// STRASSE UND INSTITUTIONEN

„Si tocan a une, tocan a todes!“ Diese Erkenntnis aus Argentinien ging als Kampfruf durch die feministischen Bewegungen Lateinamerikas und der Welt: „Wenn sie eine* anfassen, fassen sie uns alle an!“ Feministische Bewegungen haben gezeigt, dass Kämpfe auf allen Ebenen stattfinden können – zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und auf der Straße. Und auch vor und in politischen Institutionen. Warum das funktioniert? Weil es um das Alltägliche geht!

Weil es um das Alltägliche geht!

Die Politisierung der eigenen alltäglichen Erfahrungen patriarchaler, rassistischer, queerfeindlicher oder ökonomischer Gewalt ist der Dreh- und Angelpunkt der feministischen Theorie und Praxis in Lateinamerika: Zu verstehen, dass es nicht daran lag, was ich an hatte oder wo ich war, zu begreifen, dass das, was mir passiert, nicht selbst verschuldet oder mein Schicksal ist, sondern eine geteilte Erfahrung. Das feministische Kollektiv Minervas aus Uruguay brachte es so auf den Punkt: „Die Beziehungen zwischen uns neu zu gestalten und Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund wirtschaftlicher, patriarchaler und rassistischer Verhältnisse herzustellen“, das sei das Wesentliche

Wie kraftvoll die Politisierung von Erfahrungen sein kann, zeigen in den vergangenen Jahren – wie kaum andere – die Kämpfe für die Liberalisierung von Abtreibungsgesetzen in zahlreichen Ländern Lateinamerikas. Erst vor wenigen Tagen hat das kolumbianische Verfassungsgericht entschieden, dass eine Schwangerschaft bis zur 24. Woche ohne Einschränkungen abgebrochen werden kann. Wir erinnern uns an die mit grünen Halstüchern gefluteten Straßen Argentiniens Ende 2020, als nach Jahren der feministischen Organisierung das Recht auf sichere und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche garantiert wurde. „Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden“, erklärt Verónica Gago im Interview mit LN. Gleichzeitig argumentiert sie, dass die Verabschiedung von Gesetzen nie das Ende feministischer Kämpfe bedeuten dürfe, sondern lediglich die Form der Kämpfe verändere.

Angewiesen auf politische Mehrheiten, um Forderungen von der Straße gesellschaftliche Realität werden zu lassen, besteht immer die Gefahr, dass soziale Bewegungen vereinnahmt werden und damit an Radikalität, Mobilisierungs- und Analysefähigkeit einbüßen. Wie ein direkter Dialog mit den sozialen Bewegungen aus dem Parlament heraus geführt werden kann, zeigt das feministische Kollektiv JUNTAS Codeputadas aus Brasilien. Bestehend aus fünf Frauen, haben die JUNTAS seit 2018 ein feministisches, partizipatives und transparentes Abgeordnetenmandat im Landesparlament des Bundesstaats Pernambuco. Ihre Erfahrungen zeigen, dass der Einzug in politische Institutionen nur einer von vielen Ansätzen feministischer Kämpfe ist, aber ein entscheidender sein kann.

„Räume zu besetzen – in Parteien, in der Gesetzgebung – in denen wir selbst über unsere Rechte entscheiden können, das gibt uns und unseren Kämpfen Sinn“, sagt Joelma Carla, eine der JUNTAS, im Interview mit LN . Sie hoffen, dass sie mit ihrem Format der Verbindung zwischen Parlament und sozialen Bewegungen andere Frauen inspirieren, „effektive Politik für unsere Anliegen“ zu machen. Denn es geht auch um konkrete Verteilungskämpfe, die in der politischen Arena ausgetragen werden – um Zugang zu öffentlicher Infrastruktur für alle, um eine gerechte und gute Gesundheitsversorgung, um reproduktive Gerechtigkeit oder um bezahlbaren Wohnraum. Errungenschaften, die auf der Straße, in asambleas und letztlich auch in Parlamenten erkämpft werden.

