EINE GÖTTLICHE DOMINA

© Gustavo Vinagre

Schlecht und gemein” heißt Vil, má auf Deutsch, aber der portugiesische Titel der Dokumentation des Brasilianers Gustavo Vinagre ist gleichzeitig auch der Vorname der Protagonistin: Wilma Azevedo, Schriftstellerin und Domina. Edivina” heißt dagegen Sie ist göttlich” und ist der bürgerliche Name vo Wilma, leidenschaftliche Mutter und Arbeiterin, die im patriarchalen brasilianischen Gesellschaftssystem für ihre Unabhängigkeit kämpft. Der Film ist in zwei Teile gegliedert, um die Geschichte dieser gespaltenen Persönlichkeit zu erzählen, spielt sich aber nur an einem Ort ab: Ein Wohnzimmer.

Im ersten Teil blickt die 74jährige Wilma Azevedo fest in die Kamera und erzählt im Laufe der folgenden 86 Minuten ihre Geschichte als Königin der Dominas und der sadomasochistischen Literatur Brasiliens. Ihre vielzähligen Anekdoten umfassen alle Elemente von BDSM-Sexualpraktiken: Bisse, Schläge, Sandpapier-Vibratoren, abgeschnürte männliche Geschlechtsteile und grüne Bananen. Die Dokumentation benutzt sparsame Kameraeinstellungen und überlässt die Hauptrolle Wilma und ihren Erzählungen, deren Anekdoten sie manchmal vergisst (einige dieser Geschichten werden von Wanda vorgelesen, einer Schauspielerin, die in einem fiktiven zukünftigen Film über Wilma mitspielt). Wilma begann ihre Karriere damit, in ihrer Rolle als Domina Zuschriften von Leser*innen erotischer Zeitschriften zu beantworten. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Zu ihren besten Zeiten bekam sie mehr als 300 Briefe von Menschen, die darin ihre Sadomaso-Fantasien gestanden. Aber Wilma beschränkte ihre Kreativität nicht nur auf den literarischen Bereich. Sie experimentierte darüber hinaus auch praktisch als Domina in einem Brasilien unter der Militärdiktatur, in dem BDSM ein verborgenes gesellschaftliches Tabu darstellte.

Im Film kommen außerdem nur wenige akustische Stilmittel vor, was den drei hörbaren Elementen, die vorkommen, ein unerwartetes Gewicht verleiht: Regen, Donner und der plötzliche Einsatz der Englischen Suite  Nº2 von Bach. Das Einsetzen des Donners ist auch der Wendepunkt der Erzählstruktur, der den zweiten Teil der Dokumentation ankündigt. Wilma verrät den Namen ihrer bürgerlichen Identität Edivina Ribeiro, die als Mädchen eine katholische Erziehung genoss, als Frau einen zehn Jahren älteren Mann heiratete, dessen Untreue sie entdeckte und die darum kämpfte, als Journalistin und Schriftstellerin zu arbeiten, um für ihre Familie zu sorgen, weil ihr Mann unter gesundheitlichen Problemen litt. Edvina erzählt von ihren sexuellen Erfahrungen seit ihrer Kindheit. In vielen davon konnte sie im Unterschied zu Wilma nichts kontrollieren, sondern befand sich im Gegensatz dazu durch männliche Fantasien in Gefahr. Beide Frauen ergänzen sich, genau wie die beiden Teile ds Films, und erlauben so der einen die Bedürfnisse der anderen zu erfüllen. Edivina erschafft Wilma und diese erlaubt wiederum Edivina, ihre sexuellen Begierden in die Tat umzusetzen.

Gustavo Vinagre geht sehr limitiert bei der Auswahl seiner Mittel für die Dokumentation vor (sparsamer Gebrauch von Archivaufnahmen, Kameraeinstellungen und akustischen Elementen). Die Entscheidung für diese audiovisuelle Gestaltung ist auch in seinen vorherigen Produktionen wiedererkennbar. Vil, má ist der dritte Dokumentarfilm einer Reihe, die er Trilogie des Ich” genannt hat und die zwei weitere Filme über Einzelpersonen einschließt: Recuerdos de las cuervas (Erinnerungen an die Raben, 2018) und La rosa azul de Novalis (Die blaue Blume von Novalis, 2019), der vergangenes Jahr im Forum der Berlinale gezeigt wurde.

In Vil, má sind die Gegenpole der Protagonistin, das Göttliche und das Gemeine, die Kontrastpunkte zwischen dem Individuum in der Gesellschaft und dessen innerer Welt. Dieser Widerspruch wurde von Edivina/Wilma aufgelöst, indem sie sich nicht den Zugang zu sich selbst verwehrte. Ganz im Gegenteil eröffnete sie dadurch beiden Frauen die Möglichkeit, zu koexistieren und sich zu entwickeln.

DOKUMENTIERTE DISTANZ

© Julia Hönemann/Zum Goldenen Lamm GmbH

Nachdem die deutsche Regisseurin Lin Sternal („Schattentänzer“, „Eismädchen“) aus der Zeitung von den Kanalbauplänen der nicaraguanischen Regierung erfahren hatte, entschloss sie sich, die Auswirkungen des geplanten Bauprojekts „El Gran Canal“ auf die lokale Bevölkerung festzuhalten. Aus diesem Entschluss ist der abendfüllende Dokumentarfilm Perro geworden, in dem das Filmteam den heranwachsenden Jugendlichen Perro begleitet. Dieser wohnt mit seiner Großmutter in einer jener Regionen des Regenwaldes, die dem Kanalbau weichen sollen.

Selten verlässt die Kamera den Protagonisten. Auf Augenhöhe folgt sie ihm auf dem Weg zur örtlichen Schule, beim Spielen am Strand und bei der Landarbeit auf der Finca seiner Großmutter. Im Laufe der Handlung entschließt sich Perro, den Hof seiner Großmutter zu verlassen und auf die weit entfernte städtische Schule zu gehen. Grund ist die vermehrte Schließung regionaler Schulen, wie die Zuschauer*innen aus dem portablen Radio erfahren. Jenes taucht hin und wieder am Bildrand auf, den einzigen Kontakt zur Außenwelt symbolisierend. Perros Entscheidung, die bedrohte Umgebung seiner Kindheit zu verlassen, bleibt dagegen ohne Worte und Bilder. Seine Gefühls- und Gedankenwelt bleibt seltsam entrückt, was wohl auch daran liegt, dass er kaum spricht. Die einzigen längeren Reden, die die Stille der Finca unterbrechen, sind die Gebete der Großmutter und Perros Bibellektüre. Diese Darstellung produziert in Kombination mit den ständigen Nahaufnahmen von Perro und seiner Großmutter, wenn sie harter körperlicher Arbeit nachgehen, ein eigenartiges Bild der lokalen Bevölkerung. Das Bild der wortkargen, bibeltreuen Regenwaldbewohner*innen, bekommt erst Risse, als Perro die „paradiesisch anmutende Lebenswelt, fernab der Zivilisation“ (Presseheft) verlässt und in der städtischen Schule auf Gleichaltrige trifft. In der Stadt gerät das Kanalbauprojekt jedoch völlig aus den Augen, erst am Ende wird erneut auf den politischen Kontext der Regierung Daniel Ortegas angespielt. Perro wird mit bedrückter Miene, geradezu verloren wirkend, in einer städtischen Menschenmenge gefilmt, im Hintergrund läuft ein sandinistisches Propagandalied. Es ist die letzte Szene des Films.

Im Film beeindrucken wiederholt die farbintensiven Landschaftsaufnahmen. Es sind mit die einzigen Momente, in denen sich die Kamera von ihrem Protagonisten löst. Das Schwelgen in der Schönheit des Regenwaldes, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Film den Anspruch verfehlt „herauszufinden, welchen Einfluss jener von außen gesteuerte Wandel auf das Innenleben [ihr]es Protagonisten hat“, wie sich die Regisseurin ausdrückt. Die Schwierigkeit den Zusammenhang zwischen dem Bauprojekt und Perros Alltag herzustellen, kann nur unzufriedenstellend mithilfe der Radioansagen gelöst werden. Eine Szene vor Perros Aufbruch in die Stadt: Im Bildvordergrund dröhnen aus dem Radio die Nachrichten über den Kanalbau und die Gegenproteste („Alle sollen auf die Straßen gehen“), während Perro im Bildhintergrund die Wiese mit der Machete mäht. Ob oder gar wie Perro die Nachrichten über den massiven Eingriff in sein Lebensumfeld aufnimmt, bleibt im Verborgenen.

In solchen Szenen wirken Perro und seine Großmutter nicht nur passiv gegenüber dem Megabauprojekt, sondern auch isoliert. Nur ein einziges Mal wird die Dorfgemeinde während eines Gottesdienstes gezeigt. Organisierung und Protest, so scheint es, finden nur weit entfernt statt, vermittelt durch die zittrige Stimme des Radiosprechers. Tatsächlich waren die Proteste der bäuerlichen, lokalen Bevölkerung (Movimiento Campesino Anticanal) die größte Mobilisierung in Nicaragua seit der Revolution (LN Nr. 514, LN Nr. 504) und trugen neben der Pleite des chinesischen Investors maßgeblich zum Stopp des Bauprojektes bei, das seit dem ersten Spatenstich auf Eis ruht.

