Berlinale | Brasilien

EINE GÖTTLICHE DOMINA

Vil, má: Ein Film über eine Frau mit zwei höchst unterschiedlichen Persönlichkeiten

Von Bastian Silvestre

© Gustavo Vinagre

Schlecht und gemein” heißt Vil, má auf Deutsch, aber der portugiesische Titel der Dokumentation des Brasilianers Gustavo Vinagre ist gleichzeitig auch der Vorname der Protagonistin: Wilma Azevedo, Schriftstellerin und Domina. Edivina” heißt dagegen Sie ist göttlich” und ist der bürgerliche Name vo Wilma, leidenschaftliche Mutter und Arbeiterin, die im patriarchalen brasilianischen Gesellschaftssystem für ihre Unabhängigkeit kämpft. Der Film ist in zwei Teile gegliedert, um die Geschichte dieser gespaltenen Persönlichkeit zu erzählen, spielt sich aber nur an einem Ort ab: Ein Wohnzimmer.

Im ersten Teil blickt die 74jährige Wilma Azevedo fest in die Kamera und erzählt im Laufe der folgenden 86 Minuten ihre Geschichte als Königin der Dominas und der sadomasochistischen Literatur Brasiliens. Ihre vielzähligen Anekdoten umfassen alle Elemente von BDSM-Sexualpraktiken: Bisse, Schläge, Sandpapier-Vibratoren, abgeschnürte männliche Geschlechtsteile und grüne Bananen. Die Dokumentation benutzt sparsame Kameraeinstellungen und überlässt die Hauptrolle Wilma und ihren Erzählungen, deren Anekdoten sie manchmal vergisst (einige dieser Geschichten werden von Wanda vorgelesen, einer Schauspielerin, die in einem fiktiven zukünftigen Film über Wilma mitspielt). Wilma begann ihre Karriere damit, in ihrer Rolle als Domina Zuschriften von Leser*innen erotischer Zeitschriften zu beantworten. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Zu ihren besten Zeiten bekam sie mehr als 300 Briefe von Menschen, die darin ihre Sadomaso-Fantasien gestanden. Aber Wilma beschränkte ihre Kreativität nicht nur auf den literarischen Bereich. Sie experimentierte darüber hinaus auch praktisch als Domina in einem Brasilien unter der Militärdiktatur, in dem BDSM ein verborgenes gesellschaftliches Tabu darstellte.

Im Film kommen außerdem nur wenige akustische Stilmittel vor, was den drei hörbaren Elementen, die vorkommen, ein unerwartetes Gewicht verleiht: Regen, Donner und der plötzliche Einsatz der Englischen Suite  Nº2 von Bach. Das Einsetzen des Donners ist auch der Wendepunkt der Erzählstruktur, der den zweiten Teil der Dokumentation ankündigt. Wilma verrät den Namen ihrer bürgerlichen Identität Edivina Ribeiro, die als Mädchen eine katholische Erziehung genoss, als Frau einen zehn Jahren älteren Mann heiratete, dessen Untreue sie entdeckte und die darum kämpfte, als Journalistin und Schriftstellerin zu arbeiten, um für ihre Familie zu sorgen, weil ihr Mann unter gesundheitlichen Problemen litt. Edvina erzählt von ihren sexuellen Erfahrungen seit ihrer Kindheit. In vielen davon konnte sie im Unterschied zu Wilma nichts kontrollieren, sondern befand sich im Gegensatz dazu durch männliche Fantasien in Gefahr. Beide Frauen ergänzen sich, genau wie die beiden Teile ds Films, und erlauben so der einen die Bedürfnisse der anderen zu erfüllen. Edivina erschafft Wilma und diese erlaubt wiederum Edivina, ihre sexuellen Begierden in die Tat umzusetzen.

Gustavo Vinagre geht sehr limitiert bei der Auswahl seiner Mittel für die Dokumentation vor (sparsamer Gebrauch von Archivaufnahmen, Kameraeinstellungen und akustischen Elementen). Die Entscheidung für diese audiovisuelle Gestaltung ist auch in seinen vorherigen Produktionen wiedererkennbar. Vil, má ist der dritte Dokumentarfilm einer Reihe, die er Trilogie des Ich” genannt hat und die zwei weitere Filme über Einzelpersonen einschließt: Recuerdos de las cuervas (Erinnerungen an die Raben, 2018) und La rosa azul de Novalis (Die blaue Blume von Novalis, 2019), der vergangenes Jahr im Forum der Berlinale gezeigt wurde.

In Vil, má sind die Gegenpole der Protagonistin, das Göttliche und das Gemeine, die Kontrastpunkte zwischen dem Individuum in der Gesellschaft und dessen innerer Welt. Dieser Widerspruch wurde von Edivina/Wilma aufgelöst, indem sie sich nicht den Zugang zu sich selbst verwehrte. Ganz im Gegenteil eröffnete sie dadurch beiden Frauen die Möglichkeit, zu koexistieren und sich zu entwickeln.

Vil, má // Gustavo Vinagre // Brasil 2020 // 86 Minuten // Weltpremiere // Forum

Trailer zum Film

 

Spielzeiten auf der Berlinale:

Samstag, 22.02 20:00 Kino Arsenal 1
Sonntag, 23.02 22:00 CinemaxX 4
Mittwoch, 26.02 21:30
Sonntag, 01.03 22:00 Zoo Palast 2

 

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