Intersektionale Ansätze

Lélia Gonzalez – Kritik am 
hegemonialen Feminismus aus „Améfrica Ladina”

Foto: Cezar Loureira

Lélia de Almeida wurde am 1. Februar 1935 in Belo Horizonte, Minas Gerais, als Tochter einer Haushaltsangestellten und eines Bahnarbeiters geboren. Sie übernahm ihren Nachnamen Gonzalez von Luiz Carlos Gonzalez, einem Spanier, den sie Ende der 1960er Jahre heiratete. Als sie acht Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie nach Rio de Janeiro, wo sie bis zu ihrem Lebensende lebte. Wie ihre Geschwister musste sie von klein auf als Kindermädchen und Haushaltshilfe arbeiten. 1958 machte sie ihren Abschluss in Geschichte und Geografie und studierte dann Philosophie. Sie unterrichtete an Hochschuleinrichtungen in Rio de Janeiro, wie der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro und der Päpstlichen Katholischen Universität. Parallel zu ihrer akademischen Arbeit beteiligte sich Lélia am politischen Widerstand gegen das Militärregime (1964-1985), gründete die Vereinte Schwarze Bewegung gegen Rassendiskriminierung, nahm an der Gründung der Arbeiterpartei (PT) teil und gründete die Organisation Nzinga – Black Women’s Collective.

In der Schwarzen Bewegung prangerte sie den Mythos der Rassendemokratie an, forderte ein Ende der Gewalt und Diskriminierung, der Schwarze tagtäglich ausgesetzt sind, und verlangte eine öffentliche Politik zugunsten der Afro-brasilianischen Gemeinschaft. Lélia wies auch auf den Sexismus hin, der den weiblichen Teil der Schwarzen Bewegung oft zum Schweigen bringt. „Die Mitglieder reproduzieren die sexistischen Praktiken des herrschenden Patriarchats und versuchen, uns aus den Entscheidungsräumen auszuschließen“, betonte sie. Angesichts der Diskriminierung von Frauen in der schwarzen Bewegung sahen sich schwarze Aktivistinnen veranlasst, sich wirksam an der feministischen Bewegung zu beteiligen – die jedoch auch die Dimensionen des Rassismus im Leben von „Women of Colour“ ignorierte. Lélia zufolge behinderten die „eurozentrische Weltsicht und der Neokolonialismus“ des weißen feministischen Aktivismus den Kampf gegen die Unterdrückung der Schwarzen Frauen.
Sie war Pionierin darin, Klassismus und Rassismus des hegemonialen Feminismus in Frage zu stellen, und setzte sich für die Dekolonisierung des Feminismus und die Gründung eines „Afro-lateinamerikanischen Feminismus“ ein, der von Schwarzen und Indigenen Frauen in Lateinamerika angeführt wurde, das sie in „Améfrica Ladina“ umbenannte – um den nicht-weißen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Akteur*innen in diesem Gebiet Sichtbarkeit zu verleihen.

Ein weiterer Aspekt von Lélias antirassistischer Kritik war ihre Auseinandersetzung mit der akademischen Sprache, da ein großer Teil der Schwarzen Bevölkerung keinen Zugang zu formaler Bildung hatte. Daher versuchte sie, leichter zugängliche und verständlichere Texte zu verfassen, wobei sie häufig die Sprache verwendete, die sie pretoguês („schwarzes Portugiesisch“) nannte, ein Zeichen der Afrikanisierung des brasilianischen Portugiesisch.

Die Philosophin und Schwarze Aktivistin Angela Davis bezeichnet Lélia Gonzalez als eine der Begründerinnen des schwarzen Feminismus, der in Brasilien entstanden ist: „Im Rahmen eines internationalistischen, feministischen Ökosystems müssen wir betonen, dass wir, die im globalen Norden leben, viel von den Bewegungen lernen können, die im Süden entstanden sind, insbesondere von den Traditionen des schwarzen Feminismus in Brasilien.“

Lélia Gonzalez starb am 10. Juli 1994 in Rio de Janeiro an den Folgen eines Herz-Kreislauf-Problems. Ihr Andenken und ihre Ideen leben weiter.