Die Distanz zu Perro kann teilweise auf die „beobachtende“ Form der Dokumentation zurückgeführt werden. Damit läuft der Film jedoch soweit dem formulierten Anspruch entgegen, dass sich die Frage stellt, wieso diese Dokumentarform gewählt wurde. In Kombination mit klischeehaften Szenen, wie der eines blutigen Hahnenkampfes, kommt dagegen der Verdacht auf, dass dem Filmteam der „Kosmos“ ihres Protagonisten bis zum Ende genauso „fern und fremd“ blieb, wie es die Regisseurin über den Beginn ihrer Reise berichtet. Der Film hat auf der Berlinale Weltpremiere, läuft in der Sektion Generation Kplus (empfohlen ab 9 Jahren) und ist für den Berlinale Dokumentarfilmpreis nominiert.

WEIBLICHES UNIVERSUM

© Rebeca Rossato Siqueira/Rita Cine & Bomba Cine

Nach dem tragischen Unglück wird zuerst der Pool abgesperrt und notdürftig von den Blicken der Mädchen abgeschirmt. Die 12-jährige Cleo beobachtet mit ausdruckslosem Gesicht, wie zwei Handwerker die Sichtschutzwände im hinteren Teil des Gartens aufstellen. Sie scheint in einer anderen Welt zu sein, seitdem ihre kleine Schwester Erín genau dort ertrunken ist. Nach Eríns Tod dauert es Tage, bis ihre Tante und die drei Cousinen zu Cleo durchdringen, sie ablenken oder sie zum Essen bewegen können. Noch schlechter geht es ihrer Mutter, die nur noch vor dem Fernseher liegt und nicht auf Cleos Rufe reagiert.

Mamá, mamá, mamá, der Debütfilm der argentinischen Regisseurin Sol Berruezo Pichon-Rivière, spielt in einem Haus voller Frauen. In der schwierigen Phase nach Eríns Tod gesellen sich Tanten und Cousinen zu Cleo und ihrer Mutter, später auch die Großmutter. Väter oder andere Männer werden nicht erwähnt, die Handwerker im Garten sind die einzigen männlichen Personen im Film, eine Sprechrolle kommt ihnen jedoch nicht zu. Die gerade mal 24 Jahre alte Pichon-Riviére hat sich bei ihrem ersten Langfilmprojekt für eine fast ausschließlich weibliche Crew entschieden – vor wie hinter der Kamera. Zwei Schauspieler und einige Postproduzenten bilden die Ausnahme zwischen 24 Technikerinnen und 10 Schauspielerinnen. Der Film ist der erste Teil des größeren Projekts Crónica de mujeres en movimiento, „Chronik von Frauen in Bewegung“, das sich gegen die marginalisierte Rolle von Frauen in der männerdominierten Filmindustrie richtet.

Die Thematisierung und Aushandlung von Weiblichkeit erfolgt in Mamá, mamá, mamá formal und inhaltlich, explizit und implizit. Die Cousinen begleiten Cleo, jede auf ihre Art und Weise, durch die schwierige Zeit. Sie flechten sich Zöpfe, singen und tanzen zu Youtube-Videos, erzählen sich Geschichten und führen Cleo in ihre Geheimnisse und Rituale des Erwachsenwerdens ein. Diese Szenen sind im Detail und in blassen Farben aufgenommen und verschwimmen zu einer Art Polaroidaufnahme eines weiblichen Universums, in dem die gegenseitige Fürsorge das wichtigste ist. Der titelgebende Ruf nach der eigenen Mutter bleibt für Cleo jedoch lange unerwidert.

Mit gerade einmal einer Stunde Laufzeit entwirft Mamá, mamá, mamá keine echte Handlung, stellt aber in interessanter Weise eine emotionale Ausnahmesituation dar. Gerade die jungen Schauspielerinnen fallen durch ihre herausragenden Leistungen auf. Fraglich ist, ob der Film, der im Berlinale-Jugendprogramm Generation Kplus läuft und ab 11 Jahren empfohlen ist, tatsächlich so geeignet für junge Menschen ist. Erstens fehlt vielleicht gerade diesen eine lineare Handlung. Zweitens dient das Innere des Wohnhauses zwar als weiblicher Schutzraum, das Außen wird aber in jeglicher Hinsicht als Gefahr und Ort der Angst konstruiert. Die Cousinen fangen an, sich gegenseitig Gruselgeschichten von verschwindenden Mädchen erzählen – zweifelsohne eine wichtige Thematisierung der Gewalt, die Frauen* in Argentinien täglich erfahren – in der Konsequenz wird leider nur implizit angedeutet, dass starke Frauen sich gemeinsam gegen diese strukturelle Gewalt wehren können – eine explizit empowernde Botschaft bleibt leider aus. Auch die Repräsentation doch recht stereotyper Formen von Weiblichkeit in der Erziehung der Mädchen passen nicht so ganz zu einem Projekt mit dem lobenswerten und wichtigen Vorhaben, sich explizit für Geschlechtergerechtigkeit im Film einzusetzen. Der erste Schritt dorthin, nämlich zusammenzuhalten und füreinander da zu sein, erhält im Film aber eine sehr wichtige Rolle. Und vielleicht ist genau das Pichon-Riviéres wichtigste Botschaft an junge Zuschauer*innen.

VÖGEL AUF DER SUCHE

© Primo Filmes

Matias Marianis Filmdebüt Cidade Pássaro (englischer Titel: Shine your eyes) ist in doppelter Hinsicht kein typischer Film aus Brasilien. Zum einen zeigt er das Land, genauer die Stadt São Paulo, dezidiert aus der Perspektive eines Einwanderers, was im brasilianischen Kino eher die Ausnahme ist. Zum anderen erzählt der Regisseur eine so universelle Geschichte, dass sie leicht auch in anderen Städten der Welt angesiedelt sein könnte.

Amadi, ein afrikanischer Musiker, kommt in die größte Stadt Südamerikas, um seinen Bruder Ikenna zu suchen, der vor Jahren dorthin auswanderte und seit einiger Zeit unauffindbar ist. Zuhause in Nigeria wartet die Familie sehnsüchtig auf ihn. Vor allem seine Mutter hat hohe Erwartungen – als Erstgeborener soll Ikenna traditionsgemäß nach dem Tod seines Vaters Familienoberhaupt werden. In einer Aufnahme, die Amadi sich immer wieder anhört, spricht die Mutter per Telefon mit ihrem geliebten Ikenna und erklärt ihm, dass er zurückkommen müsse, weil niemand anderes seinen Platz einnehmen könne, auch Amadi nicht.

Hin- und hergerissen zwischen der Besorgnis und der Liebe zu seinem Bruder einerseits sowie geschwisterlicher Eifersucht andererseits, findet Amadi in einer schnitzeljagdartigen Spurensuche nach und nach immer mehr über das Leben seines Bruders heraus. Es beginnt ernüchternd: die Hochschule, an der er als Professor arbeiten soll, existiert gar nicht. Auch sein angebliches Haus, vom dem er seiner Familie Fotos schickte, stellt sich als Fassade heraus. Von seiner Familie hat er niemandem erzählt. Sein tatsächliches Leben bleibt lange rätselhaft: Wovor und warum ist Ikenna geflohen? Die Informationen, die Amadi zum Teil nur dank glücklicher Zufälle zusammentragen kann, folgen einem roten Faden: die Bemühungen Ikennas, sich mittels Musik, Physik und Zufallsforschung – etwa anhand von Pferdewetten – einen Reim auf für ihn grundlegende Fragen zu machen.

Dass dies einiges nicht nur mit Ikennas Verschwinden, sondern auch mit ihm und seiner Familie zu tun hat, ahnt Amadi zunächst nicht. Gleichzeitig muss er sich selbst zurechtfinden, denn Sprache und Land sind ihm fremd. Dies zeigt der Film auf einfühlsame Weise. Während Amadi anfangs so bald wie möglich seinen Auftrag erfüllen möchte, um nach Nigeria zurückkehren zu können, findet er mit der Zeit Gefallen am Leben in São Paulo. Auf diesem Weg helfen ihm verschiedene Menschen wie sein Onkel, bei dem er wohnen kann, ein Bekannter Ikennas, der Sohn eines ungarischen Einwanderers, und Emília, Ikennas brasilianische Ex-Geliebte, die Amadi schließlich Geborgenheit in der Fremde gibt. Die Orte, an die er dabei kommt, stehen stellvertretend für mögliche Stationen von neu Angekommenen: ein von afrikanischen Migrant*innen frequentiertes Einkaufszentrum, eine Herberge für Migrant*innen, ein besetztes Haus oder eine Dachterrasse, auf der man einfach nur gemeinsam Musik macht und sich entspannt.

Bevor es am Ende zur Auflösung der Fragen um Ikennas Verschwinden kommt, findet ein Perspektivwechsel statt: Der Blick eines Rätselnden weicht bei Amadi – und mit ihm den Zuschauer*innen – dem eines Verstehenden, im Hinblick auf Ikenna im Besonderen und die neue Umgebung im Allgemeinen.

