Subtil und zärtlich

© Betania Cappato & Iván Fund

Eine Frau untersucht Fische in ihrem Labor. Mal von ihr umarmt, mal an ihrer Seite, begleitet sie ein Mädchen, das aufmerksam und still jede ihrer Bewegungen beobachtet. Die Frau ist Julia (Mara Bestelli) und das Mädchen ist ihre Tochter Ema (Clementina Folme).

Ema ist im Alter, in dem sie eingeschult werden sollte. Verschiedene Schulen lehnen sie jedoch ab. Alle bis auf eine. Eine kleine, einfache Schule, die in Cerro Hueso, einem Ort am Ufer des Flusses Paraná, einige Kilometer von Santa Fé entfernt, liegt. Und so verlassen Ema und ihre Eltern Julia und Antonio (Pablo Seijo) die Stadt, um sich am Flussufer einzurichten.

Una escuela en Cerro Hueso, inszeniert von der argentinischen Regisseurin Betania Cappato, basiert auf einer wahren Geschichte. Emas Figur ist inspiriert vom Bruder der Regisseurin und Drehbuchautorin Betania Cappato, bei dem als Kind autistische Züge diagnostiziert wurden. Dieser Hinweis auf den biografischen Charakter des Films geschieht nicht in der Absicht, den Parallelen zwischen Fiktion Realität auf den Grund zu gehen. Vielmehr soll er die Genauigkeit und das Einfühlungsvermögen hervorheben, mit der Cappato die Figur der Ema entwirft. Im Film wird die spezielle Situation des Mädchens zu keinem Zeitpunkt explizit benannt, sondern sie zeigt sich in fragmentierter Form, in der Aneinanderreihung von Details. So wie im zwanghaften Umfahren des Randes von Gegenständen, dem Hin- und Herlaufen von einer Seite des Raumes zur anderen, der Schwierigkeit, sich anzuziehen oder in der Tendenz, die Handlungen anderer nachzuahmen. Es sind ihre Obsessionen und Verhaltensweisen, die zu verstehen geben, dass wir es mit einem Menschen zu tun haben, der die Welt auf andere Weise wahrnimmt. Das, und ihr Schweigen.

In Una escuela en Cerro Hueso ist Schweigen Gold. In vielen Szenen hört man nur  die Geräusche der Natur, vor allem des Wassers, das eines der Hauptmotive der Geschichte ist. Denn die Verschmutzung des Flusses und die Wasserprivatisierung sind als Themen omnipräsent. Eine subtiler politische Fingerzeig und ein strukturierendes Element der Erzählung. Denn im Sterben einiger Fischarten und im Überleben anderer spiegelt sich die Geschichte von Ema und ihrer Familie, in einem erzählerischen Raum, der als Tragödie zu beginnen scheint und mit einem Fest endet.

Es gibt nicht allzu viele Dialoge im Film, dafür aber umso mehr Gesten. Denn Ema spricht nicht. Nicht mit ihren Lehrerinnen, nicht mit ihren Freund*innen in der Schule, nicht mit ihren Eltern Julia und Antonio. Die leiden darunter, aber auch das wortlos. Nur ihre Augen verraten Kummer und Verzweiflung. Oder Freude, denn trotz allem gibt es im Film mehrere helle Momente, die Hoffnung schenken.

© Betania Cappato & Iván Fund

Bei Ema bemisst sich der Weg von der totalen Entfremdung zum Glücklichsein in ihrem Lächeln. Auf diesem Weg spielen ihre Lehrerinnen und Klassenkamerad*innen in der Schule, vor allem Irene (Irene Zequín), eine entscheidende Rolle. Das Verhalten der Kinder ist vielleicht einer der berührendsten Aspekte des Films. Cappato gelingt es, die Unschuld, Unkompliziertheit und die Zärtlichkeit einzufangen, die so nur Kinder haben können. Man könnte einwerfen, dass der Blick darauf, wie die Kinder mit bestimmten Situationen umgehen, ein idealisierter ist. Dennoch ist die Warmherzigkeit, mit der sie sich Ema nähern und Unverständnis und Verlorenheit in liebevolle Gesten verwandeln, unbestreitbar bezwingend.

Ema ist nicht die einzige, die in Cerro Hueso den Ausweg aus einer schwierigen Situation findet. Für Julia und Antonio ist die Unterstützung und das Engagement der  Gemeindemitglieder sehr wichtig für die Eingewöhnung im Ort und den neuen Lebensabschnitt, den sie beginnen müssen. Die bestehende Solidarität und Gemeinschaft unter den Bewohner*innen ist ein anderer wesentlicher Aspekt.

In Una escuela en Cerro Hueso behandelt Betina Cappato ein komplexes und schmerzvolles Thema mit extremem Feingefühl und Sensibilität und taucht so mit uns in Emas Universum ein, in ihre Art, die Welt zu sehen. Ohne Zweifel ist dieser Film eine der großen Entdeckungen der diesjährigen Berlinale-Sektion Generation und wurde deshalb auch zu Recht von der Jury mit einer lobenden Erwähnung bedacht.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

BOLIVAR, BIST DU DA?

Fotoquelle: Pablo Alvarez Mesa

Eine Off-Stimme beschwört Simón Bolívar. Schummriges Kerzenlicht flackert, um die Erinnerung an den Befreier Amerikas zurückkehren zu lassen. Und wie um bewusst zu machen, dass sein Kampf trotz der alljährlichen Feier der Unabhängigkeit Kolumbiens an jedem 20. Juli zu einer Reliquie geworden ist:  Verkörpert durch Militärparaden und endlose Staatsakte, bei denen die Flagge gehisst und die Nationalhymne gesungen wird.

Diese Szenen zeigt Pablo Álvarez Mesas Film Bicentenario, eine audiovisuellen Studie im Dokumentarstil, die auf der Berlinale 2021 im Kurzfilmprogramm #3 des Forum Expanded läuft. Bicentenario besteht aus einer Reihe von Aufnahmen, die bei verschiedenen Feiern zum zweihundertsten Jubiläum der Unabhängigkeit vom Kolonialismus entlang der Unabhängigkeitsroute von Simón Bolívar in Kolumbien entstanden sind. Eine langsame Serie von Bildern mit wenig Anmut und ohne roten Faden, abgesehen von einer Sitzung mit einer Spiritistin, die versucht, Bolívar im Jenseits zu kontaktieren. Doch dieser audiovisuelle Einblick öffnet, wie auch die Spiritistin im Film, eine Tür zum Dialog mit der Geschichte und der Realität.

Szenen von Schulaufführungen, die immer wieder den Kampf zwischen Kreol*innen und Spanier*innen um die Vase von Llorente nachstellen (Auslöser des kolumbianischen Unabhängigkeitskampfes), sowie die Reden von der Größe des Vaterlandes und die Prozessionen zum Denkmal in Tunja zum Gedenken an den Sieg der Brücke von Boyacá, kontrastieren mit Sequenzen von Panzern, die bei der militärischen Rückeroberung des Justizpalasts nach dem Einfall der Guerilla M-19 im Jahr 1985 ins Gebäude einfahren. Zeitungsberichte aus dieser Zeit schildern die verbrecherische Reaktion des Staates, die Hunderte von Toten, Verwundeten und Verschwundenen hinterließ.

Es folgen Aufnahmen von zwei Soldaten bei den Zweihundertjahrfeiern. Gefragt, was er nach seinem Wehrdienst machen möchte, sagt einer der jungen Männer, er wolle „eine militärische Laufbahn einschlagen, um mein Land vor dem Feind zu verteidigen.” Wie viele andere, die jung, chancenlos und ohne Zukunft sind, gibt er so den offiziell-militärischen Diskurs eines zu beseitigenden inneren Feindes wieder, der sie letztlich für den Staat selbst sind: Arme Soldat*innen, die den Befehl erhalten, andere arme, meist junge Menschen zu töten, die zwischen Hunger, Rebellion und Illegalität hin- und hergerissen sind. Eine gewaltsame Unterdrückung durch ein Land, das auch heute noch kolonial ist und diese durch die Unterdrückten selbst ausübt. Sie predigen die sogenannte „Doktrin des Feindes“ und sind dennoch meist die ersten, die dem Regime des Elends und der Ignoranz unterworfen werden.

Offensichtlich wird so der Kontrast zwischen einem Alltag, in dem die einfachen Bürger*innen einem prekären Leben ausgesetzt sind, und jenem nationalen Diskurs, mit dem ihnen die Idee verkauft wird, dass sie frei sind und für ihr Land und ihre Ehre kämpfen müssen. Ein Kontrast zwischen dem Ruhm der Unabhängigkeit und der Realität, die einem Schicksal unterworfen ist, das von den wirklichen Besitzer*innen des Landes diktiert wird. Diejenigen, die selbstverständlich niemals eine regionale Integration oder die Konsolidierung des bolivarischen Traums zulassen würden.

Fotoquelle: Pablo Alvarez Mesa

Zweifellos veranschaulicht Bicentenario die katastrophalen Folgen einer mumifizierten, von der Realität abgekoppelten Erinnerung, einer Erinnerung, die von inhaltsleeren historischen Details genährt wird und die tiefen Brüche seit dem 15.  Jahrhundert unberührt lässt. Eine Erinnerung, die nicht die Verbindungslinien zwischen dem spanischen Joch während der Kolonialzeit, dem neokolonialen Finanzjoch der Weltbank oder dem wirtschaftlichen und kulturellen Joch in Form von internationalen Kooperationsabkommen oder Freihandelsverträgen mit den USA oder Europa zieht.

