikperformances werden mit aktuellen Szenen kombiniert, die den Alltag der Pianistin zeigen. Darin wandert sie durch die Stadt und vermittelt ihren jugendlichen Schüler*innen das Werk von Komponisten aus dem 19. Jahrhundert, mit deren Persönlichkeiten sie sich intensiv auseinandergesetzt hat. Deren Musik, etwa die von Chopin oder Brahms, versteht Fernández als Quelle menschlicher Gesten.

So schön anzusehen diese intensive Beschäftigung mit der Musik auch ist, lässt Cozarinskys Dokumentation gleichzeitig zu viele interessante Aspekte von Margarita Fernández‘ Leben unerwähnt und driftet in Schlichtheit ab. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Pianistin und Filmemacher wirft Fragen auf, die filmisch nicht beantwortet werden. Cozarinskys Annäherung auf persönlicher und musikalischer Ebene sieht über die interessante Biografie der Künstlerin hinweg, ihr politisches Engagement wird nur angedeutet, über ihre Herkunft erfahren die Zuschauer*innen nichts. Die Einzelheiten ihrer musikalischen und spirituellen Auseinandersetzung mit romantischen Komponisten mögen für Freund*innen und Fans von Margarita Fernández interessant sein, für Außenstehende fehlen jedoch von Anfang an zu viele Informationen über sie als Person. Auch die zuweilen sehr inszeniert wirkenden Dialoge zwischen Pianistin und Musikschüler*innen passen zu dem künstlerisch anmutenden, aber insgesamt zu oberflächlichen Filmprojekt. Abseits der sehr gelungenen und beeindruckenden Eingangssequenz schafft Medium leider nur eine blasse Erinnerung.

EINE GÖTTLICHE DOMINA

© Gustavo Vinagre

Schlecht und gemein” heißt Vil, má auf Deutsch, aber der portugiesische Titel der Dokumentation des Brasilianers Gustavo Vinagre ist gleichzeitig auch der Vorname der Protagonistin: Wilma Azevedo, Schriftstellerin und Domina. Edivina” heißt dagegen Sie ist göttlich” und ist der bürgerliche Name vo Wilma, leidenschaftliche Mutter und Arbeiterin, die im patriarchalen brasilianischen Gesellschaftssystem für ihre Unabhängigkeit kämpft. Der Film ist in zwei Teile gegliedert, um die Geschichte dieser gespaltenen Persönlichkeit zu erzählen, spielt sich aber nur an einem Ort ab: Ein Wohnzimmer.

Im ersten Teil blickt die 74jährige Wilma Azevedo fest in die Kamera und erzählt im Laufe der folgenden 86 Minuten ihre Geschichte als Königin der Dominas und der sadomasochistischen Literatur Brasiliens. Ihre vielzähligen Anekdoten umfassen alle Elemente von BDSM-Sexualpraktiken: Bisse, Schläge, Sandpapier-Vibratoren, abgeschnürte männliche Geschlechtsteile und grüne Bananen. Die Dokumentation benutzt sparsame Kameraeinstellungen und überlässt die Hauptrolle Wilma und ihren Erzählungen, deren Anekdoten sie manchmal vergisst (einige dieser Geschichten werden von Wanda vorgelesen, einer Schauspielerin, die in einem fiktiven zukünftigen Film über Wilma mitspielt). Wilma begann ihre Karriere damit, in ihrer Rolle als Domina Zuschriften von Leser*innen erotischer Zeitschriften zu beantworten. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Zu ihren besten Zeiten bekam sie mehr als 300 Briefe von Menschen, die darin ihre Sadomaso-Fantasien gestanden. Aber Wilma beschränkte ihre Kreativität nicht nur auf den literarischen Bereich. Sie experimentierte darüber hinaus auch praktisch als Domina in einem Brasilien unter der Militärdiktatur, in dem BDSM ein verborgenes gesellschaftliches Tabu darstellte.

Im Film kommen außerdem nur wenige akustische Stilmittel vor, was den drei hörbaren Elementen, die vorkommen, ein unerwartetes Gewicht verleiht: Regen, Donner und der plötzliche Einsatz der Englischen Suite  Nº2 von Bach. Das Einsetzen des Donners ist auch der Wendepunkt der Erzählstruktur, der den zweiten Teil der Dokumentation ankündigt. Wilma verrät den Namen ihrer bürgerlichen Identität Edivina Ribeiro, die als Mädchen eine katholische Erziehung genoss, als Frau einen zehn Jahren älteren Mann heiratete, dessen Untreue sie entdeckte und die darum kämpfte, als Journalistin und Schriftstellerin zu arbeiten, um für ihre Familie zu sorgen, weil ihr Mann unter gesundheitlichen Problemen litt. Edvina erzählt von ihren sexuellen Erfahrungen seit ihrer Kindheit. In vielen davon konnte sie im Unterschied zu Wilma nichts kontrollieren, sondern befand sich im Gegensatz dazu durch männliche Fantasien in Gefahr. Beide Frauen ergänzen sich, genau wie die beiden Teile ds Films, und erlauben so der einen die Bedürfnisse der anderen zu erfüllen. Edivina erschafft Wilma und diese erlaubt wiederum Edivina, ihre sexuellen Begierden in die Tat umzusetzen.