Cidade Pássaro ist ein Film über die Suche nach sich selbst. Die Lebenswirklichkeit und Kultur einer Migrant*innen-Community – hier der nigerianischen Igbo – im Spannungsfeld einerseits des Umgangs mit positiven und negativen Seiten von Tradition und andererseits der Suche nach einer neuen Identität ist dafür ein passendes Umfeld. Die große, anonyme, chaotische Metropole São Paulo mit ihren Betonlandschaften ist dafür eine geeignete Bühne, wenn nicht gar eine weitere Hauptdarstellerin. Und die titelgebenden Vögel – immer wieder in Details wie einem Kinderlied oder einem Fenster präsent – ein schönes Motiv.

VERDREHT

© POETASTROS

„Zu viel Denken ist schlecht“ heißt es zu Beginn von EL TANGO DEL VIUDO. Und anfangs scheint viel Denken auch nicht nötig zu sein, um der Handlung des Films zu folgen: Professor Iriarte Gossens ist Witwer, seine Frau María hat sich umgebracht, nun lebt er zusammen mit seinem Neffen Joaquín einen Alltag zwischen der Herstellung nicht weiter erläuterter Flüssigkeiten, Wäschewaschen und Buchlektüre im Santiago der 1960er Jahre. Aufnahmen von alltäglichen Straßenszenen sind selten, die Kamera konzentriert sich vielmehr auf Details und Innenräume. Es wird schnell klar: Im Kopf des Professors ist nichts mehr normal. „Ich will nicht“, raunt er jedes Mal vor sich hin, wenn ihm seine verstorbene Frau erscheint – kichernd unter dem Mittagstisch, in Form einer über dem Boden schwebenden Perücke oder als ein Lachen unter dem Bett. Als seine fiebrigen Zustände immer schlimmer werden, macht sich ein befreundetes Ehepaar Sorgen. Es brauche eine neue Frau für den Professor, meint er; „wir Frauen sind keine Schlaftabletten“, meint sie und knipst das Licht aus.

In diesem Setting entwickelt sich die Handlung des Filmprojektes, das der chilenische Regisseur Raúl Ruiz unter dem Titel des gleichnamigen Neruda-Gedichts entworfen hat und dessen eigene Geschichte schon spannend genug ist: 1967 auf 16mm-Film gedreht und später auf 35mm kopiert, gerät EL TANGO DEL VIUDO wegen fehlender finanzieller Mittel für die Tonproduktion in Vergessenheit. Raúl Ruiz selbst geht nach dem Putsch 1973 ins französische Exil und wird mit Genealogien eines Verbrechens und der Proust-Verfilmung Die wiedergefundene Zeit international bekannt. Nie mehr wird er Gelegenheit oder Muße finden, seinen ersten Langfilm zu beenden.

Als Ruiz 2011 verstirbt, beschäftigt sich die Filmemacherin Valeria Sarmiento – seine Witwe – mehr und mehr mit seinem Frühwerk. Fünf Jahre später finden sie und ihr Team die Filmrollen von EL TANGO DEL VIUDO im Keller eines Theaters in Santiago. Sie produziert eine komplett neue Tonspur, lässt bekannte chilenischen Schauspieler*innen, darunter Sergio Hernández (Una mujer fantástica), dafür einsprechen und macht Jorge Arriagada für die Musik zuständig – eine exzellente Wahl, wie von Anfang an auffällt.

Die aufwendige Postproduktion, die 53 Jahre nach dem Dreh für das Berlinale Forum beendet wurde, schließt mit einem Zusatz für den Titel: EL TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante – „Der Tango des Witwers und sein verformender Spiegel“. Sehr treffend, ist doch das Produkt der Arbeit von Ruiz und Sarmiento ein Spiel mit der Zeit, welches die Grenzen zwischen Wahrheit und Wahn allmählich verlaufen lässt. Weite Teile der Handlung werden verzerrt und lassen sich auf einmal in Frage stellen – die Umstände des Todes von Professor Iriartes Ehefrau María inbegriffen. Die Geschichte dreht sich um sich selbst, kehrt sich um, verwirrt und beeindruckt zugleich. Schwer zu sagen, was der verstorbene Raúl Ruiz von seinem nun vollendeten Film gehalten hätte – Zuschauer*innen lässt der Streifen jedenfalls begeistert, wenn auch mit dem Gefühl, nicht ganz durchgeblickt zu haben, zurück. Doch, wie uns der Film lehrt: Zu viel Denken ist schlecht. Nach einer Stunde guter Unterhaltung und Verblüffung darüber, welche Geschichten Film schreiben kann, bleibt EL TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante sicher als etwas ganz Besonderes in Erinnerung.

CHILE IM FOKUS UND OHNE SCHUTZ

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Am Freitagabend, dem 27. Dezember 2019, füllte sich unser Herz mit dem Feuer der Hoffnungslosigkeit. Die chilenische Polizei setzte das historische Cine Arte Alameda („Kunstkino Alameda”) im Zentrum von Santiago durch eine Tränengasbombe, die sie auf das Dach schoss und die einen unkontrollierten Brand auslöste, in Flammen. Wir alle, die wir uns über zwanzig Jahre lang an diesem Ort getroffen und Filme gesehen hatten, standen entsetzt vor seinen Trümmern und dem komplett verbrannten Kinosaal.

In der gleichen Nacht, wenige Stunden später und nur einige Meter vom Kino entfernt, ertrank Mauricio Fredes in einem Graben, in den er vor einem Wasserwerfer fliehend  fiel. An diesem finsteren Freitag erkannten wir Chilen*innen so klar wie nie zuvor etwas, das wir bereits geahnt hatten: Dass es für uns keinen Schutz mehr vor Sebastián Piñeras Regierung gab. Während die Feuerwehrleute im Theater das Feuer löschten, mussten die Sanitäter*innen der Gesundheitsbrigaden, die in der Eingangshalle seit die Proteste begonnen hatten Verletzte versorgten, die Verwundeten ins Freie auf die mit Tränengas gefüllte Straße der Allee Alameda  bringen, wo die Polizei weiter mit Schrotkugeln auf die Anlage feuerte. Wie mir eine der Sanitäterinnen erzählte, verfehlte eine Kugel nur knapp ihr Gesicht, während sie gerade dabei war, einen verwundeten Jugendlichen zu versorgen.

Das Kino ist nicht nur ein Zufluchtsort für Filmliebhaber, die durch die auf die Leinwand projizierten Bilder in eine andere Welt eintauchen können, sondern auch weil seine Räumlichkeiten Treffpunkt, Mitbestimmungsort und Ort der Inklusion für alle diejenigen von uns sein können, die sich fremd in einem System fühlen, das uns ausbeutet und vergisst. Das ist das Cine Arte Alameda, ein Schutzraum für queere Menschen, Punks, Filmliebhaber*innen, wie auch für die Gesundheitsbrigaden, die auf der Straße die Rache der Polizei fürchten mussten.

Auf der anderen Seite der Welt ist die Berlinale immer einer der hoch geschätzten Schutzorte für Filmemacher*innen und Produzent*innen, die auf der ganzen Welt gegen solche und ähnliche Gewalttaten kämpfen, gewesen. So habe ich mich gefühlt, als ich 2016 dort in der Sektion Panorama mit Nunca vas a estar sólo („Du wirst nie allein sein”) von Regisseur Alex Anwandter Premiere feiern durfte. Der Film handelt davon, wie ein schwuler junger Mann in seinem Wohnviertel brutal zusammengeschlagen wird und zeigt die frenetische Suche nach Gerechtigkeit durch seinen Vater, der die hohen Krankenhauskosten nicht begleichen kann. Der Film gewann in diesem Jahr den “Teddy Jury Award” der Berlinale, in der gleichen Nacht, in der einer Trans*-Jugendlichen in einem anderen Armenviertel in Santiago de Chile durch Überschütten mit Säure das Gesicht verätzt wurde. Gegen diese Gewalt arbeiten wir und gegen diese Gewalt kommen wir zusammen.

Nach über hundert Tagen des Protests, 35 Toten, 25.000 Verhafteten, 400 an den Augen verletzten Personen und von der Polizei gefolterten Kindern und Jugendlichen, sind wir immer noch da. Wir stehen auf den Plätzen und schreien nach Würde, nach einem Leben, das es sich lohnt, zu leben, mit einer neuen Verfassung, die uns Chilen*innen eine neue Form der Verständigung erlaubt.

Obwohl dieses Jahr auf dem Festival besonders wichtig für unser Land ist, bleiben einige von uns zu Hause in Chile, um für die Kampagne für die Annahme einer neuen Verfassung zu arbeiten, die in einer verfassunggebenden Versammlung zu 100% von aus der Bevölkerung gewählten Bürger*innen geschrieben werden wird. Wir bleiben in Chile, damit diese neue Carta Magna auch als erste auf der ganzen Welt paritätisch geschrieben wird, damit sie anders ist, damit diese  Gewalt gegen unsere prekarisierten Körper und Lebensweisen aufhört.