Kolumbien ist so zum Dampfkochtopf geworden, der von Zeit zu Zeit explodiert, verzweifelnd an seinen zunehmend unhaltbaren Widersprüchen, die auch die Rhetorik der Treue zur Fahne und der nationalen Größe nicht auflösen wird. Die unaufhaltsame Flut von Empörung, die man heute, im Jahr 2021, auf den Straßen im ganzen Land wuchern sieht, scheint diesmal stark genug zu sein, die Geschichte umzuschreiben. Und damit ein Land endlich zu ändern, das enteignet geboren wurde und das, wie in so vielen Episoden der nationalen Geschichte, weiterhin eine Jugend bluten lässt, die nichts mehr zu verlieren hat.

Den Kontrast zwischen dem verklärt-musealen Historienbild der herrschenden Elite und den aktuellen, realen Forderungen und Bedürfnissen der kolumbianischen Bevölkerung führt Bicentenario aktueller denn je vor Augen. So müssen momentan diejenigen, die den Tod des libertären Kampfes in Kolumbien für selbstverständlich hielten, dabei zusehen, wie „das Schwert Bolivars wieder durch Lateinamerika wandert“, wie es in vielen regionalen Protesten momentan als Parole gesungen wird. Damit die Geschichte sich nicht mehr nur als bloße Fabel wiederholt, oder als weltfremdes Narrativ erzählt wird, weit entfernt von der aktuellen kolumbianischen Realität von Hunger und Schmerz.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

„Unser Film ist eine kollektive Katharsis“

Anne, wie war die Erfahrung, zum ersten Mal im Leben in einem Kinofilm mitzuspielen?

Anne Celestino: Durch die Erfahrung, zum ersten Mal als professionelle Schauspielerin vor der Kamera zu stehen, habe ich entdeckt, dass ich den Rest meines Lebens als Schauspielerin arbeiten möchte. Ich schauspielerte und wusste plötzlich, was ich beruflich machen möchte. Für den Filmdreh bin ich jeden Morgen früh aufgestanden, aber es war nicht anstrengend – es war richtig cool, witzig und eine besondere Erfahrung. Deswegen studiere ich jetzt an einer Schauspiel-Hochschule in Recife. Zurzeit spiele ich in verschiedenen kleinen Theaterstücken an meiner Fakultät.

Was war die lustigste Szene, die Sie in Alice Júnior gespielt haben?

Anne Celestino: Eine Szene, in einem Tretboot wo meine Kollegin Thais Schier (Filmrolle Vivianne) mich interviewt. Thais Schier ist sehr witzig. Bei dieser Szene durfte sie improvisieren und wir haben uns einfach nur totgelacht.

Bei der Filmpremiere hatten Sie erwähnt, dass durch die Erfahrungen von Anne als Trans-Mädchen in ihrem Privatleben das Drehbuch die Richtung geändert hat.

Gil Baroni: Tatsächlich ist das Drehbuch, das sehr gut von Luiz Bertazzo geschrieben wurde, die Grundlage des Films, die Hauptstruktur. Als ich Anne kennengelernt habe, entschied ich sofort “sie ist es”. Wir sind von Recife nach Curitiba abgetaucht und blieben dort für 9 Tage. Damals war Anne erst 17 Jahre alt. Als erstes führte ich ein Interview mit ihr. Das Interview war sehr emotional. Als ich anfing, ihr Fragen zu stellen, klärte sie mich auf, dass man solche Fragen einer Transgender-Person nicht stellen darf bzw. sollte.

In diesem Moment bemerkte ich: Obwohl wir sie in eine bestimmte Richtung führen wollten, war sie es, die uns zog – das Drehbuch richtete sich neu aus. Die Szenen mit Anne sind sehr spezifisch, sie haben mich tief beeindruckt. Von Anfang an bis heute lerne ich sehr viel von diesem jungen Geschöpf – ich bin nicht mehr so jung (lacht).

Anne, gab es in Ihrer Schauspielkarriere eine Begegnung oder eine Person, die Sie am meisten inspiriert oder geprägt hat?

Celestino: Ja, Renata Carvalho, die Jesus in dem Theaterstück “O Evangelho Segundo Jesus Cristo, Rainha do Céu darstellt. In diesem Stück ist Jesus ein Transvestit. Ich denke, dass sie als Schauspielerin mein Idol ist. Sie war auch auf der Berlinale, ich bin ihr begegnet; Sie hat Paula in dem Film “Vento Seco” dargestellt.

Baroni: Renata Carvalho ist eine starke, kämpferische Künstlerin. Wegen dieses Theaterstücks gab es viele Kontroversen, es wurde in Brasilien sogar verboten.

Konnten Sie nach Ihrer Rolle als Alice eine Veränderung im Umgang mit Ihnen als Trans-Person wahrnehmen bzw. gab es danach weniger oder mehr Diskriminierung?

Celestino: Nach dem Film hat sich etwas geändert, nämlich meine Sichtbarkeit meiner Person. Die ist jetzt etwas größer als vorher, aber nur etwas, da der Film noch nicht zum Vertrieb freigegeben wurde. In Recife konnte ich eine Veränderung in meinem Familien-und Bekanntenkreis wahrnehmen: Bei meinem Vater, meinen Freunden und meinen Mitstudierenden. Die größte Unterstützung war die Sichtbarkeit als Transfrau.

Baroni: Zur Zeit ist es die größte Herausforderung, den Film in die Kinosäle zu bringen und die Reaktion der Zuschauer zu sehen.

Sie sind Bloggerin und Aktivistin, die sich für das Thema Transsexualität einsetzt. Wie schätzen Sie Ihren Einfluss auf die Gesellschaft ein?

Celestino: Ich habe einen YouTube-Kanal und einen Blog. Ich denke, dass mein Blog und mein YouTube-Kanal sehr vielen jungen Trans-Personen geholfen hat und auch Familien von Betroffenen oder Menschen, die sich allgemein über das Thema informieren wollen. Was bedeutet es, transgender zu sein? Wie werden diese Personen im Bildungswesen behandelt? Wie z. B. in der Schule oder Universität? Auch im Gesundheitswesen, z. B. im Krankenhaus. Ich denke, dass ich im Sinne von Information und Sensibilisierung den Menschen geholfen habe.

Haben Sie in ihrer Heimatstadt Recife eigene Kampagnen oder weitere Projekte geschaffen?

Celestino: Ich habe an Demonstrationen teilgenommen, aber eigene Projekte habe ich nicht gegründet. Abgesehen von dem Vlog Transtornada und meinem Blog.

Baroni: Dazu möchte ich gerne etwas sagen. Anne ist die Erschafferin von Alice Júnior. Der ganze Film hat eine Intention, es ist ein didaktischer Film, eine Form von Aktivismus. Anne hat den Film mit ihren persönlichen Erfahrungen bereichert und dem Film die endgültige Struktur gegeben. Obwohl Luis und ich uns gut mit der LGBTQ-Szene auskennen, sind wir CIS, somit war das “T” in LGBTQ ein Thema womit wir uns nicht auskannten. Erst durch Anne hat sich das eigentliche Drehbuch mit authentischen Erfahrungen vermischt. Somit war Anne eine Produzentin und Aktivistin.

Celestino: Genau, Alice Júnior ist auch mein Projekt!

Auch die Besetzung anderer Schauspieler*innen des Films ist ungewöhnlich. Wie kamen Sie zum Beispiel auf die Idee, die Rolle von Alices Vater Ihrem Freund Emmanuel zu geben?

Baroni: Emmanuel war noch nie in seinem Leben als Schauspieler tätig. Im bürgerlichen Leben ist er ein Franzose, der in Brasilien Englischlehrer ist. Als ich ihm die Rolle anbot, dachte er, es sei ein Witz,. Es war folgendermaßen: Als wir wussten, dass Alices Vater ein Franzose sein sollte, sagte ich: “Ich habe einen franszösischen Freund und er hat auch einen französischen Akzent, er wäre perfekt für die Rolle.” Es wäre nicht gut gewesen, einen brasilianischen Schauspieler zu nehmen, der einen französischen Akzent nachahmt, das ist uncool, nicht authentisch. Also habe ich ihn eingeladen und gesagt: “In meinem aktuellen Film gibt es eine Rolle für dich, du wirst Jean Genet sein. Du musst gar nichts machen. Du musst nur dich selbst spielen”. Im Film ist er wirklich wie in seinem Privatleben – ganz ruhig und gelassen. Er hat uns sogar bei den Filmvorbereitungen geholfen. Auch er konnte über das Thema Transsexualität viel lernen. In den Momenten wo Emmanuel seine Rolle spielt, brachte er eine schöne Energie ans Filmset, insbesondere weil er unser Freund ist.

Ich würde gerne mehr über die Musikauswahl erfahren. Abgesehen von der Funk-Musik von Trans-Künstlern, warum haben Sie Musik von Karina Buhr gewählt?