Der Wunsch alles zu verändern, beginnt weder in den Parlamenten, noch endet er dort. Der Wunsch, alles zu verändern, ist ein Prozess, der sich durch alle Fasern unserer Gesellschaft, unserer Körper und Beziehungen erstreckt.

FEMINISTISCH, PARTIZIPATIV, TRANSPARENT

(Foto: © JUNTAS Codeputadas)

In Kürze ist der 8. März, der Internationale Frauentag. Wie sehen Sie als JUNTAS dem Tag entgegen?
Joelma Carla: Wir beteiligen uns immer an den Kundgebungen zum Internationalen Frauentag. Der 8. März 2019 und 2020 waren fantastisch: wir inmitten unserer Wähler*innenschaft, eine super Stimmung. Der 8. März 2021 war dagegen wegen der Pandemie sehr traurig. In diesem Jahr bereiten wir eine Kundgebung vor, die wir fundamental wichtig finden, sie erinnert an Marielle Franco, eine Schwarze, feministische Abgeordnete in Rio de Janeiro. Es ist jetzt mehr als drei Jahre her, dass sie ermordet wurde. Sie war Mitglied unserer Partei, der PSOL. Wir fühlen uns verpflichtet, öffentlich zu machen, wie die Rechte der Frauen durch den Staat gebrochen werden.

Kátia Cunha: Außerdem wollen wir am 8. März mit unseren Wähler*innen über alle Maßnahmen sprechen, die wir in diesen drei Jahren für Frauen durchgeführt haben und gemeinsam bewerten, was wir noch nicht geschafft haben. Wir sind in einem Wahljahr. Es ist daher wichtig, unseren Wähler*innen zu sagen, dass die Stimme der Frauen durch unser Mandat großen Widerhall hatte, aber wir noch sehr viel mehr tun müssen.

Wie bewertet das Kollektiv denn die bisherige Amtszeit?
KC: Das aktuelle Landesparlament in Pernambuco ist das fundamentalistischste seit den 1980er Jahren. Unter den Abgeordneten gibt es einen Wettstreit darum, wer der größte Anhänger des Bolsonarismus ist oder der beste Evangelikale. Es ist daher nicht einfach Gesetze durchzubringen, die Frauenrechte garantieren.

Wir haben das Mandat 2019 mit sehr viel Enthusiasmus angetreten. Wir haben geglaubt, wir könnten die ganze Welt verändern (lacht), zumindest aber Pernambuco. Und dann sahen wir uns dieser Realität hier im Abgeordnetenhaus gegenüber. Trotzdem geben wir nicht auf und versuchen Gesetze durchzubringen. Die Pandemie hat unsere Form der Politik viel schwieriger gemacht: Wir konnten nicht mehr auf die Straße gehen und versuchten auf virtuelle Treffen auszuweichen. Wir konnten niemanden mehr einladen, niemanden treffen. Das war tragisch, denn das Markenzeichen unseres Mandats ist, dass wir sehr nah dran sind an den Menschen.

Würden Sie sagen, dass die politische Teilhabe in Ihrer Amtszeit zugenommen hat?
KC: Ja, auf jeden Fall. Wir haben zum Beispiel alle 14 indigenen Völker, die es in Pernambuco gibt, zu einer Sitzung in das Abgeordnetenhaus eingeladen. Dieses Gebäude hat das Aussehen eines Palastes, es ist sehr schick. Wenn Wähler*innen hier vorbeikommen, bleiben sie auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude, sie haben Angst, es zu betreten. Und es gibt eine Kleiderordnung, es darf nicht in Shorts betreten werden. Aber wir haben es geschafft, dass die Indigenen in ihrer eigenen Kleidung kommen konnten, obwohl es einiges an Aufruhr und Diskriminierung am Eingang gab.

JC: An der Struktur dieses Abgeordnetenhauses haben wir wirklich etwas verändert. Die Leute wussten nicht einmal, dass sie sich in diesem Raum beteiligen oder wenigstens zuhören können. Ich erinnere mich an eine Anhörung wegen eines fundamentalistischen Abgeordneten und der Sicherheitsdienst ließ die Bürger*innen, die zuhören wollten, nicht hinein. Wir sind dann an den Eingang gegangen und haben dafür gesorgt, dass sie hineingelassen wurden. Das ist ihr Recht als Bürger*innen.

