Aktuell | Bewegung | Editorial | Feminismus | Nummer 573 - März 2022

// STRASSE UND INSTITUTIONEN

Die Redaktion

„Si tocan a une, tocan a todes!“ Diese Erkenntnis aus Argentinien ging als Kampfruf durch die feministischen Bewegungen Lateinamerikas und der Welt: „Wenn sie eine* anfassen, fassen sie uns alle an!“ Feministische Bewegungen haben gezeigt, dass Kämpfe auf allen Ebenen stattfinden können – zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und auf der Straße. Und auch vor und in politischen Institutionen. Warum das funktioniert? Weil es um das Alltägliche geht!

Weil es um das Alltägliche geht!

Die Politisierung der eigenen alltäglichen Erfahrungen patriarchaler, rassistischer, queerfeindlicher oder ökonomischer Gewalt ist der Dreh- und Angelpunkt der feministischen Theorie und Praxis in Lateinamerika: Zu verstehen, dass es nicht daran lag, was ich an hatte oder wo ich war, zu begreifen, dass das, was mir passiert, nicht selbst verschuldet oder mein Schicksal ist, sondern eine geteilte Erfahrung. Das feministische Kollektiv Minervas aus Uruguay brachte es so auf den Punkt: „Die Beziehungen zwischen uns neu zu gestalten und Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund wirtschaftlicher, patriarchaler und rassistischer Verhältnisse herzustellen“, das sei das Wesentliche

Wie kraftvoll die Politisierung von Erfahrungen sein kann, zeigen in den vergangenen Jahren – wie kaum andere – die Kämpfe für die Liberalisierung von Abtreibungsgesetzen in zahlreichen Ländern Lateinamerikas. Erst vor wenigen Tagen hat das kolumbianische Verfassungsgericht entschieden, dass eine Schwangerschaft bis zur 24. Woche ohne Einschränkungen abgebrochen werden kann. Wir erinnern uns an die mit grünen Halstüchern gefluteten Straßen Argentiniens Ende 2020, als nach Jahren der feministischen Organisierung das Recht auf sichere und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche garantiert wurde. „Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden“, erklärt Verónica Gago im Interview mit LN. Gleichzeitig argumentiert sie, dass die Verabschiedung von Gesetzen nie das Ende feministischer Kämpfe bedeuten dürfe, sondern lediglich die Form der Kämpfe verändere.

Angewiesen auf politische Mehrheiten, um Forderungen von der Straße gesellschaftliche Realität werden zu lassen, besteht immer die Gefahr, dass soziale Bewegungen vereinnahmt werden und damit an Radikalität, Mobilisierungs- und Analysefähigkeit einbüßen. Wie ein direkter Dialog mit den sozialen Bewegungen aus dem Parlament heraus geführt werden kann, zeigt das feministische Kollektiv JUNTAS Codeputadas aus Brasilien. Bestehend aus fünf Frauen, haben die JUNTAS seit 2018 ein feministisches, partizipatives und transparentes Abgeordnetenmandat im Landesparlament des Bundesstaats Pernambuco. Ihre Erfahrungen zeigen, dass der Einzug in politische Institutionen nur einer von vielen Ansätzen feministischer Kämpfe ist, aber ein entscheidender sein kann.

„Räume zu besetzen – in Parteien, in der Gesetzgebung – in denen wir selbst über unsere Rechte entscheiden können, das gibt uns und unseren Kämpfen Sinn“, sagt Joelma Carla, eine der JUNTAS, im Interview mit LN . Sie hoffen, dass sie mit ihrem Format der Verbindung zwischen Parlament und sozialen Bewegungen andere Frauen inspirieren, „effektive Politik für unsere Anliegen“ zu machen. Denn es geht auch um konkrete Verteilungskämpfe, die in der politischen Arena ausgetragen werden – um Zugang zu öffentlicher Infrastruktur für alle, um eine gerechte und gute Gesundheitsversorgung, um reproduktive Gerechtigkeit oder um bezahlbaren Wohnraum. Errungenschaften, die auf der Straße, in asambleas und letztlich auch in Parlamenten erkämpft werden.

Der Wunsch alles zu verändern, beginnt weder in den Parlamenten, noch endet er dort. Der Wunsch, alles zu verändern, ist ein Prozess, der sich durch alle Fasern unserer Gesellschaft, unserer Körper und Beziehungen erstreckt.

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