Gil: Es war uns sehr wichtig, das Thema Solidarität und Diversity auch in der Musik zu zeigen. Karina Buhr ist aus Recife, ihr Hauptgenre ist der Manguebeat, ein Rhythmus, der in Recife erfunden wurde. Ich mag ihr Album. Als wir die erste Musikauswahl trafen, dachte ich: “Wir benötigen unbedingt Sängerinnen aus Recife.” Mit der Musikauswahl wollten wir auch die Identität der Rolle von Alice bzw. von Anne unterstreichen, Anne ist in Recife geboren, deswegen wollten wir die Energie lokaler Künstler*innen vermitteln.

Der Film beginnt mit Musik aus Recife von Chico Science (“A praiera”), ein Mitbegründer der Manguebeat-Bewegung. Auch unsere Makeup-Artistin Andréa Tristão kommt aus Recife.

Anne: Wir haben auch viele Trans-Künstler*innen ausgewählt.

Gil: Neben der Musik von lokalen Künstler*innen war es uns auch wichtig die Identität von Alice durch andere Genres und Künstler*innen zu unterstreichen. Der letzte Song im Film wurde komponiert von einer lesbischen Künstlerin, Luísa (Song Vekanandra). Es gibt auch einen Song der Transvestit-Künstlerin Rosa Luz. Das Lied “Um beijo” ist von MC Xuxú. Als ich ihren Videoclip sah dachte ich, dass ich diesen Song unbedingt benutzen sollte. Außerdem Verónica Valentino und Jonaz Sampaio, die das Lied Feito Hai Kai komponiert haben, Rockmusik für eine Motorrad-Filmszene. Die Musik unterstreicht die rasante Energie der Szene, das tam tam tam (Gil ahmt Geräusche nach und lacht) des Motorgeräusches.

Gil, was sind Ihre aktuellen oder zukünftigen Projekte? Auf der Filmpremiere hatten Sie den Film Casa Isabel erwähnt.

Baroni: Mein aktuelles Projekt ist der Film Casa Isabel, zusammen mit Luiz Bertazzo, er hat das Drehbuch geschrieben. Casa Isabel ist ein Film, der in den 70er Jahren spielt, in einem Haus, dass eine Gruppe von Crossdressern beherbergt. Der Film spiegelt soziale Probleme der damaligen Zeit anhand der Metapher des Hauses und seiner Bewohner wieder. Das Haus stellt Brasilien dar, Brasilien zur Dikaturzeiten. Im Haus wohnen Soldaten, die Crossdresser sind.

In letzter Zeit gab es in Brasilien viele besorgte Kommentare von Filmschaffenden, z.B. von Regisseur Karim Aïnouz, über leere Kinosäle wegen Streamingplattformen. Was denken Sie, welchen Einfluss Plattformen wie Netflix auf die Konsument*innen und Qualität der Filmbranche ausüben?

Baroni: In Berlin gab es eine Debatte von einigen Kritiker*innen, die ich sehr gut fand. Pablo Vilas kritisierte den Film “The Irishman” von Martin Scorsese, einen 3-stündigen Film, in dem es keine einzige Pause gibt. Meiner Meinung nach ist das Erlebnis, einen Film im Kino zu sehen einzigartig, ein kollektives Erlebnis, auch beim Film Alice Júnior. Während der Filmpremiere haben die Menschen unseren Film gesehen, gelacht und Spaß gehabt. In diesem Sinne ist er auch ein didaktischer Film; der Film ist eine kollektive Katharsis, fast wie ein Fußballspiel Wahhhhh (Gil ahmt Fanjubel nach). Am Ende des Filmes gibt es einen Sieg, einen kollektiven Prozess: das Publikum hat die Möglichkeit, gemeinsam eine neue Geschichte zu erleben.

Netflix hat auch seinen Platz, seine Tragweite. Doch nichts wird die Bedeutung des Kinos mindern, das kollektive Eintauchen in einen Film ist einzigartig. Ich habe keine Argumente gegen Netflix und auch keine für diese Art von Plattformen. Wer es mag, während eines Films die Stopptaste zu drücken, kann Netflix schauen, andere bevorzugen die Erfahrung, in die Kinosäle zu gehen. Meiner Meinung nach sind es zwei verschiedene Erlebnisse.

Wie schätzen Sie die Zukunft der Filmindustrie in Brasilien in Anbetracht der problematischen politischen Situation ein?

Baroni: Die aktuelle Regierung ist voll von Intoleranten, die eine Trans- und Homosexuellenphobie haben, Machisten*innen sind – stell dir die schlimmsten Menschen vor, die existieren. Jedes Mal, wenn etwas Negatives gesagt wurde, wundern wir uns, dass danach sogar noch extremere Kommentare kommen. Die Politiker*innen haben Angst vor dem Bildungswesen, Informationen, Diversität und der Pluralität. Meiner Meinung nach sind sie nur eine Gruppe von Feiglingen. Brasilien ist ein sehr reiches Land, reich auf einem Level der Diversität und Pluralität, wir beherbergen alle ethnischen Gruppen und Hautfarben. Ein solches Land sollte mit Sensibilität regiert werden, von Menschen, die die Einzigartigkeit jeder Region verstehen. Was bedeutet das Konzept Familie? Was ist Religion? Was ist die richtige Form, um das Land zu regieren? Diese Fragen existieren nicht. Wie soll das nur weitergehen? Ohne Information? Ohne Plattformen wie Netflix? Ich schätze die Situation der Finanzierung als sehr negativ ein. Die Hauptfinanzierung wurde eliminiert. Die Konservativen wollen sogar die Filmförderung komplett abschaffen.

Um zurückzukommen zum Thema Filmbranche: Wir werden weitermachen, selbst wenn wir mit unseren Handykameras filmen müssen. Wir werden nicht aufhören Geschichten zu erzählen, wir werden nicht aufhören, über brasilienbezogene Themen zu erzählen und wir werden auch nicht aufhören, über das Thema Trans, die afro-brasilianische Gesellschaft, den Klassismus zu sprechen. Wir leisten Widerstand, allein mit unserer Präsenz und unseren Geschichten – mit Liebe, Herzlichkeit und Frieden.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

ZU WENIG ERNST GENOMMEN

 

© Watchmen Productions, MPM Film

„Ein Risiko gibt‘s immer“, sagt Nardjes Asli. Dann zuckt die junge Algerierin mit den Schultern und
macht sich trotz möglicher Repressionen bereit zur Demo. Sie ist die Protagonistin und Namensgeberin
des Dokumentarfilms Nardjes A. des Brasilianers Karim Aïnouz. Aïnouz, der selbst Wurzeln in dem
nordafrikanischen Land hat, hielt sich im Februar 2019 eigentlich wegen eines anderen Filmprojekts in
Algerien auf, wurde dann aber von den Massendemonstrationen gegen die Regierung überrascht und
beschloss, sie mit der Kamera seines Handys zu dokumentieren. Herausgekommen ist ein Film, der die
Wucht und Energie der Proteste zwar in beeindruckender Weise einfängt – vor allem angesichts der
begrenzten technischen Möglichkeiten -, bei ihrer Einordnung jedoch leider nur an der Oberfläche kratzt.
Anfang des Jahres 2019 herrschte in Algerien jeden Freitag Ausnahmezustand auf den Straßen. Der
korrupte Präsident des Landes, Abd al-Aziz Bouteflika, hatte im Februar verlauten lassen, für eine fünfte
Amtszeit zu kandidieren – und das, obwohl der 82-jährige nach drei Schlaganfällen kaum noch sprechen
kann und jahrelang nicht in der Öffentlichkeit zu sehen war. Die brodelnde Unzufriedenheit vor allem der
jüngeren Generation Algeriens brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Hunderttausende gingen
zwischen Januar und März 2019 auf die Straßen. Schließlich gab das Regime nach, sah von einer erneuten
Kandidatur Bouteflikas ab und die Wahlen wurden verschoben.
Im Film bleibt Aïnouz mit seiner Handy-Kamera immer sehr nah an seiner Protagonistin. Er begleitet sie
einen ganzen Tag lang vor, während und nach einer Freitagsdemonstration. Dabei liegt der Schwerpunkt
auf ihren Aktivitäten in dem riesigen Protestzug: Nardjes pfeift, singt, lacht und tanzt dort, was das Zeug
hält, getrieben von schier unermüdlicher Energie und guter Laune. Dabei trifft sie manchmal auf
Freund*innen und Bekannte, meist jedoch interagiert sie mit wildfremden Menschen. Nach der Demo
trifft sie sich mit Freund*innen in einem Café und geht abends in einem Club tanzen.
Beim Zusehen ist Nardjes Asli ihren Spaß an dem “feiernden, tanzenden Protest” anzimerken, der als
“Revolution des Lächelns” bekannt wurde. In Off-Kommentaren erklärt sie, wie stolz sie auf die Jugend
ist, wie sehr sie Algerien liebt und an ihre Generation glaubt. Asli kann man ihre jugendliche
Begeisterung kaum zum Vorwurf machen. Leider nimmt der Film sie aber irgendwann nicht mehr ernst.
Ihr Enthusiasmus, der zu Beginn sehr sympathisch wirkt, verliert durch häufige Wiederholung ählicher
oder sogar wortgleicher Parolen schnell an Wirkungskraft und wirkt klischeehaft. Aïnouz verpasst es
zudem, durch den Verzicht auf Reflexion oder Rückfragen Nardjes’ Persönlichkeit Tiefe zu verleihen.
Mit fortlaufender Dauer verliert die Dokumentation so die Richtung. Der durchaus interessante politische
Background der Protagonistin (Eltern und Großeltern waren in der kommunistischen Partei und zum Teil
schwerster Verfolgung ausgesetzt) ist nach kurzer Erklärung zu Beginn kaum noch Thema. Nardjes Aslis
Lebenssituation, ihre politischen Vorstellungen, ihre persönlichen Ambitionen – über all das darf sie im
Film nicht mehr erzählen. Dabei hätte es viele interessante Fragen gegeben: Etwa zu ihrer Begeisterung
für den algerischen Nationalismus, der ja schon nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg gegen die
französische Kolonialmacht nicht zu einer gerechten Gesellschaft geführt hat. Ainouz hätte sie auch nach
der Gefahr einer Unterwanderung der Proteste durch radikale Islamist*innen fragen können, die ihren
liberalen Lebensstil als offene und selbstbewusste Frau bedrohen könnten.
Die mangelnde Kontextualisierung macht das filmische Profil der jungen Aktivistin und
Theaterschauspielerin immer unschärfer, je länger die Dokumentation dauert. Am Schluss erscheint
Nardjes Asli fast nur noch wie eine unkritische Party- und Jubeldemonstrantin – was ihr sehr
wahrscheinlich nicht gerecht wird. Noch schlimmer wird es gegen Ende des Films: Wenn die Kamera
minutenlang Bilder der tanzenden Nardjes im Club zeigt und dabei zumeist auf Nahaufnahmen ihres
Gesichts fokussiert, fragt man sich, was Karim Aïnouz eigentlich damit bezwecken will. Wie ein
politisches Subjekt wirkt Asli da jedenfalls nicht mehr, vielmehr macht sich der ungute Verdacht breit,
dass dem Publikum hier ein “hübsches Gesicht” der Revolution präsentiert werden soll. Dazu passt, dass
auch die Einordnung in den politischen Kontext im Film nicht durch seine Protagonistin erfolgt – das
macht Aïnouz durch längere Texteinblendungen zu Beginn und Ende des Films selbst.
Nardjes A. verpasst die Chance, neben der Dokumentation der Proteste in Algerien auch ein differenzierteres Porträt einer interessanten Frau zu zeichnen, die nicht nur für eine neue Regierung,
sondern auch für ihte eigene Zukunft kämpft. So bleibt vor allem Demo-Folklore und am Ende sogar ein
Entlangschrammen an filmischem Voyeurismus hängen. Schade.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

