Berlinale | Nummer 549 - März 2020

WHITENESS, TRANS KIDS, SKATERINNEN

Die 70. Berlinale brachte lateinamerikanische Filme auf Höhe der Zeit

Von Dominik Zimmer

Skaterin Grace Orsato als Bagdá im brasilianischen Berlinalebeitrag Meu nome é Bagdá © Luh Barreto

Für den ganz großen Wurf hat es für die lateinamerikanischen Filmemacher*innen nicht gereicht. Den Goldenen Bären für den besten Film der Berlinale gewann dieses Jahr vollauf verdient der iranische Beitrag There Is No Evil. Grund zum Trübsal blasen ist das aber bestimmt nicht, denn Lateinamerika war auf der Jubiläumsausgabe der Berlinale mit 35 Beiträgen mit so vielen Filmen wie lange nicht mehr vertreten und bot in ihnen ein beeindruckendes Panorama unterschiedlicher Themen und Lebensrealitäten des Kontinents.

Im Wettbewerb sorgte El prófugo aus Argentinien für einen starken Auftakt. Der enigmatische Film über die Vokalistin Inés, die ihre Stimmsicherheit verliert, beeindruckte mit großartiger Akustik und einem Plot, der selbst erfahrene Filmkritiker*innen in lange Diskussionen verstrickte. Dagegen war der brasilianische Beitrag Todos os mortos, der den Niedergang der Familie eines Kaffeebarons aus São Paulo um 1900 zeigt, ein kraftvolles und innovatives Statement, das den Rassismus, der unter der Regierung Bolsonaro wieder stark aufgeflammt ist, aus dem Blickwinkel der Critical Whiteness betrachtet und filmisch eine Brücke in die Gegenwart schlägt.

Überhaupt, Brasilien: Nicht weniger als 19 Beiträge hatte das flächenmäßig größte Land des Kontinents auf dieser Berlinale zu bieten. Die meisten davon haben völlig verdient ihren Weg in die verschiedenen Sektionen des Festivals gefunden. Von frechen Teenie-Komödien (Alice Júnior und Meu nome é Bagdá), über mutige und selbstbewusste queere Filme (Vento Seco und Vil, má) bis hin zu bislang eher unbekannten Einblicken in migrantische Communities (Cidade Pássaro) zeigte das brasilianische Kino einmal mehr die enorme kreative Bandbreite, die es schon die letzten Jahre auszeichnete. Doch damit könnte es in nächster Zeit erst einmal vorbei sein, denn die Regierung Bolsonaro hat die nationale Filmförderung gestrichen. Zumindest quantitativ wird sich der brasilianische Film deshalb auf etwas weniger fette Jahre einstellen müssen.

Argentinien war das zweite Fokus-Land auf dem Festival, zehn Filme schafften es ins Berlinale-Programm. Vor allem die Kurzfilme standen diesmal im Rampenlicht: Playback. Ensayo de una despedida (Teddy-Award für den besten queeren Kurzfilm) und vor allem El nombre del hijo (2 gläserne Bären) räumten Preise ab. Bis auf den Wettbewerbsbeitrag El prófugo und Isabella, eine reizvoll montierte Persönlichkeitsstudie über eine Shakespeare-Darstellerin, kamen die Langfilme allerdings diesmal nicht ganz an dieses hohe Niveau heran. Als weitere lateinamerikanische Länder waren unter anderem Kolumbien, Kuba, Mexiko, Peru und Uruguay vertreten.

Offizielle Berlinale-Preise für Lateinamerika verlieh dieses Jahr vor allem die Jugendfilm-Sektion Generation. In der Kategorie Großer Preis der Jury gingen die Gläsernen Bären sowohl in der Sektion Kplus (für Kinder geeignete Filme) wie auch in der Sektion 14Plus (ab 14 Jahre) nach Lateinamerika. Bei Kplus gewann Los Lobos, ein einfühlsames Porträt zweier Jungen, die mit ihrer Mutter illegal in die USA migrieren. Bei 14Plus wurde der Film Meu nome é Bagdá ausgezeichnet, der jugendliche Skaterinnen in São Paulo im Kampf gegen den Machismo zeigt. Und der argentinische Kurzfilm El nombre del hijo über den trans Jugendlichen Lucho gewann bei Kplus sogar zwei Preise, denn neben dem Gläsernen Bären für den besten Jugend-Kurzfilm siegte er auch in der Kategorie Spezialpreis der Jury. Einen wichtigen Preis gewann dieses Jahr auch der kolumbianische Regisseur Camilo Restrepo: Für das filmische Experiment Los Conductos aus der neuen Sektion Encounters erhielt er den Award für den besten Erstlingsfilm der Berlinale.

Die Berlinale bot wie immer nicht nur Gelegenheit, tolle Filme zu sehen, sondern auch die, Menschen dahinter zu treffen. Mit einigen von ihnen konnten wir während des Festivals interessante Interviews führen. Und natürlich haben wir zu fast allen Beiträgen aus Lateinamerika eine Rezension geschrieben. Viel Spaß beim Lesen!

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