Aber während ein paar von uns von uns zu Hause bleiben, um an einem besseren Land zu arbeiten, werden viele zur Berlinale reisen, denn Chile ist 2020 das “Land im Fokus” des Europäischen Film Markets 2020. Einige cineastische Kämpfer*innen für diese Prinzipien kommen in eure Stadt, aber auch Vertreter*innen des Ministeriums für Kunst und Kultur der Regierung von Sebastián Piñera, darunter die Ministerin Consuela Valdés und der stellvertretende Staatssekretär für Kultur, Juan Carlos Silva, die sich im Angesicht all dieser Gewalt in Schweigen gehüllt haben. Noch schlimmer, sie haben öffentlich die Politiker*innen die für ihre Ausführung verantwortlich waren, verteidigt, wie den früheren Innenminister Andrés Chadwick, der kürzlich vom Parlament wegen seiner politischen Verantwortung für die  Menschenrechtsverletzungen abgesetzt wurde. Kein Wort der Verteidigung oder der Unterstützung haben sie für die Künstler*innen geäußert, die ihr Augenlicht verloren haben, wie die in der Neujahrsnacht am Auge verletzte Fotografin und Videokünstlerin Nicole Kramm und sicherlich wird auch niemand bei den Veranstaltungen des EFM etwas dazu sagen.

Ja, das Gastland Chile hat eine Regierung, die die Menschenrechte verletzt, wie mehrere Berichte der UN, von Human Rights Watch, Amnesty International, der CIDH und weiterer Organisationen verdeutlichen. Diese Politiker*innen sind es, die das Treffen der Filmindustrie auf der Berlinale eröffnen werden, ein Festival, das nach den Prinzipien des Rechts auf ein Leben in Frieden, Pluralismus und gegenseitigem Respekt ausgerichtet ist.

Daher bitte ich Euch, Berliner*innen, dass ihr uns helft. Kommt und protestiert vor dem Martin-Gropius-Bau, ruft eure Abgeordneten an und helft uns laut und klar zu fordern: „Nie wieder!”, denn diese Botschaft gegen den Faschismus hallt in euren Straßen genauso laut wieder wie in unseren, weil ich sicher bin, dass euer Kampf auch unserer ist.  In diesen Tagen brauchen wir eure internationale Solidarität. Lasst uns nicht allein bei unserer Suche nach neuen Schutzorten vor dieser unkontrollierten polizeilichen Gewalt. Wir brauchen neue Verbündete gegen die Straflosigkeit und wir hoffen, dass das Kino weiterhin eine*r von ihnen bleibt.

CHILE EN FOCO Y SIN REFUGIOS

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

La tarde del viernes 27 de Diciembre del año recién pasado nuestro corazón se incendió de
desesperanza. La policía chilena quemó el histórico Cine Arte Alameda, en pleno centro de
Santiago, luego de lanzar una bomba lacrimógena sobre su techo que inició un fuego
descontrolado. Todos quienes habíamos visto películas y reunido allí por más de 20 años nos detuvimos atemorizados frente a las cenizas del lugar, su sala de cine completamente destruida.
Esa misma noche y solo unas horas más tarde, a unos metros del cine, Mauricio Fredes murió ahogado en una fosa por efecto del carro lanza aguas. Ese viernes oscuro los chilenos vimos con más claridad que nunca algo que no queríamos creer : no nos quedan refugios frente al Gobierno de Sebastián Piñera. A medida que los bomberos apagaban el fuego, las paramédicas de las brigadas de salud, quienes habían estado atendiendo en el hall del cine desde que comenzó la revuelta en Octubre, tuvieron que llevar a los heridos hacia afuera, en medio del gas lacrimógeno y los balines de metal que la policía seguía disparando desde la calle hacia las instalaciones. Una de las paramédicas me relató que uno de los balines pasó justo al lado de su cara mientras protegía a uno de sus adolescentes heridos.
El cine es un refugio no sólo para los amantes del cine, que pueden imaginar un mundo distinto en las imágenes proyectadas sobre la pantalla, si no también porque sus espacios físicos tienen la capacidad de ser lugares de encuentro, de participación, de inclusión para todos aquellos que nos sentimos ajenos a un sistema que nos explota y nos olvida. Eso es el Cine Arte Alameda, un refugio queer, punk, cinéfilo, y también un refugio para las brigadas de salud, amedrentadas con venganza en las calles por la policía.
Al otro lado del mundo, la Berlinale ha sido uno de esos preciados refugios para tantos cineastas y productores que luchan contra estas violencias alrededor del mundo. Así lo sentí cuando el 2016 llegué a estrenar en Panorama “Nunca vas a estar solo”, un film dirigido por Alex Anwandter que retrata la brutal golpiza que un joven gay recibe en su barrio y la frenética búsqueda por justicia que su padre debe emprender al no poder pagar las cuentas del hospital. Nuestra película ganó el Teddy Jury Award ese año, la misma noche que una joven trans fue quemada con ácido en su cara en otro barrio pobre de Santiago. Contra esa violencia nos cansamos y nos unimos. Después de más de 100 días de protesta, de 35 personas muertas, 30.000 detenidos, 400 heridas oculares, de niños y niñas torturados por la policía, seguimos acá, en la plazas pidiendo dignidad, pidiendo una vida que valga la pena vivir, una constitución que nos permita entendernos de una nueva forma.
A pesar de ser un importante año para nuestro país en el festival varios nos quedamos en Chile, haciendo campaña para que podamos ganar el Apruebo una Nueva Constitución, escrita 100% por ciudadanos electos por el pueblo, en una Convención Constitucional. Nos quedamos en Chile para que esa nueva carta magna sea escrita de forma paritaria por primera vez en el mundo, para que sea disidente, para que termine esta violencia contra nuestros cuerpos y vidas precarizadas.
Mientras algunos nos quedamos trabajando por un país más justo muchos viajarán a la Berlinale, pues Chile es el País en Foco del European Film Market 2020. Algunos cineastas luchadores de estos mismos principios llegarán a su ciudad, pero también representantes del Ministerio de las Culturas y las Artes del gobierno de Sebastián Piñera, como el Subsecretario de las Culturas, Juan Carlos Silva, quienes han guardado silencio luego de toda esta violencia. Peor aún, públicamente han defendido a los políticos a cargo de ejercerla, como defendieron al ex Ministro del Interior Andrés Chadwick, quien terminó destituido en el Congreso por su responsabilidad en las violaciones a DDHH. Ninguna palabra de defensa o apoyo han dicho por los artistas que han perdido su visión como Nicole Kramm, audiovisual y fotógrafa herida en un ojo la noche de Año
Nuevo y seguramente ninguna dirán en los eventos del EFM.
Sí, Chile país en foco tiene un gobierno violador de los derechos humanos según constan en los serios informes elaborados por la ONU, Human Rights Watch, Amnistía Internacional, CIDH, entre otros. Esos políticos serán quienes abran el encuentro de industria de la Berlinale, un festival orientado precisamente en torno al derecho de vivir en paz, del respeto y del pluralismo.
Por eso les pido, Berlineses, que nos ayuden. Vayan y protesten en las afueras del Martin Gropius Bau, llamen a sus representantes, ayúdennos a pedir fuerte y claro ‘Nunca Más’, porque esa frase contra el fascismo resuena tan fuerte en sus calles como las nuestras, porque estoy segura que nuestra lucha es la misma. Es en estos días que necesitamos de su solidaridad internacional. No nos dejen solos pues buscamos nuevos refugios frente a esta violencia descontrolada, necesitamos nuevos aliados contra esta impunidad y esperamos que el cine siga siendo uno de ellos.

ALLES IST MÖGLICH, NUR NICHT HIER

© Varsovia Films

Während die Jugendlichen aus dem Viertel sich die Zeit damit vertreiben, Billigbier aus abgeschnittenen Plastikflaschen zu trinken, Handymusik zu hören und im Laufe des Abends in Zweierkonstellationen in den dunklen Treppenaufgängen verschwinden, läuft Iris mit ihrem Basketball durch die Straßen von Corrientes im Nordosten Argentiniens. Clarisa Navas, die Regisseurin von Las Mil y Una, hat für ihren zweiten Langfilm, den Eröffnungsfilm des diesjährigen Berlinale-Panoramas, die eigene Geburtsstadt als Dreh- und Handlungsort gewählt.
Beton dominiert das Erscheinungsbild der Sozialbausiedlung, in der Iris lebt. Aus den Wohnungen schallen laute Stimmen, eine Mischung aus Bachata und Fernsehprogrammen im Hintergrund. Ein eigenes Zimmer in der Wohnung, wie Iris es hat, ist Luxus. Doch nicht einmal dort entkommt sie den Streitereien ihrer Familie und dem Lärm. Zuflucht findet Iris beim Basketball und den zwei besten Freunden, ihren Cousins. Das Leben der Protagonistin gestaltet sich recht monoton, zur Schule geht die 17-Jährige nicht mehr, „wozu auch?“ fragt sie sich, eine Aussicht auf einen gut bezahlten Job scheint ohnehin in weiter Ferne.

Vieles ändert sich, als Renata im Viertel auftaucht. Sofort erweckt sie Iris‘ Interesse. Während Renata cool und abgebrüht auftritt, zeigt sich Iris unerfahren. Voneinander angetan begeben sie sich gemeinsam auf die Suche nach Orten in der Siedlung, an denen sie für sich sein können. Doch das ist gar nicht so einfach, denn das Viertel scheint überall Augen und Ohren zu haben. Schon bald machen verschiedenste Gerüchte über Renata die Runde. Die Freiheit, die Iris draußen sonst verspürt hat, verwandelt sich in Renatas Gegenwart in Enge, denn nirgendwo können sie sich aufhalten, ohne dass getuschelt und gegafft wird.