SCHRÄGER TITEL, SCHRÄGE STORY

Ein Kreuzfahrtschiff irgendwo in Südpatagonien. Chico Ventana („Fensterjunge“, Daniel Quiroga), putzt lethargisch das Deck (und die Fenster), sieht desinteressiert Walen hinterher und zeigt auch sonst nicht den Einsatz, den sich seine Vorgesetzten von einem dynamisch-ambitionierten Angestellten erwarten. Vielleicht liegt es daran, dass Chico auch körperlich nur noch die halbe Zeit an Bord ist, seit er entdeckt hat, dass eine geheime Tür im Unterdeck in ein Apartment in Montevideo führt.

Doch damit nicht genug der Merkwürdigkeiten in Alex Pipernos Film Chico Ventana también quisiera tener un submarino („Der Fensterjunge möchte auch gerne ein U-Boot haben“), mit dem der Regisseut Uruguay mal wieder auf die Landkarte der Berlinale gebracht hat: Auch einige Männer eines philippinischen Bergdorfs finden plötzlich auf ihrem heiligen Hügel einen seltsamen Verhau, aus dem Schiffsgeräusche dringen (wer früher die Serie Lost verfolgt hat, kann sich eines Déjá-Vu-Effekts vermutlich nicht erwehren), wagen es jedoch nicht, diesen aufzubrechen.

Auf dem Schiff fühlt sich Chico Ventana (der natürlich nicht so heißt, aber bis zum Ende des Films keinen richtigen Namen bekommen wird) derweil weiter wie ein Fremdkörper. In der Wohnung trifft er dagegen auf die ebenfalls einsame Elsa (Inés Bartagaray), mit der er sich auf Anhieb gut versteht. Die kann etwas Gesellschaft gut gebrauchen, denn so stilvoll und gepflegt ihre Inneneinrichtung auch aussieht: Bis auf den Nachbarn, der mit einem Hammer bewaffnet seine Hilfe beim Schutz vor Einbrechern anbietet, schaut dort anscheinend nie jemand vorbei. Deshalb jagt sie den ungebetenen Besucher aus dem Badezimmerschrank auch nicht davon, sondern lädt ihn lieber zu einem Glas Wein ein. Irgendwann beginnt Elsa jedoch ebenfalls, das Schiff zu erkunden und als die Filipinos auch mit Opfergaben an die Geister des Berges dem Rätsel der Hütte nicht auf die Schliche kommen, droht das Gleichgewicht der drei Welten aus den Fugen zu geraten.

Die Story von Alex Pipernos Langfilmdebüt macht seinem abgefahrenem Titel alle Ehre. Chico Ventana también quisiera tener un submarino wirft bis zum Schluss mehr Fragen auf, als er beantwortet. Der Film überzeugt zwar optisch mit atmosphärisch dichten Bildern aus dem dunklen Bauch des Schiffs, die mit dem satten Grün der philippinischen Berge schön kontrastieren, der Geschichte aber letztlich auch keine Bedeutung verleihen können, die über ein „Irgendwie hängt alles irgendwo zusammen“ hinausgeht. Laut Regisseur Piperno, der zu viel Semantik in Filmen nach eigener Aussage „hasst“, ist das auch genau so beabsichtigt. Denn ein Drehbuch existierte nicht und der Film wurde erst nach Abschluss aller Aufnahmen so zusammengeschnitten, dass sich eine halbwegs schlüssige Story ergab.

Innovativer Ansatz hin oder her, dieses fehlende Grundkonzept macht sich an einigen Stellen deutlich bemerkbar. Ein wenig Arbeit am Script hätte Chico Ventana deshalb sicher gut getan und aus einer netten Idee einen noch besseren Film machen können. Seine Fans hat der uruguayische Beitrag der Berlinale-Sektion Forum aber auch so gefunden, wie eine überraschende Ehrung beweist: Chico Ventana también quisiera tener un submarino wurde während der Berlinale 2020 von der Leser*innenjury des Berliner Tagesspiegel mit dem ersten Preis ausgezeichnet.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

WHITENESS, TRANS KIDS, SKATERINNEN

Skaterin Grace Orsato als Bagdá im brasilianischen Berlinalebeitrag Meu nome é Bagdá © Luh Barreto

Für den ganz großen Wurf hat es für die lateinamerikanischen Filmemacher*innen nicht gereicht. Den Goldenen Bären für den besten Film der Berlinale gewann dieses Jahr vollauf verdient der iranische Beitrag There Is No Evil. Grund zum Trübsal blasen ist das aber bestimmt nicht, denn Lateinamerika war auf der Jubiläumsausgabe der Berlinale mit 35 Beiträgen mit so vielen Filmen wie lange nicht mehr vertreten und bot in ihnen ein beeindruckendes Panorama unterschiedlicher Themen und Lebensrealitäten des Kontinents.

Im Wettbewerb sorgte El prófugo aus Argentinien für einen starken Auftakt. Der enigmatische Film über die Vokalistin Inés, die ihre Stimmsicherheit verliert, beeindruckte mit großartiger Akustik und einem Plot, der selbst erfahrene Filmkritiker*innen in lange Diskussionen verstrickte. Dagegen war der brasilianische Beitrag Todos os mortos, der den Niedergang der Familie eines Kaffeebarons aus São Paulo um 1900 zeigt, ein kraftvolles und innovatives Statement, das den Rassismus, der unter der Regierung Bolsonaro wieder stark aufgeflammt ist, aus dem Blickwinkel der Critical Whiteness betrachtet und filmisch eine Brücke in die Gegenwart schlägt.

Überhaupt, Brasilien: Nicht weniger als 19 Beiträge hatte das flächenmäßig größte Land des Kontinents auf dieser Berlinale zu bieten. Die meisten davon haben völlig verdient ihren Weg in die verschiedenen Sektionen des Festivals gefunden. Von frechen Teenie-Komödien (Alice Júnior und Meu nome é Bagdá), über mutige und selbstbewusste queere Filme (Vento Seco und Vil, má) bis hin zu bislang eher unbekannten Einblicken in migrantische Communities (Cidade Pássaro) zeigte das brasilianische Kino einmal mehr die enorme kreative Bandbreite, die es schon die letzten Jahre auszeichnete. Doch damit könnte es in nächster Zeit erst einmal vorbei sein, denn die Regierung Bolsonaro hat die nationale Filmförderung gestrichen. Zumindest quantitativ wird sich der brasilianische Film deshalb auf etwas weniger fette Jahre einstellen müssen.

