Bewegung | Nummer 387/388 - Sept./Okt. 2006

Von der Bronx von Buenos Aires zum Vorzeigeprojekt?

BürgerInnenbeteiligung im Stadtviertel Abasto

Die Partizipation von BürgerInnen als Mittel und Werkzeug der Stadtentwicklung hat in Buenos Aires noch keine lange Geschichte. Die als eigenständige Verwaltungseinheit 1996 gegründete Ciudad Autónoma de Buenos Aires beginnt gerade erst dergleichen zu entwickeln. Verschiedene Werkzeuge sind entworfen, eingeführt und stillschweigend wieder beerdigt worden. Dabei wurden bis dato keine langfristig angelegten Kanäle geschaffen, die der Zivilgesellschaft einen stabilen und gesicherten Einfluss auf die Entwicklung ihres Lebensraumes gewähren würde. Außerhalb der Wahlen ist eine kontinuierliche Beteiligung der StadtteilbewohnerInnen, sofern sie sich nicht selbst organisieren, de facto nicht vorhanden.

Jan Dohnke

Die argentinische Hauptstadt ist als selbständige Verwaltungseinheit erst zehn Jahre jung. Sie war und ist Bühne der nationalen Politik. Politische Eitelkeiten und wirtschaftliche Interessen stehen bei den Verantwortlichen an vorderster Stelle. Die Interessen der StadtbewohnerInnen sind dabei, sofern sie nicht den Zielen der Regierenden dienen, meist nur hinderlich. Eine lokale Tradition zivilgesellschaftlicher Teilhabe, die von den politischen Autoritäten entsprechend geschätzt und akzeptiert wird, muss in diesem Umfeld erst noch wachsen.
Zivilgesellschaftliche Partizipationsstrukturen zu schaffen, ist angesichts der wechselhaften argentinischen Geschichte und beständig wiederkehrenden wirtschaftlichen Krisen kein leichtes Unterfangen. Die letzten Jahrzehnte wurden, auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1983, durch zwei schwerwiegende wirtschaftliche Krisen geprägt. Die letzte Krise pulverisierte 2001 die Ersparnisse großer Teile des argentinischen Mittelstandes und verschliss innerhalb einer Woche vier Präsidenten. Der Wechsel ist in Buenos Aires die Regel, politische Kontinuität und wirtschaftliche Stabilität bisher die Ausnahme.
Doch auch in diesem Umfeld hat in den letzten Jahren eine Entwicklung hin zur BürgerInnenbeteiligung stattgefunden. Nach jahrelanger Planung und Diskussion soll nun auf Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 2005 im kommenden Jahr das gesamte Stadtgebiet in 15 Kommunen, so genannte comunas, untergliedert werden. Vorgänger der comunas sind die bisherigen 16 Zentren für Geschäftsführung und Partizipation (CGP), die einerseits den BürgerInnen verschiedene Verwaltungsaufgaben näher bringen sollen und andererseits als Vermittlerin für Beschwerden und Wünsche zwischen den lokalen AnwohnerInnen und der Stadtregierung fungieren.
Durch die Kommunen sollen diese Aufgaben, insbesondere die Möglichkeiten der Teilhabe und des Einflusses der BewohnerInnen der Stadtviertel nun erweitert und gestärkt werden. Die Leitung der Kommunen wird zukünftig direkt durch die BürgerInnen gewählt und die Kommunen werden über einen eigenen Haushalt und festgeschriebene Kompetenzen verfügen. Es soll außerdem ein fester Beirat geschaffen werden, der sich aus den lokal aktiven Nichtregierungsorganisationen und Basisgruppen zusammensetzt, die aktuell das Bild zivilgesellschaftlicher Partizipation in Buenos Aires bestimmen.