Liliana Angulo – 
Antirassistische Kunst in 
Kolumbien

Foto: Museo Nacional de Colombia vie Flickr (CC BY ND-2.0)

Liliana Angulo Cortés ist eine Afro-kolumbianische Künstlerin und Aktivistin, die 1974 in Bogotá geboren wurde und sich in ihren multimedialen Werken mit rassistischen und sexistischen Repräsentationen von Körpern, insbesondere von Afro-kolumbianischer Frauen in Kolumbien auseinandersetzt. In ihren Fotografien, Skulpturen und Installationen greift sie Themen wie Rassismus, Armut, Kolonialismus und soziale und geschlechterbasierte Ungleichheiten auf und konfrontiert die Beobachtenden mit Fragen wie: Wie ist es, als „Schwarze Frau in Kolumbien“ gesehen zu werden? Welche Bilder oder Abwesenheiten von Bildern hat die Kategorie „Schwarzsein“ in der kolumbianischen Gesellschaft konstruiert? Wie können diese Konstrukte durchbrochen werden?

Liliana Angulo verbindet Kunst und Afro-feministischen Aktivismus, was besonders im Projekt Quieto Pelo („Stilles Haar“, 2008) zu erkennen ist. In diesem Projekt beschäftigt sie sich mit der Praktik Afro-kolumbianischer Frauen, Frisuren als Protest- und Kommunikationsmittel einzusetzen. Afro-kolumbianische Frauen und Frisörinnen aus Quibdó, San Andrés und Tumaco berichten über das Frisieren als eine Form der Pflege und Selbstfürsorge für den eignen Körper. Sie erhalten zugleich eine Tradition, die zu Zeiten der Sklaverei eine wichtige kommunikative Rolle spielte. Damals enthielten die geflochtenen­
Haare, auch tropas („Truppen“) genannt, geheime Codes und Karten von Fluchtrouten, die so in der Gemeinschaft still weitergegeben werden konnten. Wie Angulo berichtet, wurde in den Haaren aber auch Saatgut und Gold versteckt, als Grundlage für ein Leben in Freiheit. Wie die Fotografien aus dem Projekt zeigen, lassen sich die Frisuren als gemein­schaftlich-verbindendes Element des Protestes verstehen, aber auch als individuelle Verwirklichung jeder einzelnen Haarkünstlerin.

In weiteren Arbeiten der Künstlerin wird auch ihre Kritik an der heutigen Repräsentation und Rolle von Afro-Kolumbianer*innen in Kolumbien deutlich. In der Serie Negro Utópico („Utopisches Schwarz“, 2001) inszeniert sich die Künstlerin selbst mit schwarz bemaltem Gesicht und einer Perücke aus Draht-Spülschwämmen. Dabei sieht man auf neun Fotos, wie sie Hausarbeiten wie Bügeln und Putzen verrichtet. Auf einem der Fotos ist sie gerade dabei, eine geschnittene Banane in einen Mixer zu geben, womit sie kritisiert, dass Afro-Kolumbianer*innen, die einen großen Teil der Arbeiter*innen auf Bananenplantagen ausmachen, selbst oft nicht die Konsument*innen des eigenen Produktes sind und verweist damit auf fortlaufende rassistische und kolonialgeprägte Strukturen, die Afro-Kolumbianer*innen marginalisieren. Seit 2024 ist Liliana Angulo Cortés die Direktorin des Nationalmuseums von Kolumbien.

Sicherlich lässt sich ihre Position als Direktorin eines Museums, hinter dem der kolumbianische Staat steht kritisieren, allerdings ist sie zugleich die erste Afro-Kolumbianerin, die eines der ältesten Museen Lateinamerikas leitet. Außerdem ist sie weiterhin politisch aktiv, zum Beispiel als Mitglied des Kollektivs Agua Turbia („Trübes Wasser“), einer Gruppe Schwarzer Künstler*innen in Bogotá, die versucht, durch Kunst auf rassistische Strukturen in der kolumbianischen Gesellschaft aufmerksam zu machen.