Argentinien war das zweite Fokus-Land auf dem Festival, zehn Filme schafften es ins Berlinale-Programm. Vor allem die Kurzfilme standen diesmal im Rampenlicht: Playback. Ensayo de una despedida (Teddy-Award für den besten queeren Kurzfilm) und vor allem El nombre del hijo (2 gläserne Bären) räumten Preise ab. Bis auf den Wettbewerbsbeitrag El prófugo und Isabella, eine reizvoll montierte Persönlichkeitsstudie über eine Shakespeare-Darstellerin, kamen die Langfilme allerdings diesmal nicht ganz an dieses hohe Niveau heran. Als weitere lateinamerikanische Länder waren unter anderem Kolumbien, Kuba, Mexiko, Peru und Uruguay vertreten.

Offizielle Berlinale-Preise für Lateinamerika verlieh dieses Jahr vor allem die Jugendfilm-Sektion Generation. In der Kategorie Großer Preis der Jury gingen die Gläsernen Bären sowohl in der Sektion Kplus (für Kinder geeignete Filme) wie auch in der Sektion 14Plus (ab 14 Jahre) nach Lateinamerika. Bei Kplus gewann Los Lobos, ein einfühlsames Porträt zweier Jungen, die mit ihrer Mutter illegal in die USA migrieren. Bei 14Plus wurde der Film Meu nome é Bagdá ausgezeichnet, der jugendliche Skaterinnen in São Paulo im Kampf gegen den Machismo zeigt. Und der argentinische Kurzfilm El nombre del hijo über den trans Jugendlichen Lucho gewann bei Kplus sogar zwei Preise, denn neben dem Gläsernen Bären für den besten Jugend-Kurzfilm siegte er auch in der Kategorie Spezialpreis der Jury. Einen wichtigen Preis gewann dieses Jahr auch der kolumbianische Regisseur Camilo Restrepo: Für das filmische Experiment Los Conductos aus der neuen Sektion Encounters erhielt er den Award für den besten Erstlingsfilm der Berlinale.

Die Berlinale bot wie immer nicht nur Gelegenheit, tolle Filme zu sehen, sondern auch die, Menschen dahinter zu treffen. Mit einigen von ihnen konnten wir während des Festivals interessante Interviews führen. Und natürlich haben wir zu fast allen Beiträgen aus Lateinamerika eine Rezension geschrieben. Viel Spaß beim Lesen!


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

SCHILLERND UND SCHWERMÜTIG

© Agustina Comedi

Der Kurzfilm Playback. Ensayo de una despedida der argentinischen Dokumentarfilmerin Agustina Comedi (El silencio es un cuerpo que cae) entführt die Zuschauer*innen in das Nachtleben der Gruppe Kalas (Grupo Kalas). Als trans Frauen und Dragqueens begehrten sie mit ihren Auftritten gegen die Unsichtbarkeit queeren Lebens im postdiktatorischen Argentinien auf. Doch statt Aufbruch und Ausbruch erleben die in wackeligen Videoaufzeichnungen festgehaltenen Mitglieder den Verlust ihrer „Soldatinnen“ durch HIV.

„La Delpi“, die einzige Überlebende der Gruppe Kalas, kommentiert die alten VHS-Videos. Zeugnis und Bild fallen auseinander, treffen wieder zusammen oder werden von den Antworten ihrer Freund*innen während eines Drag-Contests unterbrochen. In ihren Aussagen bricht sich die Lebensrealität der Trans*-Community schonungslos Bahn. Da wird durch die klassische Frage an die Schönheitskönigin: „Wenn sie Präsidentin sind, welches Dekret würden sie als erstes verabschieden?“ der Graben deutlich, der zwischen situativer Selbstermächtigung und gesellschaftlicher Akzeptanz liegt: „Ein Dekret, dass jede*r Trans* sicher die Straße entlanglaufen kann.“

Dieser Wunsch hat sich in Argentinien auch nicht durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Genderidentität (Ley de Identidad de Género) im Jahr 2012 erfüllt. Infolge des Gesetzes verzeichnete das Land zwar einen relativen Rückgang staatlicher Repressionen gegen trans Personen, doch der Kampf gegen die – oftmals tödliche – Gewalt auf den Straßen und im Haus ist weiterhin eine zentrale Forderung von Aktivist*innen.

Vor diesem Hintergrund ist der Film von Comedi zweierlei: eine Hommage an die Akteur*innen der sich nach der Diktatur rekonstituierenden Trans*-Community und ein wertvolles Zeitdokument für heutige Aktivist*innen. Die dokumentarische Tätigkeit als eine Form des Aktivismus zu begreifen, wird in Argentinien seit 2012 von der Gruppe rund um das Archiv der Trans*-Erinnerung (Archivo de la memoria trans) vorgelebt. Auch deren Mitglieder haben die Diktatur überlebt, viele im Exil. Das Sammeln der Dokumente, das Wiederentdecken und Zeigen der gemeinsamen Geschichte bildet eine Grundfeste, von der Trans*–Aktivismus in Argentinien heute ausgeht. Comedi leistet durch ihren Kurzfilm einen ebenso schillernden wie schwermütigen Beitrag über das solidarische Miteinander in vergangenen Kämpfen gegen Marginalisierung und gegen den Tod.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

VERZWICKTE ZEITEN

© Trapecio Cine / Le Fresnoy

12 Steine wirft Muriel ins Wasser, bevor sie einen Entschluss fasst. Hat sie keine größeren Probleme damit, fliegen alle schnell in den Fluss und sie kann die Entscheidung treffen. Plagen sie aber Zweifel und bleibt ein Stein zu lange in der Hand, nimmt sie davon Abstand.

Muriel (María Villar) ist die Protagonistin in Matías Piñeiros ganz schön kniffliger Charakterstudie Isabella, deren Ausgangssituation aber eigentlich recht simpel erscheint: Muriel ist mäßig erfolgreich in ihrem Job als Schauspielerin, möchte aber unbedingt den Job als Isabella in Shakespeares Theaterstück Maß für Maß ergattern. Außerdem muss sie ihren Bruder Miguel, mit dem das Verhältnis aber eher schwierig ist, um Geld anpumpen. Um an ihn heranzukommen, freundet sie sich mit seiner Geliebten Luciana (Agustina Muñoz) an, die auch Schauspielerin ist und ihr deswegen praktischerweise gleich beim Üben fürs Vorsprechen helfen kann. Doch um Erfolg zu haben, muss Muriel erst einmal ihre Selbstzweifel besiegen.

Isabella bezieht seinen Reiz nicht aus dem Inhalt, sondern aus der Struktur des Erzählens. Der Plot wechselt zwischen (mindestens) drei Zeitebenen hin und her – erkennbar meistens nur an Muriel, die im Verlauf des Filmes schwanger wird und ein Kind bekommt. Man muss oft höllisch aufpassen, um die Versatzstücke im Kopf richtig zusammenzupuzzeln. Manches bleibt bis zum Schluss nicht eindeutig klar. Ein Beispiel ist die Figur der Luciana, die sich für Muriel gleichzeitig als Freundin und Konkurrentin entpuppt: Ist ihre Hilfe und Freundlichkeit echt oder spielt sie alles nur vor, um ihren eigenen Vorteil zu suchen? Auch Muriels Versuche, die Rolle der Isabella zu ergattern, geben Rätsel auf. Tritt sie nur einmal oder öfter zum Vorsprechen an? Weil vieles zwischen den auf der Leinwand gezeigten Zeitebenen unerzählt bleibt (zum Beispiel die Geschichte von Muriels Schwangerschaft) bleibt viel Raum zur Interpretation, vor allem was das Verhältnis der Personen untereinander betrifft.

Der Film ist aber nicht nur ein schlau komponiertes Ratespiel, sondern thematisiert fast nebenbei das prekäre Leben als Schauspieler*in in Argentinien. Selbst Luciana, die in ihrem Beruf deutlich erfolgreicher ist als Muriel, muss ständig um Aufträge kämpfen und sich ausführlich darauf vorbereiten. Die Geldprobleme sind im Hintergrund ständig präsent, auf einen Job einfach so zu verzichten, ist ein Luxus, den sich nicht jede*r leisten kann. Die Situation führt dazu, dass Muriel häufig die Frage quält, ob sie die richtige Berufswahl getroffen hat. Auf einer Meta-Ebene kann der Film deshalb auch als Parabel über Entscheidungsfindungen in einer wichtigen Lebensphase interpretiert werden. Piñeiro setzt dabei Farbcodes ein und untergliedert den Film in Einzelteile. Das zu Beginn eingeführte Motiv der 12 Steine taucht immer wieder auf. Letztlich dreht sich alles um die Frage, ob es mutiger ist, einen schwierigen Weg weiterzugehen oder ihn in Richtung einer möglicherweise ungewissen Zukunft zu verlassen.

Isabella ist ein Film, der seine Zuschauer*innen durch die ungewöhnlichen Form seiner Montage fordert, mit einer clever gestrickten Geschichte dann aber fürs Aufpassen auch belohnt. Bei Muriels und Lucianas Spaziergängen durch die Natur gibt es außerdem auch fürs Auge ein paar schöne Bilder zu sehen. Matías Piñeiro ist so eine kleine, aber feine Studie gelungen, die über die rein ästhetische Fingerübung hinausgeht. Der Film wurde auf der Preisverleihung der Berlinale deshalb auch zu Recht mit einer lobenden Erwähnung in der Sektion Encounters bedacht. 