Gustavo Vinagre geht sehr limitiert bei der Auswahl seiner Mittel für die Dokumentation vor (sparsamer Gebrauch von Archivaufnahmen, Kameraeinstellungen und akustischen Elementen). Die Entscheidung für diese audiovisuelle Gestaltung ist auch in seinen vorherigen Produktionen wiedererkennbar. Vil, má ist der dritte Dokumentarfilm einer Reihe, die er Trilogie des Ich” genannt hat und die zwei weitere Filme über Einzelpersonen einschließt: Recuerdos de las cuervas (Erinnerungen an die Raben, 2018) und La rosa azul de Novalis (Die blaue Blume von Novalis, 2019), der vergangenes Jahr im Forum der Berlinale gezeigt wurde.

In Vil, má sind die Gegenpole der Protagonistin, das Göttliche und das Gemeine, die Kontrastpunkte zwischen dem Individuum in der Gesellschaft und dessen innerer Welt. Dieser Widerspruch wurde von Edivina/Wilma aufgelöst, indem sie sich nicht den Zugang zu sich selbst verwehrte. Ganz im Gegenteil eröffnete sie dadurch beiden Frauen die Möglichkeit, zu koexistieren und sich zu entwickeln.

DOKUMENTIERTE DISTANZ

© Julia Hönemann/Zum Goldenen Lamm GmbH

Nachdem die deutsche Regisseurin Lin Sternal („Schattentänzer“, „Eismädchen“) aus der Zeitung von den Kanalbauplänen der nicaraguanischen Regierung erfahren hatte, entschloss sie sich, die Auswirkungen des geplanten Bauprojekts „El Gran Canal“ auf die lokale Bevölkerung festzuhalten. Aus diesem Entschluss ist der abendfüllende Dokumentarfilm Perro geworden, in dem das Filmteam den heranwachsenden Jugendlichen Perro begleitet. Dieser wohnt mit seiner Großmutter in einer jener Regionen des Regenwaldes, die dem Kanalbau weichen sollen.

Selten verlässt die Kamera den Protagonisten. Auf Augenhöhe folgt sie ihm auf dem Weg zur örtlichen Schule, beim Spielen am Strand und bei der Landarbeit auf der Finca seiner Großmutter. Im Laufe der Handlung entschließt sich Perro, den Hof seiner Großmutter zu verlassen und auf die weit entfernte städtische Schule zu gehen. Grund ist die vermehrte Schließung regionaler Schulen, wie die Zuschauer*innen aus dem portablen Radio erfahren. Jenes taucht hin und wieder am Bildrand auf, den einzigen Kontakt zur Außenwelt symbolisierend. Perros Entscheidung, die bedrohte Umgebung seiner Kindheit zu verlassen, bleibt dagegen ohne Worte und Bilder. Seine Gefühls- und Gedankenwelt bleibt seltsam entrückt, was wohl auch daran liegt, dass er kaum spricht. Die einzigen längeren Reden, die die Stille der Finca unterbrechen, sind die Gebete der Großmutter und Perros Bibellektüre. Diese Darstellung produziert in Kombination mit den ständigen Nahaufnahmen von Perro und seiner Großmutter, wenn sie harter körperlicher Arbeit nachgehen, ein eigenartiges Bild der lokalen Bevölkerung. Das Bild der wortkargen, bibeltreuen Regenwaldbewohner*innen, bekommt erst Risse, als Perro die „paradiesisch anmutende Lebenswelt, fernab der Zivilisation“ (Presseheft) verlässt und in der städtischen Schule auf Gleichaltrige trifft. In der Stadt gerät das Kanalbauprojekt jedoch völlig aus den Augen, erst am Ende wird erneut auf den politischen Kontext der Regierung Daniel Ortegas angespielt. Perro wird mit bedrückter Miene, geradezu verloren wirkend, in einer städtischen Menschenmenge gefilmt, im Hintergrund läuft ein sandinistisches Propagandalied. Es ist die letzte Szene des Films.