Wie hat sich die Partizipation der sozialen Bewegungen während der Pandemie entwickelt?
JC: Die Pandemie hat es unmöglich gemacht, dass wir die Territorien besuchen, die Quilombos, die indigenen Gemeinden, die Peripherie der Städte. All das gehört zu unserem Selbstverständnis als kollektives Mandat der Basisorganisationen. Wir versuchen, maximal transparent zu sein, wir machen nichts, was nicht veröffentlicht werden kann, was die Leute nicht wissen dürften. Im Gegenteil: Wir haben ein sehr transparentes und partizipatives Mandat gestaltet. Wir sind die Brücke zwischen Legislative und sozialen Bewegungen.

KC: Wir sind fünf Frauen, die sehr divers sind. Wir haben sogar Scherze darüber gemacht, dass wir es schaffen, omnipräsent zu sein, denn wir können uns ja an fünf Diskussionen gleichzeitig beteiligen. Wir haben das genutzt, um mehr Forderungen aus den Bewegungen aufzunehmen. Allein im ersten Jahr haben wir 17 öffentliche Anhörungen organisiert und 87-mal im Abgeordnetenhaus gesprochen. Wir haben 17 Gesetzesvorhaben eingebracht. In dieser Hinsicht hat das kollektive Mandat sehr gut funktioniert.

Was würden Sie als Ihren größten Erfolg bezeichnen?
KC: Das war die Umsetzung des Gesetzes zur Verhinderung von Zwangsräumungen (Lei despejo zero, Anm. der Red.). Niemand darf gezwungen werden, seinen Wohnraum zu verlassen, während es einen Notstand gibt. Das Gesetz gab es schon vor der Pandemie. In Pernambuco gibt es sehr viele bankrotte Zuckerbetriebe. Die Arbeiter und ihre Familien nutzen das Land daher, um Nahrungsmittel anzubauen. Die Besitzer dieser Betriebe versuchten während der Pandemie, die Besetzungen räumen zu lassen und die Arbeiter zu vertreiben.

Wir haben es geschafft durchzusetzen, dass alle Landbesetzungen von vor dem 20. März 2020, dem offiziellen Beginn der Pandemie, nicht geräumt werden durften. Dadurch haben wir sehr viele Familien vor der Räumung bewahrt, die sonst obdachlos auf der Straße gestanden hätten.

Gab es auch Niederlagen während der Amtszeit?
JC: Die extreme Armut hat in Pernambuco sehr zugenommen. Heute leben hier 1,2 Millionen Familien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von null bis achtzig Reais (14 Euro, Anm. der Red.). Wir haben daher der Landesregierung das Projekt eines Notfall-Grundeinkommens vorgeschlagen, das es 60.000 Familien ermöglicht hätte, über sechs Monate 350 Reais (62 Euro, Anm. der Red.) zu beziehen. Das war vor zwei Jahren. Die Landesregierung hat dieses Projekt zwei Jahre lang ignoriert. Sie geht einfach über die Menschen hinweg, die nicht wissen, was sie zum Frühstück oder zu Mittag essen können. Es gibt keine Politik der öffentlichen Hand, die bei der Schwarzen Bevölkerung in der Peripherie oder in den indigenen Territorien ankommt. Wir finden das sehr besorgniserregend.

Wie groß ist die Bedrohung für weibliche, linke Abgeordnete in einem Brasilien unter Bolsonaro – hat es in den drei Jahren Gewalt oder Drohungen gegen Sie gegeben?
JC: Wir sind vor allem dem Widerstand einiger fundamentalistischer konservativer Parlamentarier ausgesetzt. Sie haben Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass Frauen diesen Ort der Macht besetzen. Sie haben gefordert, dass Robeyoncé Lima aus dem Abgeordnetenhaus entfernt wird. Sie ist Schwarz und trans und das stört das System. Was dauernd passiert, ist die Bagatellisierung von Gewalt. Früher haben die Leute in der Politik gegeneinander verbale Gewalt ausgeübt, jetzt gibt es auch direkte physische Aggressionen. Wir bewegen uns also in einem sehr gefährlichen Umfeld, selbst wenn wir keine direkten Bedrohungen erlebt haben.