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

VON DER SUCHE NACH EINEM VERLORENEN PARADIES

© Lina Hayek

Um zur Ausstellung zu gelangen, muss man sich zunächst in die Seitenstraßen nahe des Berliner S-Bahnhofs Wedding begeben, einen Hinterhof betreten, ein paar Treppen hinabsteigen und einen langen, dunklen Gang entlanglaufen. Das S A V V Y Contemporary befindet sich in einem Gebäudekomplex, der ab dem Jahre 1909 als erstes Krematorium Berlins gebaut wurde und 2013 als Kulturquartier unter dem Namen Silent Green saniert und umfunktioniert wurde. Sobald man die Räumlichkeiten betritt, überkommt einen allerdings nicht nur ein Schauer in Anbetracht vergangener Zeiten, es geschieht noch etwas Anderes: Man hört den sanften Klang traditioneller Musik der Guarani. Die Lieder handeln von den kleinen Dingen des Alltags, vom Kochen, Lieben, Spielen, Arbeiten – und davon handelt auch die Ausstellung. Patrícia Ferreira Pará Yxapy nimmt uns mit auf die Jeguatá, einer spirituellen Reise durch ihre Heimat, dem Land der Guaraní. Sie träumt von einem Land Without Evil, einem verlorenen Paradies, das wohl existierte, bevor die sogenannte „Neue Welt“ erschaffen wurde.

Die Guaraní leben in einem Gebiet, das Teile von Argentinien, Paraguay, Bolivien und Brasilien umfasst. Durch das audiovisuelle Erfassen des Lebensraums der Menschen, wird den Betracher*innen schnell klar, dass politische Konzepte von Nationalstaatlichkeit, Grenzpolitik, Sprache und Kultur neu hinterfragt und aufgebrochen werden müssten. Kunst, Spiritualität und Politik werden hier zusammen gedacht. Die Filmemacherin und Künstlerin hat in Zusammenarbeit mit dem Mbyá-Guarani Cinema Collective ein Video- und Bildarchiv erschaffen, das einen umfassenden Einblick in das Leben und den alltäglichen Widerstand der Guaraní gibt. Ihre Sammlung, bestehend aus Fotos, Videos, Malereien, Holzschnitzereien und Papierdokumenten, gibt Anlass zur Diskussion über Themen des Neokolonialismus und den Kampf um Autonomie und Selbstbestimmung – sowohl in Bezug auf die Rechte von Indigenen als auch in Bezug auf den internationalen Kampf der Frauen. Eine weitere wichtige Rolle spielt der Konflikt zwischen dem Versuch eines Lebens im Einklang mit der Natur und äußeren Einflüssen der Umweltzerstörung.

Patrícia Ferreira Pará Yxapy gelingt es, äußert konfliktreiche und hoch politisierte Themen auf eine Weise darzustellen, die Raum für Emotionen und Spiritualität lässt und schafft somit eine sehr persönliche und authentische Perspektive. Ihr Status als indigene Frau ist hier nicht wegzudenken.

Am Ende der Ausstellung werden die Zuschauer*innen eingeladen, ihren Film Teko Haxy – Being Imperfect zu sehen. Er zeigt ein reflektiertes Gespräch zwischen zwei Frauen indigener und nicht indigener Abstammung, die sich zumindest in einem Punkt einig sind: im gemeinsamen Kampf um die Geschlechtergerechtigkeit.

Die Ausstellung ist Teil von „Archive außer sich“, einem Projekt des Arsenal – Institut für Film und Videokunst in Kooperation mit dem HKW, gefördert im Rahmen von „Das Neue Alphabet“ durch die BKM auf Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Die Ausstellung wird vom Goethe-Institut Rio de Janeiro und dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) gefördert.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

MÉNAGE Á GOIÁS

© Panaceia Filmes

Regenwahrscheinlichkeit: Null Prozent. Diese Wettervorhersage, die anderswo im Sommer für Jubelstürme sorgen würde, lässt Sandro (Allan Jacinto Santana) ziemlich kalt. Oder besser gesagt: heiß. Denn in Catalão, in der tiefsten Provinz des brasilianischen Bundesstaats Goiás, wo der Film Vento Seco („Trockener Wind“) spielt, steht Hitze auf der meist eintönigen Tagesordnung. Regen wäre dagegen eine willkommene Abwechslung.

Sandro, bärtig, korpulent und schon über 40, arbeitet in einer Düngemittelfabrik und ist schwul. Seine Sexualität kann er zwar nicht offen ausleben, über Mangel an Sex kann er dank seines jungen Arbeitskollegen Ricardo (Allan Jacinto Santana), der gar nicht genug von ihm bekommen kann, aber nicht klagen. Zufrieden ist Sandro trotzdem nicht mit seiner Situation. In seinen Sexträumen entfalten sich noch weit gewagtere Fantasien. Und dann ist da auch noch der Neuankömmling Maicon, der ihm nicht nur bei seinen Besuchen im Schwimmbad den Kopf verdreht. Dumm nur, dass der sich weniger für ihn, sondern viel mehr für Ricardo interessiert…

Beim Setting wendet Regisseur Daniel Nolasco, der selbst in Goiás und Rio de Janeiro studiert hat, einen hübschen kleinen Trick an: Statt entweder die glamouröse Gay-Szene in den Metropolen São Paulo und Rio oder das für Homosexuelle oft klandestine und gefährliche Leben im Hinterland Brasiliens zu zeigen, vermischt Vento Seco beides. Das ergibt durch den Verfremdungseffekt einen interessanten Mix. Speziell die äußerst freizügig gezeigten Fantasien in Sandros Träumen (explizit gezeigte Sexszenen von Praktiken wie Snowballing oder Golden Shower bekommt man auf Leinwänden außerhalb von Pornokinos doch eher selten zu sehen) wirken durch Licht und Dresscode sehr urban. Die ländliche Umgebung bleibt jedoch im Hintergrund immer deutlich sichtbar. Auch akustisch bringt Nolasco die beiden Ebenen gekonnt zusammen: In den Szenen von Sandros eigentlich stocklangweiligem Job unterlegt er die Bilder von riesigen Silos und Fabrikhallen mit sphärischen Elektroklängen. So kreiert er eine Atmosphäre, die manchmal – kein Witz – an die futuristische Einsamkeit von Blade Runner erinnert. Oft verschwimmen die beiden Ebenen auch miteinander, so dass man sich nach einigen Szenen fragt, was nun Traum und was Realität war. Ist Sandro nun tatsächlich bei Maicon eingebrochen, um seinen Leder-Fetisch auf dessen Motorrad auszuleben? Und kann es wirklich sein, dass in einer verlassenen Gasse plötzlich ein glitzernder Gay-Club seine Pforten für ihn geöffnet hat?

Trotz aller Ästhetisierung bleibt im Film aber auch präsent, wie dünn das Eis für Homosexuelle in Brasilien ist. Fast jeden Tag passiert dort im Schnitt ein homophob motivierter Mord. In Vento Seco erinnert Sandro daran, als er Ricardo die Geschichte seines ehemaligen, offen schwulen Lehrers Lázaro erzählt, der brutal ermordet wurde. Dem Begräbnis blieb er wie viele andere aus Angst fern. „Da waren nur 5 Personen. Bei jedem, der gekommen wäre, hätte die ganze Stadt gewusst, dass er schwul ist.“ Ein Beispiel, das so bedrückend wie leider auch realistisch wirkt und zeigt, dass für Sandro, Ricardo und Maicon vollständige Freiheit nur in ihrer Fantasie stattfinden kann.

Daniel Nolasco erzählt mit Vento Seco eine stimmige und originelle Ménage-a-Trois-Geschichte, die durch ihre explizit pornografische Darstellung schwuler Sexualität auch ein Statement setzt. Denn Filme wie dieser werden im Brasilien des rechtsextremen und offen homophoben Präsidenten Jair Bolsonaro in nächster Zeit sehr wahrscheinlich nicht mehr gefördert werden. Die Sichtbarkeitmachung dieser alternativen Lebenswelt, auch in all ihrer Radikalität, ist aber eine wichtige Aufgabe, die das Kino, wie wenige andere Medien, ermöglichen kann, ja sogar muss – solange es noch geht. Und die, das sollte mit Blick auf das aktuelle gesellschaftliche Klima Brasiliens nie vergessen werden, auch großen Mut erfordert. Vento Seco erfüllt diese Aufgabe mit Bravour und dürfte deshalb zu den besten Queer Movies der Berlinale 2020 gehören.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

DIE VERGESSENEN HELDEN DER REVOLUTION

© José Alayón

Der Gebirgszug der Sierra Maestra im Osten der Karibikinsel gilt als Wiege der kubanischen Revolution. Nicht verwunderlich also, dass diese Landschaft ebenfalls zur Protagonistin des Films Entre Perro y Lobo wird. Der vierte Film der spanischen Regisseurin Irene Gutiérrez läuft in der Sektion Forum. Bereits 2014 gelang ihr mit dem Dokumentarfilm Hotel Nueva Isla ein Überraschungserfolg auf der Berlinale.