Las Mil y Una nimmt sich viel Zeit für diese Geschichte über das Leben junger Menschen in Corrientes. Zwischen oft fehlender elterlicher Fürsorge und gesellschaftlicher Akzeptanz setzt die Regisseurin Clarisa Navas in zwei Stunden einen detaillierten und lebensnahen Raum zusammen, in dem sich junge Erwachsene sexuell wie emotional ausprobieren und in dem es keine Grenzen zu geben scheint. Mehr als einmal wird das Gegenteil bewiesen. Wer hier viel Handlung oder ein spannendes Coming-of-Age-Drama erwartet, wird enttäuscht. Trotzdem ist Navas‘ Beitrag zum diesjährigen Berlinale-Panorama sehenswert: Die starken schauspielerischen Leistungen von Sofía Cabrera und Ana Carolina Garcia, die Iris und Renata verkörpern, lassen diesen ohnehin schon dokumentarisch anmutenden Film noch realistischer wirken.Überzeugend zeigt Las Mil y Una eine oft unterrepräsentierte Seite der Gesellschaft: Menschen in prekären und informellen Arbeits-, Lebens- und Liebesverhältnissen, die sich irgendwie durchschlagen und vom Rest der Gesellschaft vergessen wurden. Der Film zeigt jedoch nicht nur den Kontrast zwischen unterschiedlich privilegierten gesellschaftlichen Schichten, sondern macht deutlich, wie besonders für junge Menschen soziale Bindungen und Rückzugsräume entscheidend sind, wenn draußen Mobbing und Konkurrenzkampf das Leben dominieren. Es wird versucht, im Hier und Jetzt so gut wie möglich zu überleben, für große Träume ist in der Enge der Siedlung kein Platz. Ein unbesorgtes Leben frei von Diskriminierung und Armut bleibt für viele unvorstellbar. Und während Iris noch überlegt, wie sie in Zukunft leben möchte, steht für Renata bereits fest, dass sie nur noch weg will. Denn alles ist möglich, nur nicht hier.

UNGEAHNTE REALITÄTEN

© Spectre Productions, Stenar Projects

Kurzfilm-Fans haben es bei der Berlinale nicht immer leicht. Im Programm finden sich zwar meist zahlreiche Beiträge des Formats, aber neben dem offiziellen Programm Berlinale Shorts sind viele in anderen Sektionen versteckt. Abgesehen davon macht auch die fehlende regionale oder thematische Einteilung die Entscheidung für einen Kurzfilmblock oft schwierig. Umso schöner, dass die Berlinale-Sektion Forum Expanded dieses Jahr drei halbstündige Kurzdokumentationen aus Lateinamerika im Paket zeigt, die noch dazu ähnliche Themen behandeln (indigene bzw. rurale Gemeinschaften). Ein gelungenes Experiment, denn alle drei Filme sind durchaus sehenswert.

Die Reise in entlegene Regionen des südamerikanischen Kontinents führt zunächst nach Kolumbien. In Jiíbie zeigt Regisseurin Laura Huertas Millán die traditionelle Herstellung von grünem Koka-Pulver in der indigenen Gemeinschaft der Muiná-Muruí im kolumbianischen Amazonasgebiet. Für die Muiná-Muruí ist die Koka-Pflanze ein heiliges Medium, das für rituell-spirituelle und medizinische Zwecke benutzt wird. An rituellen Stätten, den Malokas wird das Jíibie oder Mambe genannte Pulver während gemeinschaftlicher Versammlungen konsumiert, um den kommunikativen Austausch und die Entscheidungsfindung zu fördern. Anders als das mit Chemie vermischte weiße Kokain ist Jíibie ein rein natürliches Produkt, das nur aus den Blättern des Kokastrauchs und des Yarumobaums besteht. Der Film zeigt in ruhigen Bildern die traditionelle Verarbeitung der Pflanzen (Ernte, Rösten, Mahlen, Koka mit Yarumo-Asche mischen, Sieben), untermalt mit rituellen Erzählungen der Muiná-Muruí. So kreiert Jiíbie ein gutes Gefühl für die spezielle Bedeutung der heiligen Pflanze, ohne allerdings Aufnahmen der Versammlungen, auf denen das Koka-Pulver als Vermittlung zur kollektiven Erfahrung eingesetzt wird, zu zeigen.

Weniger meditativ geht es in Jogos Dirigidos von Regisseur Jonathas de Andrade zu. Der Film zeigt die Bewohner*innen der 900-Seelen-Gemeinde Várzea Queimada („Verbrannte Ebene“) im Hinterland des nordöstlichen brasilianischen Bundesstaates Piauí. Die Besonderheit der Siedlung besteht darin, dass dort überdurchschnittlich viele taubstumme Menschen leben. Die kommunale Infrastruktur ist jedoch sehr schwach ausgeprägt, so dass für sie keine Gebärdendolmetscher*innen zur Verfügung stehen. Statt zu jammern, hat die Dorfgemeinschaft aber aus der Not eine Tugend gemacht und kurzerhand ihre eigene Gebärdensprache erfunden. Die ist, wie im Film schnell klar wird, sehr lebendig und expressiv und auch für Nicht-Eingeweihte relativ leicht verständlich. Die Aufnahmen zeigen die titelgebenden Jogos Dirigidos („angeleitete Spiele“), bei denen die Bewohner*innen mit großer Begeisterung Kinderspiele wie Stuhltanz oder Ochs am Berg durchführen und dann auf einer Bühne in der selbst entwickelten Gebärdensprache Geschichten aus ihrem Leben preisgeben. Dabei werden die Erzählungen zunächst meist ohne Erklärung gezeigt und danach noch einmal mit Untertitelung der wichtigsten Wörter und Ausdrücke wiederholt. Interessant ist das nicht nur aus sprachlichen Gesichtspunkten, sondern auch, weil die Geschichten viel über das nicht immer einfache Leben in der ländlichen Umgebung der brasilianischen Peripherie verraten. Die Lebensfreude der Bewohner*innen und deren oft emotionale Reaktionen beim Spiel und beim Hören der Geschichten machen Jogos Dirigidos zu einem aufschlussreichen und vergnüglichen Filmerlebnis.

Den Abschluss der Trilogie bildet der ebenfalls brasilianische Beitrag Apiyemiyekî? von Regisseurin Ana Vaz. Der Titel bedeutet „Warum?“ in der Sprache der indigenen Gruppe der Waimiri-Atroari aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. Diese wurden Opfer des größten Genozids unter der Herrschaft der brasilianischen Militärdiktatur, der Film erzählt ihre Geschichte. Weil die Regierung Mitte der 1970er Jahre eine Straße nach Manaús baute, vertrieb sie die Waimiri-Atroari mit brutalen Mitteln aus ihrem Territorium, das auf dem Weg dorthin lag. Durch chemische Waffen wie Napalm und Massenexekutionen mit Macheten und Gewehren wurden bis zu 3000 Menschen ermordet. Erst 2019 kam es zum Prozess gegen die Regierung, der bis heute andauert.

Die Regisseurin verwendet für die künstlerisch ansprechende Dokumentation gemalte Bilder und erste schriftliche Zeugnisse der kurz vor dem Terror der Militärs alphabetisierten Mitglieder der indigenen Gemeinschaft. Visuell aufwändig werden diese wie transparente Folien über die reale Naturlandschaft des Gebietes der Waimiri-Atroari gelegt. Besonders gut gelingt dies bei den Aufnahmen von fließendem Wasser, auf die gezeichnete Boote montiert werden. Die grafischen und schriftlichen Zeugnisse dienen als Beweisstücke im Prozess gegen den Staat und bewahren eine kollektive Erinnerung der grausamen Begegnung mit den sogenannten „zivilisierten Menschen“. Die Frage nach dem Warum der Tötungen durch die „Zivilisierten“ wurde von den Indigenen am häufigsten gestellt und deshalb auch als Titel des Films ausgewählt. Mit Apiyemiyekî? ist Ana Vaz eine eindrucksvolle und visuell ambitionierte Verarbeitung eines der düstersten Kapitel der brasilianischen Militärdiktatur gelungen, die im Grunde einen Langfilm verdient hätte.

Das verbindende Element zwischen den drei filmischen Beiträgen ist der Einblick in lateinamerikanische Welten, deren Realitäten bislang vielen nicht bekannt sein dürften und die einfühlsam und informativ auf die Leinwand transportiert werden. Bleibt zu hoffen, dass trotz der etwas versteckten Platzierung als Programm 6 der Experimentalfilm-Sektion Forum Expanded viele diese empfehlenswerte Kurzfilm-Trilogie im Programm entdecken und auf dem Festival ansehen.

TRANS, SCHWER ZU SCHLAGEN

© Beija Flor Filmes

Also Leute, ihr kennt mich als Alice Júnior. Ich bin trans, schwer zu schlagen und bereit für alles, was da so kommen mag!“ So beginnt die 14-jährige, charismatische Trans*-Teenagerin Alice (Anne Celestino Mota) ihre Morgenroutine als Youtuberin in Recife, der weltoffenen Metropole im Nordosten Brasiliens. Als sie ihr neuestes Video dreht, platzt ihr Vater Jean (Emmanuel Rosset) ins Zimmer, der ihr mitteilt, dass sie aufgrund seines Jobs in eine kleine, konservative Stadt in den Süden Brasiliens ziehen müssen. In dieser Kleinstadt scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Vor allem die katholische Schule, die Alice nun besuchen soll jagt ihr zunächst einen Schock ein – kein leichter Neuanfang. Als die Schulleiterin sie auch noch zwingt, die Schuluniform für Jungen zu tragen (ein Albtraum für die modebewusste Teenagerin), möchte sie am liebsten sofort nach Recife zurückkehren.