2022 wird auch der Präsident Brasiliens gewählt. Wie schätzen Sie die Stimmung im Wahljahr ein?
KC: Wir sammeln gerade alle Kräfte, um diesen inhumanen Präsidenten abzuwählen. Die großen Parteien der Linken vereinen sich, um Bolsonaro zu besiegen. Wir als PSOL werden auf nationaler Ebene eine Allianz mit der Arbeiterpartei PT eingehen, um Präsident Lula zu wählen. Er ist die einzige Person, die in der Lage ist, Bolsonaro zu schlagen. Wir glauben nicht, dass Bolsonaro heute die Kraft hätte, einen Putsch anzuzetteln, aber er wird alles tun, um im Amt zu bleiben. Das Problem ist, dass es nicht nur Bolsonaro gibt, sondern auch seine Anhänger, die sehr gewalttätig sind. Wir befürchten also, dass es zu Gewaltakten kommen wird. Hier in Pernambuco ist die Situation ein bisschen anders, denn die PT unterstützt die Landesregierung der PSB. Deshalb werden wir eine eigene Kandidatur der PSOL unterstützen.

Wie blicken die JUNTAS in die Zukunft?
JC: Ich bin mir bewusst, dass zwischen uns Frauen Unterschiede bestehen, Klassenunterschiede, Unterschiede zwischen Schwarz und weiß. Aber der feministische Kampf ist der Kampf, der uns vereint. Räume zu besetzen, in Parteien, in der Gesetzgebung, in denen wir selbst über unsere Rechte entscheiden können, das gibt uns und unseren Kämpfen Sinn. Unser kollektives, feministisches, antirassistisches Mandat hat auf nationaler Ebene Bedeutung als Inspiration und Referenz gewonnen. Wir haben 33 Mandate von Frauen in der vergangenen Wahl von 2020 hinzugewonnen. Aber wir sind uns bewusst, dass wir noch mehr werden müssen. Denn ein einziges Mandat im Bundesstaat Pernambuco ist nicht genug. Und wir sind nicht der Gouverneur, sondern Abgeordnete.

KC: Wir hoffen, dass dieses Format, in dem wir Politik machen, dieses kollektive Mandat, andere inspiriert. Vor allem andere Frauen. Damit mehr von ihnen den Mut gewinnen, sich zu engagieren. Denn wenn wir die anderen einfach machen lassen, stellen wir ihnen einen Blankoscheck aus. Es ist notwendig, dass mehr Frauen institutionelle Räume besetzen und effektiv Politik für unsere Anliegen machen. Die Idee ist, dass wir es schaffen, zu inspirieren, zu fördern und mehr Frauen hierher zu holen, um diese Form der politischen Partizipation auszuüben.

„WIR WERDEN NICHT EINEN MILLIMETER ZURÜCKWEICHEN”

Gemeinsam unterwegs: Die JUNTAS wollen im Kollektiv die Politik verändern (Foto: Juntas_Baixa3)

JUNTAS ist ein kollektives, feministisches Mandat im Abgeordnetenhaus von Pernambuco – warum hat sich JUNTAS gegründet?
JUNTAS wurde als Antwort auf das gescheiterte Parteiensystem gegründet. Ein Drittel der Bevölkerung hat nicht gewählt, weil es kein Vertrauen mehr in unser politisches System hat. Die Idee kommt aus der feministischen Bewegung, die wir auch schon kollektiv aufgebaut haben. Alle sozialen Bewegungen, an denen wir uns beteiligen, organisieren wir als Kollektiv. Die Idee wurde außerdem von dem allerersten kollektiven Mandat der MUITAS aus Belo Horizonte inspiriert, von der nationalen Bewegung PartidA, die Frauen dabei unterstützt, mehr politische Räume zu erobern, und von der nationalen Bewegung Ocupa política (Besetzt die Politik, Anm. d. Red.), die überparteilich Kandidaturen unterstützt. Unsere Einschätzung war, dass wir hier in Pernambuco mit einer feministischen, kollektiven Kandidatur antreten können, weil es sehr viele Frauen gab, die sich das zutrauten und das gerne machen wollten. Wir haben uns dann zu JUNTAS zusammengeschlossen.