In langsam dahinplätschernden Monumentalaufnahmen des Gebirges und des Regenwalds zeigt Gutiérrez’ die militärischen Übungen der Angolaveteranen Miguel Soto, Juan Bautista López und Alberto Santana. Sie befinden sich im undurchdringlichen Dschungel der kubanischen Berge, um ihre Erinnerungen an den Kriegseinsatz im angolanischen Bruderstaat am Leben zu erhalten. Aufgrund seiner internationalistischen Ausrichtung entsandte Kuba zwischen 1975 und 1990 Soldat*innen zur Unterstützung der angolanischen Befreiungsbewegung MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola).

Neben den regulären Kampfübungen, die von den drei Veteranen mal mit stoischem Ernst durchgeführt werden, mal den Eindruck von kindlichem Raufen erwecken, sind die Guerilleros auf der Suche nach Landminen und robben durch den schlammigen Untergrund der Sierra Maestra. Sie müssen Entbehrungen in Kauf nehmen, wälzen sich im Dreck und sind weit entfernt von medizinischer Versorgung oder Dingen des täglichen Gebrauchs. Ihre Vorräte werden von Maultieren getragen, die neben einem Hund die einzigen Begleiter der Truppe sind. Als einer der Protagonisten eine schlimme Verletzung am Bein erleidet, eröffnet das die Problematik ihres gesamten Unterfangens. Nach und nach schleichen sich Momente der Schwäche und Zweifel an ihrem Tun bei den Soldaten ein. Vergangenheit und Gegenwart begegnen sich: Ihr scheinbar zielloses Umherschweifen im Dschungel wird überblendet mit Footage aus Dokumentarfilmen über den Angolaeinsatz und den Durchhalteparolen, in denen sie sich gegenseitig als revolutionäre Kämpfer preisen, die niemals aufgeben werden: „Manche kämpfen einen Tag und sind gut, andere kämpfen 20 Tage und sind besser, aber einige von uns kämpfen das ganze Leben und sind die Unentbehrlichen.“

Dieses Beschwören der eigenen Kraft erscheint absurd angesichts der aktuellen Situation Kubas. Der Film kreist um die Frage, welchen Zweck das Unternehmen der drei Soldaten in der Gegenwart eigentlich verfolgt. Als der Kämpfer Miguel Soto in einer Rückschau auf seinen Einsatz in Angola sein persönliches Versagen thematisiert, erzeugt das Mitgefühl und gleichzeitig Erstaunen über das Selbstbild des Soldaten, der Jahre nach einem Zwischenfall im Gefecht ein wenig nachvollziehbares Problem mit seiner eigenen Männlichkeit beschreibt. Er musste sich damals zwischen einer gefährlichen Situation mit Sterberisiko und der Chance auf ein Kennenlernen mit seinem Erstgeborenen entscheiden. Schließlich hat er Angola verlassen, um seinen Sohn auf Kuba kennenzulernen.

Irene Gutiérrez gelingt es diese Selbstzweifel einzufangen, wodurch ihr Film eine sehr nahe, beinahe dokumentarische Atmosphäre erzeugt, obwohl die Szenen alle auf der Improvisation der Schauspieler beruhen. Als Frau sei es mitunter schwierig gewesen, „die Schwäche dieser Machoalphas aufzudecken und hinter die Fassade zu blicken“, beschreibt die Regisseurin ihre Schwierigkeiten bei der Produktion. Zudem sei ihr wichtig gewesen, das bedingungslose Einstehen der Soldaten für eine gemeinsame Sache, unserem Verständnis von individueller Freiheit entgegenzusetzen.

Als Anstoß für ihren Film dienten Verse des kubanischen Dichters José Martí über die Sierra Maestra. Gutiérrez gelingt in Ente Perro y Lobo eine überzeugende Verbindung zwischen den monotonen Kampfhandlungen der Gegenwart, den phrasenhaften Beteuerungen der Guerrilla-Kämpfer und dem allgegenwärtigen Vermächtnis der kubanischen Revolution auf der Insel. Ein Höhepunkt des Films, in dem Fidel Castro aus dem Off den Abschiedsbrief des Che Guevarra liest (Fidel Castro Lee la Carta de Despedida del Che), spiegelt den gesamten Anachronismus des heutigen Kubas wider. Diese Reflektion verweist auf die Tragik der ewigen Revolution, die längst zu ihrer eigenen Institution geworden ist.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

REFLEXION STATT BILDERRAUSCH

© 5a7 Films – mutokino – If you hold a stone – montañero cine

Ein Mann, ein Motorrad, eine Fahrt durch die Nacht. So beginnt Los Conductos, der kolumbianische Beitrag zur neuen Berlinale-Sektion Encounters von Regisseur Camilo Restrepo. Auf dem Zweirad sitzt der Protagonist Pinky, der auf der Flucht vor einer kriminellen Bande ist, für die er lange Zeit geraubt und getötet hat. Nun ist er ausgestiegen, zahlt dafür aber einen hohen Preis: Weil er wegen der Verfolgung durch die Gang keine Spuren hinterlassen darf, kann er nur  informelle und prekäre Jobs annehmen: Beispielweise in einer Fabrik für gefälschte Markenkleidung oder als Metallsammler, der nachts Drähte aus Stromkästen zieht. Für die Gesellschaft unsichtbar muss er sich nun in einer Welt durchschlagen, wo es für ihn weder viele Verbündete noch Hoffnung auf schnelle Besserung seiner Situation gibt.

Camilo Restrepo zeigt in seiner nur 70 Minuten langen Parabel auf Kolumbiens Ungerechtigkeiten eine apokalyptisch wirkende Welt mit wenigen Menschen, deren Bewegungs- und Handlungsspielräume eingeschränkt sind. Dabei arbeitet er nach einem Konzept, das das Visuelle extrem reduziert und Geräuschen und dem gesprochenen Wort großes Gewicht beimisst. So wird Pinkys Geschichte aus der sektenartig organisierten Gang so gut wie gar nicht im Bild gezeigt und nur aus dem Off erzählt, während man ihm beim Verrichten seiner alltäglichen Tätigkeiten zusieht. Vieles erinnert eher an Szenen aus einem modernen Theaterstück als aus einem Kinofilm. Philosophische Monologe über Gut und Böse wechseln sich mit Geschichten anderer Menschen aus der unteren sozialen Klasse ab, wobei die oft eher unspektakulären Bilder den Fokus auf das gesprochene Wort lenken sollen. Restrepos Ziel ist es, damit eine „Audiovisuelle Erfahrung“ zu vermitteln, was manchmal anstrengend ist, da der Film keine packende Handlung (die durch Pinkys Erlebnisse in der Gang im Prinzip vorhanden wäre) im Bild zeigt. Andererseits regen einige der Statements aus dem Off durchaus zur Reflexion an und erfüllen damit den beabsichtigten Zweck („Wir waren vereint durch alles, was wir hassten“; „Die Welt war für uns nichts anderes, als ein Rohmaterial, das wir für unsere Zwecke formten“). Die verfremdete Erzählstruktur sorgt für eine große Abstraktion, was eine emotionale Involvierung in die Geschichte und auch mit dem Protagonisten erschwert. Hier spürt man deutlich, dass Restrepo kein klassischer Filmemacher, sondern eigentlich Künstler ist, der die Filmindustrie mit seiner Herangehensweise eher herausfordern, als ein Teil von ihr sein möchte. Das zeigt sich in der Form des Films (gedreht wurde auf 35 mm analog) wie auch in der Funktion, die mit gängigen Erwartungen bricht. Ob ihm das bei Kinozuschauer*innen mit konventionellen Sehgewohnheiten großen Beifall einbringen wird, darf bezweifelt werden. Los Conductos ist so ein vor allem ästhetisch interessantes Experiment.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

NICHT MEHR ALS GUT GEMEINT

© Pensar con las manos

Francisco Márquez‘ Motivation für seinen Film Un crimen común („Ein gewöhnliches Verbrechen“) ist gut nachvollziehbar. Laut der Nichtregierungsorganisation CORREPI wurde 2019 in Argentinien unter der neoliberalen Regierung von Mauricio Macri alle 19 Stunden ein Mensch von staatlichen Sicherheitskräften getötet. Die meisten Opfer waren jung und arm, zu einer Aufklärung der Tötungsumstände kommt es selten. Arm sein heißt verdächtig sein: Auf diesem Diskurs, den große Teile der argentinischen Mittel- und Oberschicht mittragen, gründet sich die meist straffreie Gewalt der Autoritäten.