Doch natürlich gibt Alice so schnell nicht auf. Anders als in vielen Filmen, die sexuelle Minderheiten thematisieren, wird in diesem nicht die Geschichte eines Opfers, sondern die einer Heldin erzählt. Die hat unter anderem das Glück, von ihrem französischstämmigen Vater, der sie sehr liebt, unterstützt und verwöhnt zu werden. Auch in der Schule stehen der Newcomerin bei Weitem nicht alle Klassenkamerad*innen und Lehrer*innen feindlich gegenüber. Alice, die auf der Suche nach ihrem ersten Kuss ist, erobert durch ihren starken Charakter, ihren Witz und ihre Lebensfreude schnell die Herzen von Mitschüler*innen und Kino-Zuschauer*innen. Das liegt vor allem an der herausragenden Hauptdarstellerin, die in ihrer Rolle so aufgeht, dass man glauben könnte, die Figur Alice würde nicht nur im Film, sondern auch im echten Leben herumspazieren.

Vom vielfach ausgezeichneten Regisseur Gil Baroni war von Anfang an vorgesehen, dass eine Trans*person die Rolle besetzt. Und wohl keine*r hätte Alice Júnior besser verkörpern können als Anne Celestino Mota, die im wahren Leben eine national bekannte Bloggerin und Trans*-Aktivistin ist. Für ihre Performance wurde sie in Brasilien bereits mit zwei Preisen als beste Schauspielerin belohnt. Vom Filmanfang bis zum Ende fiebert man mit und freut sich mit ihr über neue Freundschaften und positive Veränderungen, die sie in ihrer neuen Schule erreicht. Vor allem die mal resoluten, mal kreativen Methoden, mit denen sie sich in der vorurteilsgeprägten, konservativ-religiösen Kleinstadtwelt durchsetzt, sind beeindruckend und ermutigend. Aber auch im Kontakt mit ihren neuen besten Freund*innen Viviane (Thaís Schier, Preis für die beste Nebendarstellerin auf dem Filmfestival von Brasilia) und Bruno (Matheus Mora) oder anderen Schüler*innen kommt Alice/Anne wie das ganze Ensemble sehr authentisch und spielfreudig rüber. Da glaubt man Gil Baroni ohne Weiteres, wenn er verrät, dass der Filmdreh dem ganzen Team sehr viel Spaß bereitet hat.

Besonders ansprechend gestaltet ist der Film für Jugendliche, da er stilistisch die digitale Welt widerspiegelt: Mit Glitzer, Emojis, schrillen Soundeffekten und schnellen Bildwechseln erreicht Alice Júnior locker den aktuellen State of the (Youtube-) Art. Einen wichtigen Stellenwert nimmt auch die gelungen ausgewählte Musik (meistens brasilianischer Funk) ein. Viele Lieder werden von “Funkeirxs” gesungen, die gesellschaftliche Tabus brechen, wie z.B. von MC Xuxú, einem Travesti-Künstler und Feministen (Um beijo para as travestis” – „Ein Kuss für die Transvestiten”) oder der Drag Queen Gloria Groove aus São Paulo.

Alice Júnior ist aber nicht nur ein Film, sondern in Zeiten des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro, unter dem es sich in Brasilien für sexuelle Minderheiten gefährlich lebt, auch ein wichtiges Empowerment für Trans*-Personen. Zwar findet glücklicherweise nach wie vor am 29. Januar der „Día da Visibilidade Trans” („Tag der Trans*-Sichtbarkeit”) statt, der durch Travestis und Transgenderpersonen initiiert wurde und auf Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung aufmerksam macht. Dennoch wurden allein im Jahr 2019 in Brasilien mindestens 124 Transgender-Personen ermordet. Und genau wie die Protagonistin im Film ständig mit ihrem männlichen Geburtsnamen konfrontiert wird und sich ihren selbst gewählten Namen erkämpfen muss, erging es der Schauspielerin Anne Celestino Mota auch im wirklichen Leben. Oft werde ich gefragt: Was ist dein richtiger Name? Sie leugnen meine Identität, als ob sie leugnen würden, dass ich eine Frau bin.” Genau aus diesem Grund sieht die aus Recife stammende Bloggerin Alice Junior auch als repräsentativen Film für die Transgender-Community, der nach ihrer Auffassung die Meinung der Menschen verändern kann. Alice ist ein Transgendermädchen und ihre Existenz ist ein Synonym für Widerstand”, bestätigt der aus Guarapava (Südbrasilien) stammende Regisseur Baroni. Wir durchleben schwierige Momente in Brasilien, wo Exklusions-Reden Raum gewinnen, Hass schüren, Angst und Unsicherheit hervorrufen.” Umso wichtiger ist es, dass Filmemacher*innen wie er sich in ihren Werken mit Themen wie Empowerment von Minderheiten, Geschlechtergerechtigkeit, Klassenkampf und LGBTIQ-Anliegen beschäftigen. So wie Alice Junior, der in Brasilien bereits 8 Preise gewonnen hat (unter anderem beim renommierten Rio International Film Festival) und eine klare Message vermittelt: Soziale Barrieren sind künstlich, von der Gesellschaft geschaffen und diskriminieren Menschen, die anders sind. Stattdessen sollte die Schönheit, die in der Diversität liegt, gefeiert werden, denn wahre Liebe und Menschlichkeit kennen keine Grenzen.

DAS LEBEN IST KEIN FREIZEITPARK

© Octavio Arauz

“We want to go Disney – one ticket please!“ schreien Max und Leo immer und immer wieder und stören damit Lucías Schlaf. Ihre Mutter ist müde, weil sie wie so oft die Nacht durchgearbeitet hat. Die 8 und 5 Jahre alten Brüder haben ein berechtigtes Anliegen: Wenn sie Englisch sprechen, das hat Lucía ihnen versprochen, dann fahren sie endlich alle zusammen nach Disneyland. Doch ihre Mutter kann den Wunsch nicht erfüllen, weil sie weder Zeit noch Geld hat. Allmählich wird den Beiden klar: Obwohl sie die Sprache mittlerweile ein bisschen können, wird sich ihr Wunsch so schnell nicht erfüllen.

Die Einzimmerwohnung der kleinen Familie im US-amerikanischen Albuquerque, New Mexico (bekannt aus der Erfolgsserie Breaking Bad) grenzt die Welt, in der sich Los Lobos („Die Wölfe“), der zweite Berlinale-Beitrag des mexikanischen Regisseurs Samuel Kishi Leopo abspielt, weitgehend ein. Wenig ist bekannt von der Vorgeschichte der Drei in Mexiko. Der Vater, ein Polizist, hat die Familie schon lange verlassen (die Kinder haben keine Erinnerungen mehr an ihn), sodass sich Lucía ohne viel Geld, Gepäck und Englischkenntnisse mit Max und Leo auf die Reise in die USA gemacht hat. Vorgeblich ist es ein Tourismus-Trip nach – richtig – Disneyland, tatsächlich hat Lucía nicht vor, nach Mexiko zurückzukehren. Im neuen Land aber läuft zunächst alles ganz und gar nicht so glamourös, wie sich zumindest die Kinder das ausgemalt haben. Die Wohnung ist klein, hat keine Möbel und ist zu Beginn sehr schmutzig. Ihre Mutter muss viel arbeiten und ist deshalb oft müde und gestresst, das Geld ist knapp. In eine Schule können die beiden als illegale Migranten auch noch nicht gehen. Und zu allem Überfluss müssen sie sieben strenge Hausregeln beachten: So sollen sie zum Beispiel unter keinen Umständen vor die Tür gehen, weil das Viertel, in dem sie untergebracht sind, dafür zu gefährlich ist. „Ihr seid starke Wölfe. Ihr weint nicht, sondern beißt und verteidigt euer Zuhause“, schärft Lucía ihren Söhnen ein. Doch sie selbst ist zu oft und zu lange außer Haus, als dass vor allem der ältere Max sich auf Dauer mit einer Fantasiewelt aus Cartoons und Spielen zu zweit zufriedengeben würde.

Regisseur Leopo hat Los Lobos aus autobiografischen Erlebnissen konstruiert und für den Film fiktionale und dokumentarische Elemente vermischt. Herausgekommen ist eine einfühlsame Migrations- und Familiengeschichte, die allerdings ihre Längen hat und einige Zeit braucht, bis sie richtig in die Gänge kommt. Die guten schauspielerischen Leistungen trösten darüber jedoch meist hinweg. Stark ist vor allem Martha Reyes Arias als liebevolle, aber überforderte Mutter. Los Lobos ist zwar offenkundig nicht in der Aktualität verortet (ein Handy würde viele Probleme im Film schnell lösen), zeigt jedoch einige zeitlose Probleme für (illegale) Migrant*innen auf und macht deren oft prekäre Lebensverhältnisse auch für Kinder gut versteh- und erfahrbar. Der Film läuft auf der Berlinale im Kinderprogramm Generation Kplus und ist ab 9 Jahren empfohlen.