Miriam Miranda – Kämpfe für Körper-Territorien der 
Garífuna in Honduras

Foto: Honduras Delegation

Seit über 30 Jahren kämpft Miriam Miranda zusammen mit ihrer Gemeinde für die Rechte der Afro-Indigenen Garífuna in Honduras. Die Geschichte ihres Volkes ist legendenumwoben: Irgendwann in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als Abertausende Afrikaner*innen von den Kolonialmächten verschleppt und versklavt wurden, um sie auf den Plantagen Amerikas dazu zu zwingen, für den Reichtum der Kolonien zu arbeiten, kaperte ein Schiff vor der Karibikküste. Die schiffbrüchigen Gefangenen konnten sich auf eine nahegelegene, von den Arawak bewohnte Insel, St. Vicente, retten.

Mit der Zeit verschmolzen die beiden Gruppen und eine neue Kultur mit eigener Sprache entstand, die Garífuna. Im Rahmen von Aufständen gegen verschiedene Kolonialmächte wurden immer wieder Garífuna in andere Teile der Karibik verschleppt, unter anderem nach Honduras, woher auch Miriam Miranda stammt. Noch hunderte Jahre nach ihrer Verschleppung halten die Garífunas in ihren Gemeinden zusammen und widersetzen sich der weiteren Vertreibung, sei es durch den Staat, durch transnationale Privatkonzerne oder durch Drogenkartelle. Insbesondere Landgrabbing durch die Tourismusbranche, Monokulturen und die Palmölindustrie sowie andere extraktivistische Projekte und die Folgen der sozialökologischen Krise stellen existenzielle Bedrohungen für die Afro-Indigene Bevölkerung der honduranischen Karibik dar.

Miriam Miranda hat dies auf unterschiedliche Weisen am eigenen Leib erfahren: Als Kind musste sie aufgrund des Mangels an Erwerbsmöglichkeiten mit ihrer Familie auf der Suche nach Arbeit und Bildungschancen durch das Land ziehen. Als Studentin in der Hauptstadt Tegucigalpa sah sie sich weiterhin mit Diskriminierung und Ungerechtigkeit konfrontiert, begegnete jedoch zugleich vielen Menschen aus dem Land, die dagegen kämpfen. Seit sie ihre Arbeit für die Rechte ihres Volkes begonnen hat, wurde sie mehrfach verhaftet, von Behörden misshandelt und von Kriminellen entführt. Doch auch weiterhin steht Miranda als Koordinatorin der Organización Fraternal Negra Hondureña (OFRANEH) in der ersten Reihe dieser Kämpfe.

In einem Interview mit dem feministischen Medienportal Capire beschreibt sie die Organisation als „eine Communityorganisation, die mit verschiedenen Gemeinden und Gruppen zusammenarbeitet und heute die politische Repräsentation der Garífuna in ihrem Kampf für kollektive Rechte und ihre angestammten Territorien ist.“ Dass Frauen dabei an vorderster Front stehen, leitet sich für Miranda sowohl aus den matrilinearen Traditionen der Garífuna ab als auch aus dem Bewusstsein, das viele Frauen durch die Aufgaben, die sie gesellschaftlich übernehmen, entwickeln: „Wie viele Frauen müssen so viele Kilometer laufen, um nur ein bisschen Wasser zu holen? Wie viele Frauen müssen ihr Saatgut verteidigen? In den letzten Jahrzehnten sind die Frauen hervorgetreten, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Damit die neuen Generationen wirklich genießen können, was da draußen ist, und ein erfülltes Leben haben, gut essen, frische Luft atmen und die Natur genießen können.“ Mit ihren Mitstreiter*innen von OFRANEH hat Miriam Miranda es geschafft, lebendige Alternativen zum dominanten, kapitalistischen Lebensmodell wie das 1500 Hektar umfassende Vallecito zu schaffen und selbstverwaltete Strukturen aufzubauen, die das Leben in den Mittelpunkt stellen. Sie beschrieb das Projekt in einem Interview mit pbi als „das Zentrum der Garífuna-Gemeinden, ein Paradies.“ Dort wird die konkrete Arbeit für Ernährungssouveränität mit verschiedenen Themen verbunden. Zum Beispiel mit dem Aufbau autonomer Gesundheitszentren, die mit traditionellen, ganzheitlichen Heilmethoden arbeiten, mit Bildungs- und Medienarbeit und dem Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt.