Im Film beeindrucken wiederholt die farbintensiven Landschaftsaufnahmen. Es sind mit die einzigen Momente, in denen sich die Kamera von ihrem Protagonisten löst. Das Schwelgen in der Schönheit des Regenwaldes, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Film den Anspruch verfehlt „herauszufinden, welchen Einfluss jener von außen gesteuerte Wandel auf das Innenleben [ihr]es Protagonisten hat“, wie sich die Regisseurin ausdrückt. Die Schwierigkeit den Zusammenhang zwischen dem Bauprojekt und Perros Alltag herzustellen, kann nur unzufriedenstellend mithilfe der Radioansagen gelöst werden. Eine Szene vor Perros Aufbruch in die Stadt: Im Bildvordergrund dröhnen aus dem Radio die Nachrichten über den Kanalbau und die Gegenproteste („Alle sollen auf die Straßen gehen“), während Perro im Bildhintergrund die Wiese mit der Machete mäht. Ob oder gar wie Perro die Nachrichten über den massiven Eingriff in sein Lebensumfeld aufnimmt, bleibt im Verborgenen.

In solchen Szenen wirken Perro und seine Großmutter nicht nur passiv gegenüber dem Megabauprojekt, sondern auch isoliert. Nur ein einziges Mal wird die Dorfgemeinde während eines Gottesdienstes gezeigt. Organisierung und Protest, so scheint es, finden nur weit entfernt statt, vermittelt durch die zittrige Stimme des Radiosprechers. Tatsächlich waren die Proteste der bäuerlichen, lokalen Bevölkerung (Movimiento Campesino Anticanal) die größte Mobilisierung in Nicaragua seit der Revolution (LN Nr. 514, LN Nr. 504) und trugen neben der Pleite des chinesischen Investors maßgeblich zum Stopp des Bauprojektes bei, das seit dem ersten Spatenstich auf Eis ruht.

Die Distanz zu Perro kann teilweise auf die „beobachtende“ Form der Dokumentation zurückgeführt werden. Damit läuft der Film jedoch soweit dem formulierten Anspruch entgegen, dass sich die Frage stellt, wieso diese Dokumentarform gewählt wurde. In Kombination mit klischeehaften Szenen, wie der eines blutigen Hahnenkampfes, kommt dagegen der Verdacht auf, dass dem Filmteam der „Kosmos“ ihres Protagonisten bis zum Ende genauso „fern und fremd“ blieb, wie es die Regisseurin über den Beginn ihrer Reise berichtet. Der Film hat auf der Berlinale Weltpremiere, läuft in der Sektion Generation Kplus (empfohlen ab 9 Jahren) und ist für den Berlinale Dokumentarfilmpreis nominiert.

WEIBLICHES UNIVERSUM

© Rebeca Rossato Siqueira/Rita Cine & Bomba Cine

Nach dem tragischen Unglück wird zuerst der Pool abgesperrt und notdürftig von den Blicken der Mädchen abgeschirmt. Die 12-jährige Cleo beobachtet mit ausdruckslosem Gesicht, wie zwei Handwerker die Sichtschutzwände im hinteren Teil des Gartens aufstellen. Sie scheint in einer anderen Welt zu sein, seitdem ihre kleine Schwester Erín genau dort ertrunken ist. Nach Eríns Tod dauert es Tage, bis ihre Tante und die drei Cousinen zu Cleo durchdringen, sie ablenken oder sie zum Essen bewegen können. Noch schlechter geht es ihrer Mutter, die nur noch vor dem Fernseher liegt und nicht auf Cleos Rufe reagiert.

Mamá, mamá, mamá, der Debütfilm der argentinischen Regisseurin Sol Berruezo Pichon-Rivière, spielt in einem Haus voller Frauen. In der schwierigen Phase nach Eríns Tod gesellen sich Tanten und Cousinen zu Cleo und ihrer Mutter, später auch die Großmutter. Väter oder andere Männer werden nicht erwähnt, die Handwerker im Garten sind die einzigen männlichen Personen im Film, eine Sprechrolle kommt ihnen jedoch nicht zu. Die gerade mal 24 Jahre alte Pichon-Riviére hat sich bei ihrem ersten Langfilmprojekt für eine fast ausschließlich weibliche Crew entschieden – vor wie hinter der Kamera. Zwei Schauspieler und einige Postproduzenten bilden die Ausnahme zwischen 24 Technikerinnen und 10 Schauspielerinnen. Der Film ist der erste Teil des größeren Projekts Crónica de mujeres en movimiento, „Chronik von Frauen in Bewegung“, das sich gegen die marginalisierte Rolle von Frauen in der männerdominierten Filmindustrie richtet.