Neben dem Motiv, diese Missstände offenzulegen, verfügt Un crimen común auch sonst über einige Zutaten, die ein gelungener Thriller braucht: Einen Regisseur mit dem Gespür für klaustrophobische Stimmungen (Francisco Márquez war in Cannes 2016 bereits für den Newcomer-Preis nominiert), Schauspieler*innen, die diese Stimmungen gekonnt transportieren und eine Ausgangslage, die Spannung verspricht. Cecília (Elisa Carricajo) ist Soziologiedozentin an einer Universität und führt ein gesichertes bürgerliches Leben ohne große Aufregung. Ihr Ein und Alles ist ihr achtjähriges Kind Juan, von dessen Vater sie getrennt lebt. Eines Nachts klopft es an ihrer Terrassentür: Draußen steht Kevin, der heranwachsende Sohn ihrer Hausangestellten Nebe (Mecha Martínez), der sie anfleht, aufzumachen. Doch Cecília öffnet nicht, sondern tut so, als würde sie nichts hören. Am nächsten Tag wird Kevins Leiche aus dem nahen Fluss gezogen – sehr wahrscheinlich ermordet von der Polizei. Die Soziologin sieht sich nun nicht nur mit ihren Gewissensbissen konfrontiert, sondern auch mit einer Entscheidung: Soll sie gestehen, was sie getan hat und damit zur Aufklärung beitragen? Oder lieber den Weg des geringsten Widerstands wählen, damit alles weitergeht wie bisher?

In Un crimen común verkörpert Cecília die aufgeklärte bürgerliche Mittelschicht. Sie lehrt an ihrer Universität marxistische Theorien und behandelt auch die ärmeren Menschen in ihrem Umfeld (wie Nebe und ihren Sohn) mit Respekt. Als jedoch der Moment kommt, ihre Ideale in die Praxis umzusetzen, gewinnt ihr Angstinstinkt die Oberhand und paralysiert sie. Natürlich steht Cecílias Untätigkeit nicht nur für sie selbst, sondern für die Teile der argentinischen Gesellschaft, die Ungerechtigkeiten gleichgültig gegenüberstehen, solange sie nicht selbst davon betroffen sind. Genau diese dramaturgische Intention wird aber bereits zur Hälfte des Films mehr als klar. Und danach passiert leider im Grunde fast nichts mehr, außer dass Cecilia sich intensiv ihrer eigenen Paranoia und ihren Schuldkomplexen widmen darf. Dass Elisa Carricajo ihre Rolle sehr differenziert und überzeugend interpretiert, ist dabei Fluch und Segen zugleich. Denn die Story klebt so eng an der inneren Befindlichkeit ihrer Protagonistin, dass sie nie wirklich zündet. Auch weil die extreme Fokussierung auf sie die interessanten weiteren Aspekte der Geschichte (Wie gehen Nebe und ihr Umfeld mit der Tragödie um? Warum bekommt die Polizei auch im Film das Privileg, komplett unsichtbar bleiben zu dürfen?) zu Nebenschauplätzen degradiert. Die kleinen Schockmomente, die Márquez mit Griffen in den Horrorfilm-Baukasten einbaut, laufen deshalb ins Leere. So bleibt Un crimen común nicht mehr als ein technisch zufriedenstellend gemachter Film, dessen versuchte Gesellschaftskritik leider nie über die gut gemeinte Intention hinauskommt.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

DIE SPIRALE VON CHAOS UND ZEIT

© courtesy of The Living and the Dead Ensemble/Spectre Productions

Ouvertures vermittelt einen zeitgenössischen Blick auf die Geschichte der Sklavenaufstände, die zur Gründung des Staates Haiti geführt haben. Im Mittelpunkt steht Toussaint Louverture, der Anführer der Haitianischen Revolution. Der Dokumentarfilm beginnt mit einer Spirale, danach wird eine Bibliothek in Paris eingeblendet, wo ein studentischer Forscher aus Haiti die Memoiren von Louverture liest. Die Szene ändert sich danach schlagartig, der Student marschiert durch den Schnee auf die Burg Château de Joux im Jura-Gebirge (Französische Schweiz) zu, wo der Revolutionsführer 1803 verstorben ist und erkundet alle Räume, auch die Todeszelle von Louverture. Im weiteren Verlauf des Films geht es von den Stalaktiten (in einer Höhle unter der Burg), durch die der Forscher die Vergangenheit zu lesen versucht, zurück nach Haiti. Zur selben Zeit, rund 7.700 km auf der anderen Seite der Welt, in Port-au-Prince, übersetzt eine Gruppe von Schauspieler*innen die Szenen der letzten Tage vor Louvertures Tod von Französisch auf Haitianisches Kreol. Beim Spielen eines Theaterstücks von Édourd Glissant verschmelzen die Schauspieler*innen immer mehr mit ihren Rollen und spüren die Anwesenheit des Geistes von Louverture.

Schnell wird klar, dass der Dokumentarfilm kein konventioneller westlicher Film ist, sondern ein Film aus haitianischer Perspektive. Besonders der Teil, der in Haiti spielt, ist geprägt von unzähligen haitianischen Symbolen, Einfluss des Voodoos, Musik (von Perkussion bis Hip Hop) und der Sicht der Haitianer*innen auf Revolution, Kolonialisierung und Weltordnung. Das Symbol der Spirale stellt dabei das Chaos der Welt dar, das durch die Sklaverei verursacht wurde und das Orte unabhängig von Ort und Zeit vereint. Der gesamte Film ist spiralförmig aufgebaut, es gibt Ortswechsel von Frankreich, Schweiz und Haiti, die alle miteinander durch die Geschichte von Toussaint Louverture verbunden sind. Für  den britischen Filmregisseur Louis Henderson und den französischen Produzenten Olivier Marbeouf stellt genau diese Symbolik einen Versuch dar, ein kreolisches Kino zu erschaffen, „wo Zeit und Raum auf den Kopf gestellt werden.“ Zusammen mit acht haitianischen Schauspieler*innen haben sie das Living and the Dead Ensemble gegründet und Ouvertures in eine Theaterinszenierung verwandelt, die vom Geist des Revolutionsführers heimgesucht wird.

© courtesy of The Living and the Dead Ensemble/Spectre Productions

Die Proben des Theaterstücks erstrecken sich über mehrere Tage an verschiedenen Schauplätzen in Port-au-Prince, meistens im Freien, bei Tag und Nacht. Die Theaterszenen bestehen aus Wiederholungen und Improvisation und vermischen sich in den Pausen mit Gesprächen über Feminismus, Identität und der Illusion des Kosmopolitismus. Der Film ist für das westliche Auge etwas zu lang geraten und einige Szenen hätten gekürzt werden können. Besonders die Anfangsszenen in Frankreich und der Schweiz sind etwas langatmig und man wartet darauf, dass die Geschichte in den Gang kommt.

Davon abgesehen ist Ouvertures jedoch ein sehr gelungener Dokumentarfilm, der Haiti aus dem Blickwinkel seiner Bewohner*innen darstellt und mit einem Hauch von Magischen Realismus verknüpft. Das Filmdebüt ist nicht nur eine Hommage an Toussaint Louverture, sondern auch eine Kritik am Postkolonialismus, ein Empowerment der Haitianer*innen und ein Aufruf Haiti trotz aller Armut und Probleme zu schätzen und an den Fortschritt zu glauben. Ein sehr detailreicher, spannender und innovativer Dokumentarfilm, der besonders für Haiti-Interessierte und Theaterliebhaber*innen zu empfehlen ist.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

SCHWESTERN AM ENDE DER WELT

© Carine Wallauer

Ana (Maria Galant) und Julia (Anaís Grala Wegner) sind Schwestern und sitzen in einem Bus, um ihren Vater im Süden Brasiliens zu suchen. Die Schwestern sind Jugendliche, ihre Mutter hat eine unheilbare Krankheit, schickt sie deshalb zu ihrem Vater. Ana und Julia sind zwei selbstbewusste junge Frauen, die nicht vorhaben sich von ihrem Vater bevormunden zu lassen. Diese Vision gerät mit der eher konservativen Mentalität des Dorfes in Konflikt, in dem ihr Vater lebt. Ana und Julia sind sich bewusst, dass die Welt ihnen gehört: “Tragen Sie diesen Lippenstift, um hübsch auszusehen?”, fragt ein alter Man, “Nein, ich trage ihn, damit ich die Welt schlucken kann”, antwortet Ju.

Gleichzeitig rast der Meteorit WF42 auf die Welt zu, der alles Leben auslöschen könnte, so wie es vor Jahrmillionen mit den Dinosauriern geschah. Die Bedeutung des Meteoriten nimmt im Laufe des Films zu, doch attraktiver als das fiktive Drama des Films sind jene Szenen, in denen die Schwestern im Rhythmus elektronischer Musik in eine Art traumhafte und subjektive Welt eintreten. Die ästhetische und musikalische Umsetzung versprüht einen gewissen Charme, doch der Hauptgeschichte fehlt es an Kraft, streckenweise ist sie langweilig und die Schauspieler*innen wirken unnatürlich.

Das bedeutet nicht, dass Irmã ein Film ist, der auf dem Festival verloren geht. Einer der interessanten Punkte des Debütfilms der Regisseur*innen Luciana Mazeto und Vinícius Kopesm ist der ästhetische und drehbuchschreibende Feminismus: Sie versuchen zu zeigen, wie manche Männer von der Vorstellung abgeschreckt werden, dass Frauen in der Lage sind, selbst zu entscheiden. Ein weiterer Aspekt, der dem Film Ehre macht: Irma ist eine Low-Budget-Produktion und mehr als die Hälfte des Teams sind Frauen.

Die Gründe sich für Irmã in den Kinosessel zu setzen, könnten dennoch eher mit der Anerkennung der Bemühungen zu tun haben, welche in die Realisierung des Projekts gesteckt wurden.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Newsletter abonnieren