Los Lobos // Samuel Kishi Leopo // Mexiko 2019 // 94 Minuten // Europäische Premiere // Generation Kplus

Link zum Trailer

 

Spielzeiten auf der Berlinale
Montag, 24.02.10:00, Urania
Dienstag, 25.02.14:00, Zoo Palast 2
Mittwoch, 26.02.09:30, Filmtheater am Friedrichshain
Donnerstag, 27.02. 14:00, Cubix 8
Sonntag, 01.03. 14:00, CinemaxX 1

Deutsch eingesprochen | Kopfhörer für OV

MEHR SKEPSIS ALS AUFBRUCHSTIMMUNG


© Aline Motta

Grund zur Hoffnung bestand durchaus. Nach 18 Jahren ging die Ära des Festival-Leiters Dieter Kosslick mit der letzten Berlinale zu Ende. Dieser hatte sich um das Filmfestival verdient gemacht, konnte in den letzten Jahren aber weder für größere Anziehungskraft noch für Innovation sorgen. Auf der neuen Doppelspitze aus künstlerischem Leiter Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, die von einer dreiköpfigen Findungskommission (in der letztere praktischerweise selbst saß) ernannt wurde, ruhten hohe Erwartungen. Schlanker sollte die 70. Ausgabe der Berlinale werden, übersichtlicher die Sektionen, das künstlerische Niveau sollte wieder steigen. Und natürlich sollte der Anspruch an Diversität und politische Relevanz, den die Berlinale sich mehr als alle anderen großen Filmfestivals auf die Fahne schreibt, weiter erfüllt werden.

Endgültige Schlüsse sollte man vor Beginn der Veranstaltung natürlich noch nicht ziehen. Aber ein wenig Enttäuschung macht sich schon breit beim Blick auf das, was personell und programmatisch bisher passiert, oder besser, nicht passiert ist. Da wäre zunächst Jeremy Irons als Jury-Präsident. Es ist bereits 20 Jahre her, dass eine Jury-Leitung zwei Mal hintereinander von einer Frau verantwortet wurde, von mehr geschlechtlicher Diversität gar nicht erst zu sprechen. Nun wurde es mit Jeremy Irons mal wieder ein alter, weißer Mann aus Europa, der in den letzten Jahren auch noch mit sexistischen und homophoben Äußerungen (von denen er sich später allerdings distanzierte) negativ aufgefallen war. Bei den Sektionen tat sich bis auf die Abschaffung der indigenen Native-Reihe und der Einführung des neuen Formats Encounters, bei dem es schwer fällt, darin mehr als ein Panorama mit Preisverleihung zu erkennen, auch nicht besonders viel. Kurzfilme und Perspektive Deutsches Kino wurden im Umfang stark verringert, ansonsten geht es im Grunde weiter wie bisher. Für einen echten Neuanfang ist das zumindest unter Diversitätsgesichtspunkten deutlich zu wenig.

Die aktuellen Proteste in Chile sind unerwähnt

Auch, was das lateinamerikanische Kino auf dem Festival angeht, setzen sich eher die Trends der letzten Jahre fort. Das betrifft vor allem die starke regionale Konzentration der Filme. Von den bislang bekanntgegebenen 33 Beiträgen aus oder über Lateinamerika stammen 26 aus den Mercosur-Staaten. Brasilien ist dabei an nicht weniger als 18 beteiligt – eventuell ein letzter kreativer Höhepunkt, bevor die drastische Kürzung der Filmförderung durch das Bolsonaro-Regime ihre Wirkung zeigt. Chile ist „Country im Fokus“ des diesjährigen European Film Market (EFM), im Festival laufen allerdings nur zwei Beiträge mit chilenischer Beteiligung: eine Montage eines 50 Jahre alten Films und eine multinationale Produktion. Zudem wird für den EFM ein „exciting program“ versprochen, die aktuellen Proteste in Chile aber mit keiner Silbe erwähnt. Offensichtlich hat hier die Partnerschaft mit den chilenischen Regierungsinstitutionen einen höheren Stellenwert als die aktuell brisante politische Situation (siehe S. 30), die sicher auch viele Filmschaffende beschäftigt.

All das soll aber nicht die Vorfreude auf die Filme aus Lateinamerika schmälern, bei denen es sicher wieder einige Perlen zu entdecken gibt. Im Wettbewerb waren die Titel bis Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht, auf mehr als ein oder zwei Filme aus Lateinamerika sollte man sich allerdings keine Hoffnung machen. Dafür nehmen zwei Beiträge aus dem Subkontinent an der neuen Sektion Encounters teil, für die auch Preise vergeben werden. Isabella (Argentinien) handelt von einer jungen Schauspielerin in Buenos Aires, die über mehrere Jahre versucht, die Hauptrolle in einem Shakespeare-Stück zu ergattern. In Los conductos (Kolumbien) versucht der lange von der Polizei gesuchte Protagonist sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.

Die beim Publikum beliebte Panorama-Sektion ist mit sechs Filmen aus Lateinamerika gut besetzt, vier von ihnen stammen aus Brasilien. In Cidade Pássaro macht sich der nigerianische Musiker Amadi auf die Suche nach seinem in São Paulo verschwundenen Bruder. Der trockene Wind, Vento Seco, bringt mit dem Neuankömmling Maicon Abwechslung in das eintönige (Liebes-)Leben von Sandro in einer ländlichen Kleinstadt. O reflexo do lago ist eine Dokumentation über eines der größten Wasserkraftwerke der Welt im Amazonasgebiet. Den Einwohner*innen der Region wurde durch die Schaffung des Stausees Entwicklung versprochen, stattdessen haben sie bis heute paradoxerweise nicht einmal Zugang zu elektrischen Strom. Auch Nardjes A. ist eine politische Dokumentation, in der der brasilianische Regisseur Karim Aïnouz eine junge algerische Aktivistin bei den Protesten in ihrem Heimatland begleitet. Aus Argentinien kommen die Beiträge Un crimen común, in dem der Sohn einer Hausangestellten tot aufgefunden wird, nachdem er in der Nacht zuvor nicht ins Haus gelassen wurde und Las mil y una, ein Coming-of-Age-Film, in dem Renata und Iris in einem feindseligen Umfeld ihre Zuneigung zueinander entdecken. Die meisten lateinamerikanischen Langfilme, acht an der Zahl, hat in diesem Jahr das Forum zu bieten. Vom uruguayischen Regisseur Alex Piperno kommt der Film Chico ventana también quisiera tener un submarino, in dem ein junger Matrose auf einem Kreuzfahrtschiff einen Gang entdeckt, der zu einem Apartment in Montevideo führt. El tango del viudo ist der erste und erst jetzt posthum vollendete Film des chilenischen Exil-Regisseurs Raúl Ruiz, ein Fiebertraum, der mit den Zeitebenen spielt. In Hombre entre perro y lobo (Kuba) verkörpern vier zurückgekehrte Veteranen aus dem Angola-Krieg die letzten Samurai der Revolution in den kubanischen Bergen. Luz nos trópicos handelt vom französischen Erfinder Hercule Florence, der seine Wahrnehmung der Welt während einer Amazonas-Expedition im 19. Jahrhundert völlig verändert.

Interessante Filme bietet traditionell die Jugendfilm-Sektion Generation

Dazu gibt es vier Dokumentarfilme: Responsabilidad empresarial vom argentinischen Doku-Spezialisten Jonathan Perel, über politische Spannungslinien in der jüngeren Geschichte; Medium (ebenfalls Argentinien), ein Porträt der 91-jährigen Pianistin Margarita Fernández; Ouvertures (Haiti), eine dokumentarische Recherche über den Anführer der Sklav*innenaufstände, die zur haitianischen Revolution führten und Vil Má (Brasilien), der sich mit der Sado-Maso-Künstlerin Vilma Azevedo aus São Paulo befasst.

Interessante Filme aus Lateinamerika bietet traditionell die Berlinale-Jugendfilm-Sektion Generation. Auch hier kommen drei Beiträge aus Brasilien. In Alice Júnior wird eine Trans*person in einer Schule in der brasilianischen Provinz zunächst gemobbt, verschafft sich mit Hilfe der YouTube-Community aber schließlich Respekt und Akzeptanz. Irmã ist ein experimentelles Roadmovie über zwei Schwestern, deren Vater sich nicht um sie kümmert und deren Mutter im Sterben liegt. Meu nome é Bagdá spielt im Skater*innenmilieu in São Paulo, wo Frauen auf der Straße und in Clubs gegen den dominanten Machismo kämpfen müssen. In Mamá, Mamá, Mamá (Argentinien) versucht Cléo in einem heißen Sommer gemeinsam mit ihren Cousinen den Tod ihrer Schwester zu verarbeiten. Der einzige mexikanische Beitrag der diesjährigen Berlinale ist Los Lobos: Zwei mexikanische Brüder sind mit ihrer Familie in die USA gezogen, ihr Traum von Disneyland kollidiert dabei mit der Realität. Schließlich gibt es noch den deutschen Dokumentarfilm Perro, der in Nicaragua spielt und einen jungen Mann begleitet, der bedingt durch den Bau des „Gran Canal“ seine Heimatregion verlassen und ein neues Leben in der Stadt beginnen muss. Im Programm sind außerdem noch die Kurzfilme El nombre del hijo (Argentinien), El silencio del río (Peru), Rã (Brasilien; alle in der Sektion Generation) und Playback. Ensayo de una despedida (Argentinien; Sektion Berlinale Shorts) und folgende Filme/Performances in der Sektion Forum Expanded: Apiyemiyekî?, Jogos Dirigidos, (Outros) Fundamentos, Vaga Carne, Letter from a Guarani Woman in Search of the Land Without Evil (alle Brasilien), Jiíbie (Kolumbien) und Imaginary Explosions, episode 2, Chaitén (Chile).