Die Thematisierung und Aushandlung von Weiblichkeit erfolgt in Mamá, mamá, mamá formal und inhaltlich, explizit und implizit. Die Cousinen begleiten Cleo, jede auf ihre Art und Weise, durch die schwierige Zeit. Sie flechten sich Zöpfe, singen und tanzen zu Youtube-Videos, erzählen sich Geschichten und führen Cleo in ihre Geheimnisse und Rituale des Erwachsenwerdens ein. Diese Szenen sind im Detail und in blassen Farben aufgenommen und verschwimmen zu einer Art Polaroidaufnahme eines weiblichen Universums, in dem die gegenseitige Fürsorge das wichtigste ist. Der titelgebende Ruf nach der eigenen Mutter bleibt für Cleo jedoch lange unerwidert.

Mit gerade einmal einer Stunde Laufzeit entwirft Mamá, mamá, mamá keine echte Handlung, stellt aber in interessanter Weise eine emotionale Ausnahmesituation dar. Gerade die jungen Schauspielerinnen fallen durch ihre herausragenden Leistungen auf. Fraglich ist, ob der Film, der im Berlinale-Jugendprogramm Generation Kplus läuft und ab 11 Jahren empfohlen ist, tatsächlich so geeignet für junge Menschen ist. Erstens fehlt vielleicht gerade diesen eine lineare Handlung. Zweitens dient das Innere des Wohnhauses zwar als weiblicher Schutzraum, das Außen wird aber in jeglicher Hinsicht als Gefahr und Ort der Angst konstruiert. Die Cousinen fangen an, sich gegenseitig Gruselgeschichten von verschwindenden Mädchen erzählen – zweifelsohne eine wichtige Thematisierung der Gewalt, die Frauen* in Argentinien täglich erfahren – in der Konsequenz wird leider nur implizit angedeutet, dass starke Frauen sich gemeinsam gegen diese strukturelle Gewalt wehren können – eine explizit empowernde Botschaft bleibt leider aus. Auch die Repräsentation doch recht stereotyper Formen von Weiblichkeit in der Erziehung der Mädchen passen nicht so ganz zu einem Projekt mit dem lobenswerten und wichtigen Vorhaben, sich explizit für Geschlechtergerechtigkeit im Film einzusetzen. Der erste Schritt dorthin, nämlich zusammenzuhalten und füreinander da zu sein, erhält im Film aber eine sehr wichtige Rolle. Und vielleicht ist genau das Pichon-Riviéres wichtigste Botschaft an junge Zuschauer*innen.

VÖGEL AUF DER SUCHE

© Primo Filmes

Matias Marianis Filmdebüt Cidade Pássaro (englischer Titel: Shine your eyes) ist in doppelter Hinsicht kein typischer Film aus Brasilien. Zum einen zeigt er das Land, genauer die Stadt São Paulo, dezidiert aus der Perspektive eines Einwanderers, was im brasilianischen Kino eher die Ausnahme ist. Zum anderen erzählt der Regisseur eine so universelle Geschichte, dass sie leicht auch in anderen Städten der Welt angesiedelt sein könnte.

Amadi, ein afrikanischer Musiker, kommt in die größte Stadt Südamerikas, um seinen Bruder Ikenna zu suchen, der vor Jahren dorthin auswanderte und seit einiger Zeit unauffindbar ist. Zuhause in Nigeria wartet die Familie sehnsüchtig auf ihn. Vor allem seine Mutter hat hohe Erwartungen – als Erstgeborener soll Ikenna traditionsgemäß nach dem Tod seines Vaters Familienoberhaupt werden. In einer Aufnahme, die Amadi sich immer wieder anhört, spricht die Mutter per Telefon mit ihrem geliebten Ikenna und erklärt ihm, dass er zurückkommen müsse, weil niemand anderes seinen Platz einnehmen könne, auch Amadi nicht.

Hin- und hergerissen zwischen der Besorgnis und der Liebe zu seinem Bruder einerseits sowie geschwisterlicher Eifersucht andererseits, findet Amadi in einer schnitzeljagdartigen Spurensuche nach und nach immer mehr über das Leben seines Bruders heraus. Es beginnt ernüchternd: die Hochschule, an der er als Professor arbeiten soll, existiert gar nicht. Auch sein angebliches Haus, vom dem er seiner Familie Fotos schickte, stellt sich als Fassade heraus. Von seiner Familie hat er niemandem erzählt. Sein tatsächliches Leben bleibt lange rätselhaft: Wovor und warum ist Ikenna geflohen? Die Informationen, die Amadi zum Teil nur dank glücklicher Zufälle zusammentragen kann, folgen einem roten Faden: die Bemühungen Ikennas, sich mittels Musik, Physik und Zufallsforschung – etwa anhand von Pferdewetten – einen Reim auf für ihn grundlegende Fragen zu machen.