Mirandas Analysen auf Basis ihrer konkreten Lebenserfahrung zeigen deutlich, wie verschiedene Gewaltstrukturen wie Kolonialismus, Kapitalismus und Patriarchat nur gemeinsam bekämpft werden können. Ihre Arbeit beweist, dass radikale Alternativen nicht nur notwendig, sondern auch möglich sind.


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„BÜCHER JA, WAFFEN NEIN“

João Paulo da Silva „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ // Foto: Beatriz Mota
In ein paar Tagen wird Julia De Souza Rodrigues auf eine Konferenz nach Italien fahren, doch bis dahin wird die Neurowissenschaftlerin weiter protestieren. Souza Rodrigues forscht für ihre Doktorarbeit an der Bundes-Universität UFABC im Süden von São Paulo zu dem Zusammenhang von muskulärer und neuronaler Aktivität. Möglich macht das auch ein Stipendium, das sie aus öffentlichen Geldern für vier Jahre erhält. Souza Rodrigues hat einen wissenschaftlichen Schnellstart hingelegt, sie ist erst 21 Jahre alt. Inzwischen hat sich auch Harvard bei ihr gemeldet und sie eingeladen. Es ist nicht so, dass es unter den linken Vorgängerregierungen keine Kürzungen gegeben hätte, sagt sie, „aber der große Unterschied sind die Rechtfertigungen. Unter Dilma hieß es, wir haben kein Geld, aber in keinem Augenblick wurden wir derartig angegriffen. Heute sehen wir, dass die Regierung die Leute nicht respektiert, die das Beste für ihr Land wollen“. Für Bildung und gegen die Regierung demonstrieren gehört für sie in diesen Tagen unbedingt zusammen.

„Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“

„Raus Bolsonaro!“, das steht wie ein einstimmiges Fazit auf den Bannern, schallt durch die Reihen der Protestierenden und findet immer wieder zustimmende Antworten von den Balkons der angrenzenden Hochhäuser und im Hupen vorbeifahrender Autos. Die Studierenden rufen „Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“ oder fordern „Bücher ja, Waffen nein“. Am 15. Mai haben sie schließlich die gesamte Avenida Paulista besetzt, die größte und wichtigste Straße in São Paulo. Gewerkschaften, Parteien und Studierendenvereinigungen hatten landesweit zum Nationalstreik an Universitäten aufgerufen, mehr als 1,5 Millionen Menschen sollen es am Ende gewesen sein, in über 170 Städten. Offizielle Zahlen der Polizei gibt es nicht.