Kulturelles Zentrum

So auch im alten Marktviertel Abasto, das am westlichen Rand des Stadtzentrums gelegen ist. Geprägt wird das etwa hundert Blöcke umfassende Gebiet durch den ehemaligen Lebensmittelgroßmarkt Abasto, dessen Gebäude im Zentrum des Viertels liegen. Am Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet, konzentrierte sich hier ein bedeutender Teil des städtischen Lebensmittelhandels. In seinem Umfeld siedelten sich zum großen Teil EinzelhändlerInnen mit ihren Familien an. Italienische, französische oder jüdische ImmigrantInnen, deren Lebensunterhalt mehr oder weniger abhängig vom Großmarkt war. Es entstand ein ArbeiterInnen- und Marktviertel, das stadtbekannt für seine Vielfalt und sein kulturelles Leben wurde. Stellvertretend hierfür steht die Person von Carlos Gardel, Gallionsfigur des Tango und schillernde Persönlichkeit aus dem Buenos Aires der 1920er Jahre. In den 50er und 60er Jahren folgte ein zweite Welle von ImmigrantInnen, meist aus dem argentinischen Inland, die ebenfalls den Charakter des Viertels prägten.
Doch in den 80er Jahren wandelte sich das Viertel. Der Lebensmittelhandel wurde an den Stadtrand verlagert, der Großmarkt geschlossen. Die von ihm abhängigen EinzelhändlerInnen zogen nach und nach weg. Die umliegenden Straßen verödeten, die leer stehenden Gebäude wurden mit ärmsten Bevölkerungsgruppen, vor allem ImmigrantInnen aus Bolivien, Peru oder Paraguay besetzt. Die so genannten casas tomadas, besetze Häuser, entstanden. Das Viertel erhielt den Beinamen „Bronx von Buenos Aires“, da die steigende Kriminalität das Abasto zunehmend dominierte. Dies hatte zur Folge, dass aus dem ehemals lebendigen Viertel eine „No-go-Area“ wurde. Das Gebiet wurde für InvestorInnen, die in anderen, attraktiveren Gebieten uniforme Wohntürme hochzogen, uninteressant. Somit blieb ein bedeutender Teil der urspünglichen Bebauung erhalten.
Im Zuge des neoliberalen Konsenses hielt 1998 der Handel erneut Einzug in den Hallen des ehemaligen Großmarktes. Diesmal jedoch in Form des Einkaufzentrums „Shopping Abasto“, realisiert mit Finanzmitteln nationaler wie internationaler InvestorInnen. Neben wirtschaftlichen Zielen versprach sich die Stadtverwaltung hiervon einen Aufschwung für das gesamte Viertel. Grundstücke wurden aufgekauft, die Spekulation ließ die Preise rapide in die Höhe schnellen, alte leer stehende wie besetzte Häuser wurden geräumt und abgerissen, um Platz für gewinnträchtigere Wohnhochhäuser zu schaffen. Viele BewohnerInnen der casas tomadas wurden vertrieben, obwohl sie zum Teil seit über zehn Jahren im Abasto wohnten.

Erfolgsgeschichte für Abasto?

Doch eine Revitalisierung und Wiederbelebung der umliegenden Straßenzüge blieb weitgehend aus. Die Wege der EinkäuferInnen verliefen von Parkplatz oder U-Bahn direkt zum Konsum und wieder zurück. Die Wirtschaftskrise von 2001 bereitete der Bauaktivität und Spekulation ein rasches Ende. Die geforderten Grundstückspreise wurden unbezahlbar, weitere Investitionen für den Moment uninteressant. Abasto erhielt eine weitere Atempause. 2002 gründete sich Cultura Abasto, ein Zusammenschluss von ansässigen Geschäftsleuten, KünstlerInnen und AnwohnerInnen mit Unterstützung des lokalen CGP 2 Sur. Dahinter steht der Versuch, den fortschreitenden Verfall und Abriss der verbliebenen historischen Gebäude zu verhindern, das kulturelle Erbe von Abasto am Rande des kommerziellen Zentrums von Buenos Aires zu bewahren und das Zusammenleben aller sozialen Gruppen zu fördern. Seitdem ist es gelungen, die historisch wichtigen Bauten weitgehend zu erhalten, die den Markt umgebenden Straßen und Gebäude teilweise zu sanieren und diverse kulturelle Projekte, darunter auch ein Museum, permanent zu etablieren. Das alles ohne einen eigenen Fonds oder bezahlte MitarbeiterInnen und OrganisatorInnen. Eine Erfolgsgeschichte.
Selbstformuliertes Hauptziel von Cultura Abasto ist der Erhalt des kulturellen Erbes im Stadtviertel. Die Inwertsetzung alter Wohnhäuser und die Revitalisierung des Tango um die Person Carlos Gardel sind Maßnahmen, die den sozialen Zusammenhalt und letztendlich die Lebensqualität im Viertel verbessern sollen. Für Abasto bedeutet diese Rückkehr traditionellen Bewusstseins auch eine verstärkte wirtschaftliche Tätigkeit durch AnwohnerInnen und TouristInnen.
Mittlerweile hat auch innerhalb der Stadtverwaltung ein Umdenken begonnen, weswegen inzwischen alle noch existierenden Altbauten in Abasto unter Denkmalschutz stehen. In den letzten Jahren wurden das Museum Carlos Gardel gegründet, historisierende Fassadenmalereien erneuert und ein Theater-Rundgang angelegt, der die unabhängigen Theater verbindet. Die Mittel für diese Maßnahmen wurden über den CGP Stück für Stück bei verschiedenen Fonds und der Stadtverwaltung beantragt.