Dass dies einiges nicht nur mit Ikennas Verschwinden, sondern auch mit ihm und seiner Familie zu tun hat, ahnt Amadi zunächst nicht. Gleichzeitig muss er sich selbst zurechtfinden, denn Sprache und Land sind ihm fremd. Dies zeigt der Film auf einfühlsame Weise. Während Amadi anfangs so bald wie möglich seinen Auftrag erfüllen möchte, um nach Nigeria zurückkehren zu können, findet er mit der Zeit Gefallen am Leben in São Paulo. Auf diesem Weg helfen ihm verschiedene Menschen wie sein Onkel, bei dem er wohnen kann, ein Bekannter Ikennas, der Sohn eines ungarischen Einwanderers, und Emília, Ikennas brasilianische Ex-Geliebte, die Amadi schließlich Geborgenheit in der Fremde gibt. Die Orte, an die er dabei kommt, stehen stellvertretend für mögliche Stationen von neu Angekommenen: ein von afrikanischen Migrant*innen frequentiertes Einkaufszentrum, eine Herberge für Migrant*innen, ein besetztes Haus oder eine Dachterrasse, auf der man einfach nur gemeinsam Musik macht und sich entspannt.

Bevor es am Ende zur Auflösung der Fragen um Ikennas Verschwinden kommt, findet ein Perspektivwechsel statt: Der Blick eines Rätselnden weicht bei Amadi – und mit ihm den Zuschauer*innen – dem eines Verstehenden, im Hinblick auf Ikenna im Besonderen und die neue Umgebung im Allgemeinen.

Cidade Pássaro ist ein Film über die Suche nach sich selbst. Die Lebenswirklichkeit und Kultur einer Migrant*innen-Community – hier der nigerianischen Igbo – im Spannungsfeld einerseits des Umgangs mit positiven und negativen Seiten von Tradition und andererseits der Suche nach einer neuen Identität ist dafür ein passendes Umfeld. Die große, anonyme, chaotische Metropole São Paulo mit ihren Betonlandschaften ist dafür eine geeignete Bühne, wenn nicht gar eine weitere Hauptdarstellerin. Und die titelgebenden Vögel – immer wieder in Details wie einem Kinderlied oder einem Fenster präsent – ein schönes Motiv.

VERDREHT

© POETASTROS

„Zu viel Denken ist schlecht“ heißt es zu Beginn von EL TANGO DEL VIUDO. Und anfangs scheint viel Denken auch nicht nötig zu sein, um der Handlung des Films zu folgen: Professor Iriarte Gossens ist Witwer, seine Frau María hat sich umgebracht, nun lebt er zusammen mit seinem Neffen Joaquín einen Alltag zwischen der Herstellung nicht weiter erläuterter Flüssigkeiten, Wäschewaschen und Buchlektüre im Santiago der 1960er Jahre. Aufnahmen von alltäglichen Straßenszenen sind selten, die Kamera konzentriert sich vielmehr auf Details und Innenräume. Es wird schnell klar: Im Kopf des Professors ist nichts mehr normal. „Ich will nicht“, raunt er jedes Mal vor sich hin, wenn ihm seine verstorbene Frau erscheint – kichernd unter dem Mittagstisch, in Form einer über dem Boden schwebenden Perücke oder als ein Lachen unter dem Bett. Als seine fiebrigen Zustände immer schlimmer werden, macht sich ein befreundetes Ehepaar Sorgen. Es brauche eine neue Frau für den Professor, meint er; „wir Frauen sind keine Schlaftabletten“, meint sie und knipst das Licht aus.

In diesem Setting entwickelt sich die Handlung des Filmprojektes, das der chilenische Regisseur Raúl Ruiz unter dem Titel des gleichnamigen Neruda-Gedichts entworfen hat und dessen eigene Geschichte schon spannend genug ist: 1967 auf 16mm-Film gedreht und später auf 35mm kopiert, gerät EL TANGO DEL VIUDO wegen fehlender finanzieller Mittel für die Tonproduktion in Vergessenheit. Raúl Ruiz selbst geht nach dem Putsch 1973 ins französische Exil und wird mit Genealogien eines Verbrechens und der Proust-Verfilmung Die wiedergefundene Zeit international bekannt. Nie mehr wird er Gelegenheit oder Muße finden, seinen ersten Langfilm zu beenden.