Aber rein formal hat Jô Cavalcanti das Mandat erhalten? Wie ist die rechtliche Situation?
Ja, Jô stand auf dem Wahlzettel. Kollektive Kandidaturen sind nicht verboten, aber sie sind auch noch nicht anerkannt. Es gibt dazu ein Gesetz im Kongress, aber damit geht nichts voran.

Die fünf Kandidatinnen sind sehr unterschiedlich, in Bezug auf ihr Alter, ihre Berufe – eine trans Frau ist auch dabei – erhöht das die Unterstützung?
Wir verstehen den Feminismus, die Feminismen, als intersektional. JUNTAS ist ein Kollektiv, gebildet von einer weißen feministischen Frau, Mutter und Journalistin – das bin ich –, von einer schwarzen Frau, Anwältin aus der Favela, von einer Lehrerin und Gewerkschafterin, von einer schwarzen Straßenhändlerin und politischen Aktivistin und von eine sehr jungen Frau aus dem Agreste im Landesinneren von Pernambuco. Ich würde sagen, ja, wir repräsentieren Diversität.
Wir glauben daran, dass wir diese politischen Räume besetzen können. Und es hat funktioniert, 39.000 Menschen waren auch der Meinung, dass wir das tun können. Uns wurde immer verweigert, was uns zusteht. Eine schwarze Frau kann ein Mandat erhalten, eine trans Frau kann ein Mandat erhalten. Und dies kollektiv zu erobern entspricht dem, was wir auch schon im Alltag in anderen Zusammenhängen tun.

Gibt es schon Gesetzesvorhaben, die die JUNTAS vorbereiten?
Die große Sache bei dieser kollektiven Kandidatur ist die Veränderung des Formats. Wir haben schon die Wahlkampagne mit der feministischen Bewegung abgesprochen, mit der LGBTI-Bewegung, mit der Bewegung für Wohnraum, der informellen Arbeit, der agro-ökologischen Bewegung und der Jugendbewegung. Wir haben eine Vielzahl an Vorschlägen und ab Januar werden wir die ersten 100 Tage des Mandats planen. Ein konkretes Beispiel: Im Kulturbereich haben wir den Vorschlag, dass alle Ausschreibungen gleichmäßig nach Genderkriterien vergeben werden. In Bezug auf Jugendliche ist unser Vorschlag, dass die Schließung von Schulen im Landesinneren von Pernambuco überprüft werden soll. In Bezug auf informelle Arbeit fordern wir die Anerkennung der Arbeit der Straßenhändler*innen als Beruf. All dies in Form von Gesetzesvorhaben, so als wären wir eine Brücke der Bewegungen in die parlamentarische Arbeit. Aber wir wissen gleichzeitig, dass wir nicht die Bewegungen sind, auch wenn viele von uns in sozialen Bewegungen aktiv sind. Wir wollen den Bewegungen in der legislativen Arbeit eine Stimme geben und die Gelegenheit, diese zu erheben. Gleichzeitig brauchen wir wiederum die Kraft der Bewegungen, um im Parlament etwas zu erreichen.

