Protestcamp am Pass Cuesta La Dormida im Hintergrund der Berg La Vizcacha
„Natürlich, das verursacht Wut, Hilflosigkeit, Unwohlsein. Zu wissen, dass die da oben einfach weiterarbeiten und wir nicht viel dagegen tun können.“ sagt Mario Aravena Zamora und rührt in seiner Teetasse. „Aber wir werden weiter machen, bis wir Recht bekommen.“
Es ist heiß hier oben. Über dreißig Grad, und die Sonne brennt. Hochsommer in der Küstenkordillere an der Grenze der Region Valparaíso und der Metropolregión von Santiago. Sicherlich nicht die angenehmste Zeit, um ein Camp am Rande der staubigen Landstraße zu errichten. Etwas anderes bleibt Gegner*innen des Stromtrassenprojekts Cardones-Polpaico wie Aravena Zamora aber kaum übrig.
Mitte Januar hatten Anwohner*innen von La Dormida, eines Orteils von Olmué, illegale Bauaktivitäten auf ihrem Land festgestellt. Seitdem kontrolliert ein kleines Protestcamp am gleichnamigen Pass La Dormida zwischen Olmué und Til Til die Zufahrt zum Berg La Vizcacha und somit zu einem strategisch wichtigen Punkt für den Bau der Hochspannungstürme.
Nichtsdestotrotz wird auf der Rückseite des Berges weiter gebaut. Ausgehend von einem Privatgrundstück in der angrenzenden Gemeinde Quilpué bringt die beauftragte Baufirma EDEMSA Material mit Hubschraubern in das schwer zugängliche Terrain und versucht, unter Zeitdruck und in unklarer Rechtslage, die Fertigstellung der letzten dreizehn Hochspannungstürme durchzusetzen. Cardones-Polpaico ist ein Stromtrassenprojekt, welches das Kraftwerk Cardones in der Region Atacama mit dem Kraftwerk Polpaico in der Metropolregion Santiago verbinden soll. Nach der Fertigstellung wird die insgesamt 753 Kilometer lange Stromtrasse (die längste Chiles) die Metropolregion mit Energie versorgen und auf ihrem Weg die Küstenkordillere und das Biosphärenreservat La Campana – Peñuelas durchqueren. Eine Milliarde US-Dollar hatte Interchile, ein Subunternehmen der kolumbianischen ISA, ursprünglich investieren wollen.
Die Weigerung der Gemeinde Olmué, auf ihrem Land bauen zu lassen, ist bereits seit langem bekannt. Dennoch hat Interchile das Projekt fast fertiggestellt, was zu der reichlich absurden Situation führt, dass die Stromtrasse von beiden Seiten an den Ortsteil La Dormida heranreicht. Nur das letzte Verbindungsstück, die letzten dreizehn Türme, sechs von 753 Kilometern, stehen noch aus und sollen jetzt in einem illegalen Kraftakt zu Ende gebracht werden.
„Die haben immer gedacht, Geld wäre das Problem. Aber das ist es nicht.“
„Wir versuchen hier, zu kontrollieren, was auf unserem Land geschieht. Und machen damit die Arbeit, die eigentlich die Regierung machen sollte“, sagt Evelyn Marchant Figueroa, Präsidentin der Agrargemeinschaft von La Dormida in einem der wenigen freien Augenblicke. Ihr ist die Anspannung anzumerken. Andauernd klingelt das Telefon. Sie spricht mit Anwält*innen, NGOs und auch mit der nationalen Presse, welche bisher äußerst zurückhaltend über den Konflikt berichtet. „Wir haben vier mal Nein gesagt. Wir wollen das Geld nicht. Interchile will uns zu einem freiwilligen Abkommen drängen, was es aber niemals geben wird. Uns geht es um den ökologischen Schaden, den Schaden an unseren Wasservorkommen, den Schaden an den Gemeindestraßen. Die haben immer gedacht, Geld wäre das Problem. Aber das ist es nicht,“ fügt sie hinzu. Die jetzige Konfrontation ist das neueste Kapitel eines mehrjährigen Konflikts zwischen Interchile und La Dormida. Ein bereits 2014 geschlossener Kaufvertrag wurde 2015 aufgrund von Unregelmäßigkeiten annulliert. Da das Gebiet einer Agrargemeinschaft wie La Dormida in kollektivem Besitz ist, kann es nur unter der Zustimmung der Gemeinschaftsversammlung verkauft werden.
Eine Maßnahme, die der Vorgänger von Evelyn Marchant Figueroa scheinbar für unnötig empfand, als er das Land 2014 ohne Rücksprache an Interchile veräußerte.
Missmut entzündet sich besonders an der Frage, welchen Einfluss die Hochspannungstrasse auf die Umwelt haben wird. La Dormida liegt mitten im von der UNESCO ausgerufenen Biosphärenreservat La Campana-Peñuelas, einem von fünf Biosphärenreservaten mit mediterranem Klima weltweit und aufgrund des besonderen Mikroklimas Heimat einer einzigartigen, teilweise vom Aussterben bedrohten Flora und Fauna. Eine Tatsache, die Interchile im Rahmen der zur Genehmigung des Projektes notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfung schlicht nicht erwähnte.
Dieses Versäumnis könnte nun Folgen haben. Denn aus Sicht der Gemeindevertreter*innen ist die gesamte Baugenehmigung ohne eine rechtmäßig durchgeführte Umweltverträglichkeitsprüfung ungültig.