Als Ruiz 2011 verstirbt, beschäftigt sich die Filmemacherin Valeria Sarmiento – seine Witwe – mehr und mehr mit seinem Frühwerk. Fünf Jahre später finden sie und ihr Team die Filmrollen von EL TANGO DEL VIUDO im Keller eines Theaters in Santiago. Sie produziert eine komplett neue Tonspur, lässt bekannte chilenischen Schauspieler*innen, darunter Sergio Hernández (Una mujer fantástica), dafür einsprechen und macht Jorge Arriagada für die Musik zuständig – eine exzellente Wahl, wie von Anfang an auffällt.

Die aufwendige Postproduktion, die 53 Jahre nach dem Dreh für das Berlinale Forum beendet wurde, schließt mit einem Zusatz für den Titel: EL TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante – „Der Tango des Witwers und sein verformender Spiegel“. Sehr treffend, ist doch das Produkt der Arbeit von Ruiz und Sarmiento ein Spiel mit der Zeit, welches die Grenzen zwischen Wahrheit und Wahn allmählich verlaufen lässt. Weite Teile der Handlung werden verzerrt und lassen sich auf einmal in Frage stellen – die Umstände des Todes von Professor Iriartes Ehefrau María inbegriffen. Die Geschichte dreht sich um sich selbst, kehrt sich um, verwirrt und beeindruckt zugleich. Schwer zu sagen, was der verstorbene Raúl Ruiz von seinem nun vollendeten Film gehalten hätte – Zuschauer*innen lässt der Streifen jedenfalls begeistert, wenn auch mit dem Gefühl, nicht ganz durchgeblickt zu haben, zurück. Doch, wie uns der Film lehrt: Zu viel Denken ist schlecht. Nach einer Stunde guter Unterhaltung und Verblüffung darüber, welche Geschichten Film schreiben kann, bleibt EL TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante sicher als etwas ganz Besonderes in Erinnerung.

CHILE IM FOKUS UND OHNE SCHUTZ

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Am Freitagabend, dem 27. Dezember 2019, füllte sich unser Herz mit dem Feuer der Hoffnungslosigkeit. Die chilenische Polizei setzte das historische Cine Arte Alameda („Kunstkino Alameda”) im Zentrum von Santiago durch eine Tränengasbombe, die sie auf das Dach schoss und die einen unkontrollierten Brand auslöste, in Flammen. Wir alle, die wir uns über zwanzig Jahre lang an diesem Ort getroffen und Filme gesehen hatten, standen entsetzt vor seinen Trümmern und dem komplett verbrannten Kinosaal.

In der gleichen Nacht, wenige Stunden später und nur einige Meter vom Kino entfernt, ertrank Mauricio Fredes in einem Graben, in den er vor einem Wasserwerfer fliehend  fiel. An diesem finsteren Freitag erkannten wir Chilen*innen so klar wie nie zuvor etwas, das wir bereits geahnt hatten: Dass es für uns keinen Schutz mehr vor Sebastián Piñeras Regierung gab. Während die Feuerwehrleute im Theater das Feuer löschten, mussten die Sanitäter*innen der Gesundheitsbrigaden, die in der Eingangshalle seit die Proteste begonnen hatten Verletzte versorgten, die Verwundeten ins Freie auf die mit Tränengas gefüllte Straße der Allee Alameda  bringen, wo die Polizei weiter mit Schrotkugeln auf die Anlage feuerte. Wie mir eine der Sanitäterinnen erzählte, verfehlte eine Kugel nur knapp ihr Gesicht, während sie gerade dabei war, einen verwundeten Jugendlichen zu versorgen.

Das Kino ist nicht nur ein Zufluchtsort für Filmliebhaber, die durch die auf die Leinwand projizierten Bilder in eine andere Welt eintauchen können, sondern auch weil seine Räumlichkeiten Treffpunkt, Mitbestimmungsort und Ort der Inklusion für alle diejenigen von uns sein können, die sich fremd in einem System fühlen, das uns ausbeutet und vergisst. Das ist das Cine Arte Alameda, ein Schutzraum für queere Menschen, Punks, Filmliebhaber*innen, wie auch für die Gesundheitsbrigaden, die auf der Straße die Rache der Polizei fürchten mussten.

Auf der anderen Seite der Welt ist die Berlinale immer einer der hoch geschätzten Schutzorte für Filmemacher*innen und Produzent*innen, die auf der ganzen Welt gegen solche und ähnliche Gewalttaten kämpfen, gewesen. So habe ich mich gefühlt, als ich 2016 dort in der Sektion Panorama mit Nunca vas a estar sólo („Du wirst nie allein sein”) von Regisseur Alex Anwandter Premiere feiern durfte. Der Film handelt davon, wie ein schwuler junger Mann in seinem Wohnviertel brutal zusammengeschlagen wird und zeigt die frenetische Suche nach Gerechtigkeit durch seinen Vater, der die hohen Krankenhauskosten nicht begleichen kann. Der Film gewann in diesem Jahr den “Teddy Jury Award” der Berlinale, in der gleichen Nacht, in der einer Trans*-Jugendlichen in einem anderen Armenviertel in Santiago de Chile durch Überschütten mit Säure das Gesicht verätzt wurde. Gegen diese Gewalt arbeiten wir und gegen diese Gewalt kommen wir zusammen.