Trotz des Schocks über den Wahlerfolg von Bolsonaro und seiner Partei ist der Kongress doch wesentlich diverser geworden als er vorher war. Wie bewerten die JUNTAS die letzten Parlamentswahlen?
Unserer Meinung nach gab es – trotz der vielen Sitze, die die Partei von Bolsonaro errungen hat – Fortschritte bei den Parlamentswahlen. Unsere Fraktion von der P-SOL hat die Anzahl der Sitze im Kongress von sechs auf zehn erhöht und fünf davon sind Frauen. Der Anteil der Frauen in allen Parlamenten hat sich von zehn Prozent auf fünfzehn Prozent erhöht, das ist für uns schon eine sehr positive Veränderung, auch wenn die Anzahl der Abgeordneten in Bezug auf das Geschlecht gleich sein sollte. Es gibt heute drei trans Abgeordnete, zwei in São Paulo, Erica Malunguinho und Alexya Salvador, und Robbeyoncé Lima, die Teil der JUNTAS in Pernambuco ist. Das bedeutet, dass die Leute sich tatsächlich mit den Kandidat*innen identifizieren können, sich repräsentiert fühlen.
Wir sind uns bewusst, dass es eine Zunahme des Konservativismus auf globalem Niveau gibt und gleichzeitig sehen wir auch schon die Anworten darauf, zum Beispiel in den USA: Es gibt mehr Frauen, die sich politisch engagieren, mehr Frauen aus Lateinamerika, mehr schwarze Frauen, mehr homosexuelle Männer. Gleichzeitig brauchen wir mehr Beteiligung der gesamten Bevölkerung an der Politik. Es reicht nicht aus, alle vier Jahre wählen zu gehen. Und die kollektiven Mandate erreichen genau das: mehr Partizipation.

Wie sehen die JUNTAS die Rolle der Frauen in der aktuellen politischen Situation?
Für mich sind die Frauen, besonders die schwarzen Frauen, der Schlüssel dieser Revolution. Die schwarzen Frauen in Brasilien haben nie in einer Demokratie gelebt. Sie hatten nie Zugang zu Trinkwasser, zur Gesundheitsversorgung, sie sind diejenigen, die am häufigsten in den Krankenhäusern sterben. Die Gewalt gegen Frauen ist im weißen Bevölkerungsteil gesunken, die gegen schwarze Frauen ist gestiegen. Diese Frauen haben keine Angst vor dem, was gerade passiert. Es ist das, was sie schon immer erleben. Sie sind organisiert und sie brauchen dringend einen Wandel, weil sie die Rückschritte am meisten betref­fen. Wenn zum Beispiel der Preis für Kochgas steigt, dann sind es die schwarzen Frauen mit geringem Einkommen, die anfangen, mit Alkohol zu kochen und sich dabei verbrennen. Sie spüren die ökonomische Verschlechterung buchstäblich am eigenen Leib.
In Pernambuco wurden im vergangenen Jahr 5.427 Menschen ermordet. 90 Prozent dieser Menschen sind schwarz. Und wenn ein schwarzer Mann ermordet wird, dann gibt es eine schwarze Tochter, eine schwarze Mutter oder eine schwarze Schwester dieser Männer. Die Anzahl der weiblichen Inhaftierten hat sich seit 2010 um 600 Prozent erhöht und mehr als die Hälfte von ihnen hat noch nicht einmal vor Gericht gestanden. Sie dürften gar nicht inhaftiert sein. Die Mehrzahl dieser Frauen ist schwarz. In der Presse und in der Öffentlichkeit heißt es immer die Favelas seien gewalttätig. In Wirklichkeit wird die Bevölkerung der Favelas täglich vergewaltigt: Weil sie keinen Zugang zu Bildung hat oder zur Gesundheitsversorgung.

Wie analysieren die JUNTAS die Bedrohungslage unter einer von Bolsonaro geführten Regierung?
Wir handeln als Netzwerk, gemeinsam mit den anderen Frauen, die gewählt wurden. Wir sind natürlich sehr besorgt über die möglichen Entwicklungen. Dabei ist die Rolle der internationalen Öffentlichkeit äußerst wichtig, damit die Welt erfährt, was hier passiert, wenn etwas passiert. Aber wir werden nicht einen Millimeter zurückweichen, wir gehen keinen Schritt zurück. Natürlich haben wir auch Angst, aber das ist eher etwas, was uns antreibt. Wir erleben hier einen historischen Moment, wir werden uns nicht verstecken, wir sind das historische Subjekt. Aber wir müssen uns natürlich auch schützen, am Besten durch die internationale Öffentlichkeit.

 

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