Schwergewichte aus der Wirtschaft

Doch worin liegt der Grund für diese Erfolge? Es gibt viele weitere lokale AnwohnerInnenbündnisse im Abasto, die mit ihren Projekten und Zielen weniger Erfolg haben. Offiziell sind Mittel und Wege für alle gleich, geregelte Kanäle und Zugang zu Finanzhilfen bestehen über den CGP 2 Sur, der als Mittler zwischen BürgerInnen und Stadtverwaltung für Beschwerden, Forderungen und Anträge fungiert. Die Wege sind lang, und die Bewilligung von Projekten hängt oft von einzelnen Personen im städtischen Verwaltungsapparat ab, welche auch von ihren eigenen Interessen geleitet werden.
Zweifelsohne trägt die Zusammensetzung der Mitglieder von Cultura Abasto zu diesem Erfolg bei. Neben lokalen KünstlerInnen, unabhängigen Theatern, Nichtregierungsorganisationen, EinzelhändlerInnen, Betrieben und AnwohnerInnen gehören der Gruppe auch die BetreiberInnen des Einkaufzentrums, des ansässigen Abasto Plaza Hotels sowie der ehemalige und die aktuelle Direktorin des lokalen CGP an. Im Gegensatz zu anderen Bündnissen verfügen die Letztgenannten über die notwendigen Mittel, Räumlichkeiten und Kontakte, die eine kontinuierliche, kostenlose und erfolgreiche Organisationsarbeit ermöglichen. Dennoch werden auf den wöchentlichen Sitzungen die Entscheidungen durch alle Anwesenden im Konsens getroffen, eine unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Mitglieder existiert nicht. Cultura Abasto funktioniert auch auf Grund seines intern informellen Charakters und der noch geringen Zahl an Mitgliedern. Die Erfolge, die Cultura Abasto verzeichnet, wären jedoch ohne die lokalen „Schwergewichte“ in Wirtschaft und Verwaltung und deren Beziehungen sicherlich nicht möglich gewesen.

Partizipation oder Lobbyarbeit?

Tatsächlich stellt sich die Frage, ob Cultura Abasto als Partizipation von unten zu verstehen ist oder als eine einflussreiche Lobbygruppe mit lokal orientierten Zielen. Die bisherige, weit gehende Beschränkung auf wirtschaftliche und kulturelle Ziele zur Förderung des Tourismus im Quartier legt Letzteres nahe. Doch in diesem Jahr haben auch soziale Projekte ein größeres Gewicht bei Cultura Abasto gefunden. Dadurch, dass das Projekt Rechtsstatus erhielt, konnte beispielsweise ein Abkommen unterschrieben werden, das den Kindern im Stadtviertel erlaubt, die Sportplätze der argentinischen Marine zu benutzen. Außerdem wurde eine kleine Fußballschule gegründet, ein Spender finanziert Ausrüstung und Transport.
Darüber hinaus finden auch sozial orientierte Projekte einzelner Mitglieder rascher Gehör bei den Verantwortlichen, auch wenn diese Projekte bislang nicht über Cultura Abasto laufen. „Das ist unsere Stärke,“ sagt Mariano Ameghino, Mitglied von Cultura Abasto und rechte Hand des Direktors, „wir sind einerseits durch einzelne Mitglieder etwas privilegiert, andererseits haben wir auch Mitglieder, die viel mehr an der Basis arbeiten.“ Insofern ist Cultura Abasto eher als die Antwort engagierter und einflussreicherer BürgerInnen auf fehlende Kanäle zu verstehen, um einen direkten und einfacheren Zugang zu Mitteln zu gewinnen, die ansonsten nicht oder zumindest schwieriger zu erreichen wären.
Die Erneuerung des Abasto hat so in den letzten Jahren wieder an Tempo gewonnen. Die Möglichkeiten, sich gegen einen starken Investor zu wehren, bleiben aber gering. Recht und Denkmalschutz bieten nur beschränkten Schutz. Innerhalb der Stadtverwaltung finden sich immer wieder Mittel und Wege, Beschränkungen und Verbote zu umgehen oder außer Kraft zu setzen. Unter den ärmeren BewohnerInnen des Viertels besteht nach Auskunft von Gustavo Dieguez, Dozent an der Universität Palermo, immer noch Skepsis gegenüber einer weiteren Erneuerung des Viertels, da dies für viele Menschen unbezahlbare Mieten und Wegzug bedeuten würde. Zudem lässt der für viele alltägliche Kampf um das Notwendigste eine Partizipation an Projekten selten zu. Obwohl es keinerlei Restriktionen gibt, haben die Armen einfach nicht die Möglichkeit oder Zeit, sich bei Cultura Abasto zu engagieren.
Für Cultura Abasto wird die Verbindung von ökonomisch-touristischen Zielen mit sozialen Belangen in Zukunft die größte Herausforderung sein. „Es gibt neben denen, die mehr für touristische Ziele arbeiten auch diejenigen bei uns, welche mehr für die Menschen machen wollen, die am wenigsten Schutz haben“ so Ameghino. „Wir müssen die Bedürfnisse der Ärmsten mit der sozialen Verantwortung der Unternehmen und den Pflichten der öffentlichen Verwaltung verbinden. Ich glaube, dieses Jahr sind wir auf diesem Weg ein Stück vorangekommen.“

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