Nach über hundert Tagen des Protests, 35 Toten, 25.000 Verhafteten, 400 an den Augen verletzten Personen und von der Polizei gefolterten Kindern und Jugendlichen, sind wir immer noch da. Wir stehen auf den Plätzen und schreien nach Würde, nach einem Leben, das es sich lohnt, zu leben, mit einer neuen Verfassung, die uns Chilen*innen eine neue Form der Verständigung erlaubt.

Obwohl dieses Jahr auf dem Festival besonders wichtig für unser Land ist, bleiben einige von uns zu Hause in Chile, um für die Kampagne für die Annahme einer neuen Verfassung zu arbeiten, die in einer verfassunggebenden Versammlung zu 100% von aus der Bevölkerung gewählten Bürger*innen geschrieben werden wird. Wir bleiben in Chile, damit diese neue Carta Magna auch als erste auf der ganzen Welt paritätisch geschrieben wird, damit sie anders ist, damit diese  Gewalt gegen unsere prekarisierten Körper und Lebensweisen aufhört.

Aber während ein paar von uns von uns zu Hause bleiben, um an einem besseren Land zu arbeiten, werden viele zur Berlinale reisen, denn Chile ist 2020 das “Land im Fokus” des Europäischen Film Markets 2020. Einige cineastische Kämpfer*innen für diese Prinzipien kommen in eure Stadt, aber auch Vertreter*innen des Ministeriums für Kunst und Kultur der Regierung von Sebastián Piñera, darunter die Ministerin Consuela Valdés und der stellvertretende Staatssekretär für Kultur, Juan Carlos Silva, die sich im Angesicht all dieser Gewalt in Schweigen gehüllt haben. Noch schlimmer, sie haben öffentlich die Politiker*innen die für ihre Ausführung verantwortlich waren, verteidigt, wie den früheren Innenminister Andrés Chadwick, der kürzlich vom Parlament wegen seiner politischen Verantwortung für die  Menschenrechtsverletzungen abgesetzt wurde. Kein Wort der Verteidigung oder der Unterstützung haben sie für die Künstler*innen geäußert, die ihr Augenlicht verloren haben, wie die in der Neujahrsnacht am Auge verletzte Fotografin und Videokünstlerin Nicole Kramm und sicherlich wird auch niemand bei den Veranstaltungen des EFM etwas dazu sagen.

Ja, das Gastland Chile hat eine Regierung, die die Menschenrechte verletzt, wie mehrere Berichte der UN, von Human Rights Watch, Amnesty International, der CIDH und weiterer Organisationen verdeutlichen. Diese Politiker*innen sind es, die das Treffen der Filmindustrie auf der Berlinale eröffnen werden, ein Festival, das nach den Prinzipien des Rechts auf ein Leben in Frieden, Pluralismus und gegenseitigem Respekt ausgerichtet ist.

Daher bitte ich Euch, Berliner*innen, dass ihr uns helft. Kommt und protestiert vor dem Martin-Gropius-Bau, ruft eure Abgeordneten an und helft uns laut und klar zu fordern: „Nie wieder!”, denn diese Botschaft gegen den Faschismus hallt in euren Straßen genauso laut wieder wie in unseren, weil ich sicher bin, dass euer Kampf auch unserer ist.  In diesen Tagen brauchen wir eure internationale Solidarität. Lasst uns nicht allein bei unserer Suche nach neuen Schutzorten vor dieser unkontrollierten polizeilichen Gewalt. Wir brauchen neue Verbündete gegen die Straflosigkeit und wir hoffen, dass das Kino weiterhin eine*r von ihnen bleibt.