Diese Perspektive wurde zuletzt Anfang März in einem Urteil des Umweltgerichts in Santiago gestärkt. Eigentlich müsste die für die Umweltverträglichkeitsprüfung zuständige Behörde (SEA) somit Einspruch gegen die aktuelle Baugenehmigung einlegen, um diese für ungültig erklären zu lassen, was die Tür öffnen könnte für mehr als 60 weitere Beschwerden, welche auf der gesamten geographischen Länge der Stromtrasse gegen Interchile noch ausstehen. Dadurch könnte die Inbetriebnahme um Jahre verzögert, wenn nicht sogar ganz gekippt werden. In der Realität laufen die Bauarbeiten aber weiter und der zuständige SEA scheint keine Eile bei der Umsetzung des Gerichtsurteils an den Tag zu legen.
Offiziell soll der Bau der Stromtrasse Cordones-Palpaico es ermöglichen, die Energie der Solarkraftanlagen in der Atacama-Wüste in das nationale Stromsystem einzuspeisen. Dahinter steht aber weniger die Idee einer ökologischen Transformation als das ökonomische Interesse, die Investitionen des bisher unrentablen Solarkraftprojekts zu sichern. Die Gegner*innen sehen das Projekt darüber hinaus als Blaupause für weitere Energie- und Extraktivismusprojekte in der Umgebung, wie die geplante Kupfermine San Felipe oder das geplante Gaskraftwerk Los Rulos im nahe gelegenen Limache, sowie als Teil einer neuen Energiestrategie des chilenischen Staates, der den Stromexport als ein vielversprechendes Geschäftsmodell entdeckt hat.
Der chilenische Staat wollte den Konflikt aussitzen
Dass Interchile gerade jetzt versucht, die Fertigstellung zu erzwingen, ist keine Überraschung. Dem Unternehmen läuft die Zeit davon. Das Projekt hätte bereits 2017 in Betrieb gehen sollen und so sieht sich das Unternehmen seit dem ersten Januar dieses Jahres Strafzahlungen an den chilenischen Staat ausgesetzt. Kostenpunkt pro Tag: 190.000 US-Dollar.
Addiert man die rückwirkenden Strafzahlungen für die verpasste Fertigstellung im Jahr 2018, dürften sich bis Ende März bereits 83 Millionen US-Dollar an Strafzahlungen angesammelt haben, auch wenn das Unternehmen sich im Dezember noch zuversichtlich gab, diese mit dem Verweis auf „höhere Kräfte“ mindern zu können.
Mitte März ließ das Energieministerium nun verlauten, 2,6 Millionen US-Dollar an Strafzahlungen einzufordern. Die restlichen Zahlungen sollen erst nach der Fertigstellung des Projektes verhandelt werden. Ob die Strafzahlungen jedoch in voller Höhe eingefordert werden, ist mehr als fragwürdig. Evelyn Marchant Figueroa zumindest glaubt nicht daran: „Der Staat wird die Strafzahlungen nicht einfordern. Denn, wenn die das tun, dann kann Interchile dicht machen. Wir fordern also, dass der Staat konsequent ist und das Unternehmen zahlen lässt. Höhere Kräfte? Das ist lächerlich. Die haben einfach ihre Arbeit nicht gemacht.“
Daran, dass der chilenische Staat ein großes Interesse an der Fertigstellung des Projektes hat, bestehen keine Zweifel. Lange Zeit schien es so, als wollten der chilenische Staat und seine politischen Organe den Konflikt aussitzen und darauf setzen, dass Unternehmen und Kommune den Konflikt unter sich lösen. Und wie das ausgeht, ist im Bezug auf Energie- und Extraktisivmusprojekte in Lateinamerika gut bekannt: Obwohl bekanntermaßen Genehmigungen für den Bau der Türme fehlen, versucht EDEMSA jeden Tag aufs Neue, weiterzubauen. Vermeintliche Sichtungen des Geländes zur Erstellung von Umweltgutachten werden genutzt, um Bäume zu fällen, Löcher zu graben und Baumaterial zu transportieren. Mit dabei sind auch immer Vertreter privater Sicherheitsfirmen, Ex-Marines in selbstgebastelten Uniformen, mal in Schwarz und mal in Beige, mit Sonnenbrillen und vermummt, welche ein Klima der Bedrohung und Unsicherheit schaffen und stetig provozieren.
Die Arbeiter, junge Männer aus Bolivien und Peru, arbeiten unter mangelhaften Arbeits- und Hygienebedingungen und warten teilweise stundenlang auf Wasserlieferungen aus der Luft. 300.000 Chilenische Pesos, ca. 400 Euro, werden ihnen für diese Arbeit versprochen. Vollzeit, am Berg, im Hochsommer.
„Wir fordern also, dass der Staat konsequent ist und das Unternehmen zahlen lässt.“
Spätestens seit dem 25. März wird die Strategie der politischen Nichtpositionierung aber nicht länger möglich sein. Der Druck wächst: Nachdem ein Sondereinsatzkommando von mehr als einhundert Polizist*innen den gesperrten Zugangsweg zum Berg am Morgen hatte räumen lassen und drei Menschen vorübergehend festgenommen worden waren, ereignete sich wenig später ein weiterer, schwerer Zwischenfall. Ein Hubschrauber der von Interchile beauftragten Firma Ecocopter stürzte in der angrenzenden Gemeinde Quilpué ab. Alle sechs Insassen, unter ihnen auch vier Vertreter des von Interchile angeheuerten Sicherheitsdienstes, kamen dabei ums Leben.