GLANZ AUF DEN ZWEITEN BLICK

Espero tua (re)volta Filmstill // Foto: Bruno Miranda

Wer einen Blick auf die Preisträger*innen der diesjährigen Berlinale wirft, muss nach Beiträgen aus Lateinamerika etwas genauer suchen. Schon im Vorhinein war aufgefallen, dass kein Goldener oder Silberner Bär einen lateinamerikanischen Wettbewerbsfilm würde küren können – Marighella aus Brasilien lief zwar im Wettbewerb, jedoch außer Konkurrenz. Auch in den anderen Sektionen fiel die Preisausbeute in diesem Jahr eher spärlich aus. So holte der sehr zu empfehlende 12-Minüter El tamaño de las cosas*, eine minimalistische Fabel über das Begehren von Dingen, mit dem Spezialpreis der Internationalen Jury für den Besten Kurzfilm in der Sektion Generation Kplus den einzigen offiziellen Preis auf dem Subkontinent.
Erfreulich sind dagegen die Prämierungen lateinamerikanischer Filme durch die unabhängigen Jurys. Gleich zwei Preise – der queere Filmpreis Teddy Award für den besten Spielfilm und der Teddy Reader’s Award – gingen an Breve historia del planeta verde*, einem mysteriösen Mix aus Science Fiction und Drama von Santiago Loza. Auch Lemebel* von Joanna Reposi Garibaldi, das Porträt des gleichnamigen chilenischen Autors, Aktivisten und Performancekünstlers, gewann seinen verdienten Teddy für den besten Dokumentarfilm. Zwei Preise durfte außerdem Eliza Capai für Espero tua (re)volta mit nach Brasilien nehmen: den Amnesty International Filmpreis und den Friedensfilmpreis. Capais Dokumentation aus der Sektion Generation 14plus erzählt von einer Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben (Rezension auf Seite 43, Interview mit der Regisseurin auf Seite 46).
Auch wenn die Preisausbeute im Vergleich zur letzten Berlinale (siehe LN 525) eher enttäuscht, haben viele der lateinamerikanischen Filme auf dem Festival politische Zeichen gesetzt und auf ihre ganz eigene Art und Weise geglänzt. So beweist die Prämierung von Espero tua (re)volta die Präsenz und internationale Aufmerksamkeit, die brasilianische Filme in diesem Jahr genossen haben. Die Dokumentation ist einer von mindestens drei Filmen, die die aktuelle Regierung Brasiliens unter Bolsonaro scharf kritisieren. So begleitet die Dokumentarfilmerin Camila Freitas in Chão* auf bemerkenswerte Weise die Landlosenbewegung MST in ihrem Kampf für das eigene Land und zieht nach nicht einmal zwei Monaten Bolsonaro-Regierung ein erschreckendes Fazit. Auch Marighella (Rezension auf Seite 44), der die Geschichte des Revolutionärs Carlos Marighella unter der brasilianischen Militärdiktatur erzählt, zeigt klar politische Intentionen. Der Regisseur Wagner Moura (Narcos) zog in Interviews gleich mehrere Parallelen zwischen der Zeit der Diktatur und heute. Gleiches tat auch Joanna Reposi Garibaldi bei einer Vorführung von Lemebel und betonte das Wiedererstarken konservativer Wertevorstellungen, unter denen in Chile – ebenso wie in Brasilien – besonders LGBTIQ* leiden. El despertar de las hormigas* aus Costa Rica erzählt von der Unterdrückung weiblicher Unabhängigkeit und Sexualität und ist nicht nur deswegen hier unbedingt zu erwähnen. Auch indigene Stimmen und Bilder aus Lateinamerika gab es auf der Kinoleinwand zu sehen: Sembradoras de vida* porträtiert äußerst stimmig fünf indigene Kleinbäuerinnen, in Lapü* geht es um den Umgang der indigenen Wayúu mit dem Tod.
Diese und viele andere lateinamerikanische Filme haben auf der 69. Berlinale wichtige Themen und Realitäten eines Subkontinents angesprochen. Es bleibt zu bedauern, dass besonders die starken politischen Beiträge nicht mit Preisen bedacht wurden und abzuwarten, welche Filme es in diesem Jahr auch außerhalb der Berlinale in die deutschen Kinos schaffen.

Alle unsere Film-Rezensionen der Berlinale 2019 befinden sich hier.

“SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Espero tua (re)volta Filmstill // Foto: Bruno Miranda

„Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.
Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mittei­lungs­drang.
Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren.“
Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.

“ICH BIN BRASILIANER”

Marighella Eine Mischung aus historischem Drama und Actionkino // Foto: O2 Filmes

Wer während einer Diktatur geboren und aufgewachsen ist, ganz gleich auf welchem Fleck dieser Erde, trägt das ganze Leben eine besondere Last mit sich herum: Die Last der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist. Oder vielmehr die der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist und nach dem Warum zu fragen.
„Auge um Auge, wir werden nicht aufgeben”, das ist der Satz, der ständig wiederholt wird und der im kollektiven Unterbewusstsein verbleibt, nachdem man Marighella gesehen hat. Der Film von Wagner Moura erzählt vom Leben und Kampf des brasilianischen Revolutionärs Carlos Marighella von 1964 bis zu seinem Tod 1969. Im Jahr 1911 geboren, erlebt er die Zeit der großen Revolutionen in Lateinamerika und der Karibik und wird von diesen geprägt. Er wird anerkanntes Mitglied der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCdoB) und leitet später die bewaffnete Gruppe Nationale Befreiungsaktion (ALN).
Marighella ist eine Mischung aus historischem Drama und Actionkino, in dem wir sein strategisches Handeln mit der ALN und die Meilensteine seiner Biografie wie die Veröffentlichung seines Buches Kleines Handbuch der Stadtguerrilla verfolgen können. Zu den einschneidendsten Momenten im Leben des Revolutionärs gehören sicherlich auch die Entführung des US-Botschafters Charles Elbrick und jeder einzelne der Versuche Marighella selbst umzubringen, etwa im Hinterhalt vom November 1969 durch die faschistische Geheimpolizei DOPS unter Sergio Paranhos Fleury. Gelungene Verfolgungsszenen, gefilmt mit der Handkamera geben den Zuschauer*innen das Gefühl, selbst unter denen zu sein, die in den 60er Jahren von der Polizei verfolgt wurden. Die Spannung und das Adrenalin übertragen sich derart, dass man sich in einigen Momenten am liebsten die Augen zuhalten möchte, aber das unangenehme Schicksal und die geschichtliche Verantwortung verbieten es.
Selbstverständlich ist der Film nicht frei von Gewalt- und Folterszenen. Glücklicherweise wird die Grausamkeit derer, die der Film zeigt, in visueller Hinsicht nicht allzu exzessiv. Sowohl Masken- als auch Szenenbild leisten ganze Arbeit. Trotzdem nehmen diese Szenen einen am meisten mit, überwältigen, weil man weiß, dass es tatsächlich so geschehen ist. Genau dieses Verhältnis macht Marighella zu einem Spielfilm, der sinnbildlich für alle in lateinamerikanischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts begangenen Grausamkeiten stehen könnte.
Die Leistungen von Regie und Schauspieler*innen sind einwandfrei, eine einzelne Nahaufnahme des Gesichts von Seu Jorge – der Carlos Marighella darstellt – oder der anderen Darsteller*innen ist schon allein so viel wert wie die Gesamtheit aller Szenen. Der gezeigte tiefe Schmerz und die unnachgiebige Überzeugung der Revolutionär*innen lassen immer wieder die Frage aufkommen, warum dieser Film zwar im Wettbewerb, jedoch außer Konkurrenz lief. Bleibt so ein dreistündiger Film unbemerkt, weil er schlicht und ergreifend zu lang ist? Oder geht ein Werk, das die Unterdrückung der Menschen in Lateinamerika und auf der ganzen Welt auf so heftige Weise kritisiert, der ehrbaren Jury dieser 69. Berlinale gegen den Strich?
Wagner Moura hebt in Marighella auch den Kampf der Revolution gegen die Zensur hervor, ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit und Unabhängigkeit der Medien. In einem Interview sagte er der Zeitung Brasil de Fato: ,,Dieser Film ist Teil des Kampfes gegen die brasilianische Rechte und das Regime Bolsonaros.” Auf diese Aussage hin folgten Drohungen von faschistischen Gruppen gegen ihn und sein Team, das Filmset zu überfallen und alles zu verwüsten. ,,Ich bin auf Prügel vorbereitet”, erwiderte Moura als Antwort auf diese moderne Form der Zensur. Es scheint, als käme nichts aus der Mode. Leider.

 

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