CHILE EN FOCO Y SIN REFUGIOS

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

La tarde del viernes 27 de Diciembre del año recién pasado nuestro corazón se incendió de
desesperanza. La policía chilena quemó el histórico Cine Arte Alameda, en pleno centro de
Santiago, luego de lanzar una bomba lacrimógena sobre su techo que inició un fuego
descontrolado. Todos quienes habíamos visto películas y reunido allí por más de 20 años nos detuvimos atemorizados frente a las cenizas del lugar, su sala de cine completamente destruida.
Esa misma noche y solo unas horas más tarde, a unos metros del cine, Mauricio Fredes murió ahogado en una fosa por efecto del carro lanza aguas. Ese viernes oscuro los chilenos vimos con más claridad que nunca algo que no queríamos creer : no nos quedan refugios frente al Gobierno de Sebastián Piñera. A medida que los bomberos apagaban el fuego, las paramédicas de las brigadas de salud, quienes habían estado atendiendo en el hall del cine desde que comenzó la revuelta en Octubre, tuvieron que llevar a los heridos hacia afuera, en medio del gas lacrimógeno y los balines de metal que la policía seguía disparando desde la calle hacia las instalaciones. Una de las paramédicas me relató que uno de los balines pasó justo al lado de su cara mientras protegía a uno de sus adolescentes heridos.
El cine es un refugio no sólo para los amantes del cine, que pueden imaginar un mundo distinto en las imágenes proyectadas sobre la pantalla, si no también porque sus espacios físicos tienen la capacidad de ser lugares de encuentro, de participación, de inclusión para todos aquellos que nos sentimos ajenos a un sistema que nos explota y nos olvida. Eso es el Cine Arte Alameda, un refugio queer, punk, cinéfilo, y también un refugio para las brigadas de salud, amedrentadas con venganza en las calles por la policía.
Al otro lado del mundo, la Berlinale ha sido uno de esos preciados refugios para tantos cineastas y productores que luchan contra estas violencias alrededor del mundo. Así lo sentí cuando el 2016 llegué a estrenar en Panorama “Nunca vas a estar solo”, un film dirigido por Alex Anwandter que retrata la brutal golpiza que un joven gay recibe en su barrio y la frenética búsqueda por justicia que su padre debe emprender al no poder pagar las cuentas del hospital. Nuestra película ganó el Teddy Jury Award ese año, la misma noche que una joven trans fue quemada con ácido en su cara en otro barrio pobre de Santiago. Contra esa violencia nos cansamos y nos unimos. Después de más de 100 días de protesta, de 35 personas muertas, 30.000 detenidos, 400 heridas oculares, de niños y niñas torturados por la policía, seguimos acá, en la plazas pidiendo dignidad, pidiendo una vida que valga la pena vivir, una constitución que nos permita entendernos de una nueva forma.
A pesar de ser un importante año para nuestro país en el festival varios nos quedamos en Chile, haciendo campaña para que podamos ganar el Apruebo una Nueva Constitución, escrita 100% por ciudadanos electos por el pueblo, en una Convención Constitucional. Nos quedamos en Chile para que esa nueva carta magna sea escrita de forma paritaria por primera vez en el mundo, para que sea disidente, para que termine esta violencia contra nuestros cuerpos y vidas precarizadas.
Mientras algunos nos quedamos trabajando por un país más justo muchos viajarán a la Berlinale, pues Chile es el País en Foco del European Film Market 2020. Algunos cineastas luchadores de estos mismos principios llegarán a su ciudad, pero también representantes del Ministerio de las Culturas y las Artes del gobierno de Sebastián Piñera, como el Subsecretario de las Culturas, Juan Carlos Silva, quienes han guardado silencio luego de toda esta violencia. Peor aún, públicamente han defendido a los políticos a cargo de ejercerla, como defendieron al ex Ministro del Interior Andrés Chadwick, quien terminó destituido en el Congreso por su responsabilidad en las violaciones a DDHH. Ninguna palabra de defensa o apoyo han dicho por los artistas que han perdido su visión como Nicole Kramm, audiovisual y fotógrafa herida en un ojo la noche de Año
Nuevo y seguramente ninguna dirán en los eventos del EFM.
Sí, Chile país en foco tiene un gobierno violador de los derechos humanos según constan en los serios informes elaborados por la ONU, Human Rights Watch, Amnistía Internacional, CIDH, entre otros. Esos políticos serán quienes abran el encuentro de industria de la Berlinale, un festival orientado precisamente en torno al derecho de vivir en paz, del respeto y del pluralismo.
Por eso les pido, Berlineses, que nos ayuden. Vayan y protesten en las afueras del Martin Gropius Bau, llamen a sus representantes, ayúdennos a pedir fuerte y claro ‘Nunca Más’, porque esa frase contra el fascismo resuena tan fuerte en sus calles como las nuestras, porque estoy segura que nuestra lucha es la misma. Es en estos días que necesitamos de su solidaridad internacional. No nos dejen solos pues buscamos nuevos refugios frente a esta violencia descontrolada, necesitamos nuevos aliados contra esta impunidad y esperamos que el cine siga siendo uno de ellos.

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