Protest der philosophischen Fakultäten am 3. Mai 2019  // Foto: Lisa Pausch

Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben

Es ist die erste große Protestwelle seit dem Amtsantritt des rechtsextremen Jair Bolsonaro. Ende April nahm sie Fahrt auf, auch als Folge von fliegenden Personalwechseln und zweifelhaften Aussagen des Bildungsministers.
Abraham Weintraub, Ökonom mit Erfahrung im Finanzsektor, ist selbst erst seit Anfang April im Amt. Sein Vorgänger, Ricardo Vélez Rodríguez, hatte kurz vor seiner Entlassung in einem Interview gesagt, es habe 1964 keinen Putsch gegeben, „sondern einen souveränen Beschluss der brasilianischen Gesellschaft“ und er wolle entsprechende Änderungen in Lehrbüchern vornehmen. Dass er ein paar Tage später entlassen wurde, hing eher mit internen Streitigkeiten zusammen als mit inhaltlichen Unstimmigkeiten. Wie auch Vélez Rodríguez hat es sich sein Nachfolger Weintraub auf die Fahnen geschrieben, Universitäten von einem vermeintlichen „Kulturmarxismus“ zu befreien. Eine Regierungsmaxime ganz im Sinne von Bolsonaros Guru, dem rechten Philosophen Olavo de Carvalho, nach dem das größte Problem Brasiliens der „Kulturmarxismus“ sei, der von den Linken in allen Sektoren der Gesellschaft verbreitet werde.
Nachdem der Kampf gegen die Kulturszene schon im März rhetorische Auswüchse in sozialen Netzwerken getrieben hatte, folgte am 24. April eine Ankündigung Jair Bolsonaros auf Twitter. Ausgaben für Soziologie und Philosophie sollten gekürzt werden, hieß es da, man werde sich auf andere Bereiche konzentrieren, die einen „direkten Nutzen für den Steuerzahler“ hätten, wie „Ingenieurswissenschaften und Medizin“.
Am 29. April legte Caroline de Toni, Abgeordnete der Regierungspartei, einen Gesetzesentwurf vor, der vorsieht, Paulo Freire den Titel als „Patron der brasilianischen Bildung“ zu entziehen. Dieser war ihm unter der linksgerichteten Regierung von Dilma Rousseff 2012 zuerkannt worden. „Paulo Freire war Marxist und er hat sich mehr um Politik gekümmert“, erklärte de Toni. Die Abgeordnete gehört mit zu den Carvalho-Anhängern und ist Verteidigerin der Initiative „Escola Sem Partido“ (Schule ohne Partei), deren Ziel es ist, gegen die linke „Indoktrination“ von Schüler*innen vorzugehen. Der brasilianische Pädagoge und Philosoph Paulo Freire (1921-1997) wurde für sein Werk Die Pädagogik der Unterdrückten weltweit rezipiert, seine Schriften sind Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO.
Am 30. April kündigte das Bildungsministerium (MEC) an, zunächst 30 Prozent der Budgets an den bundesstaatlichen Universitäten UFBA (Bahia), UFF (Rio de Janeiro) und UnB (Brasília) zu streichen, mit der Begründung, sie hätten die Erwartungen an ihre akademische Arbeit nicht erfüllt, stattdessen verursachten die Studierenden „Durcheinander“ und „lächerliche Veranstaltungen“. Bildungsminister Weintraub nannte als Beispiel für diesen „Radau“ etwa „Ohne-Land- Aktivisten“ und „nackte Menschen“ auf dem Campus, ohne diese Angaben genauer zu spezifizieren. Inzwischen geht die regierungsunabhängige Bundesstaatsanwaltschaft juristisch gegen Weintraub vor und fordert eine Entschädigung über eine Million Euro als „kollektiven Moralschaden“. Nach heftiger Kritik wurde diese Kürzung auf alle bundesstaatlichen Universitäten ausgeweitet.
Gabriel Dias, 19, ist Geschichtsstudent an der bundesstaatlichen Universität UNIFESP in São Paulo. Er hatte bereits am 3. Mai den ersten Protest der philosophischen Fakultäten organisiert. An dem Tag waren etwa 200 Studierende in São Paulo auf der Straße. „Die UNIFESP hatte historisch gesehen schon immer ein Profil von vielen Schwarzen Studierenden und jenen aus der Arbeiterklasse“, betonte er, „Wir leiden am meisten unter dem Angriff auf die Maßnahmen, die uns den Verbleib an der Uni überhaupt ermöglichen. Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben.“

Brachiale Polizeipräsenz Bildungsprotest in São Paulo am 23. Mai // Foto: Lisa Pausch

In einem ersten Schritt hatte die Regierung zu verstehen gegeben, 30 Prozent aller Gelder für bundesstaatliche Universitäten einzufrieren, später revidierte sie diese Aussage, es gehe um die „nicht-obligatorischen“ Zahlungen und das auch nur „vorübergehend“. Sollte die Rentenreform durchgehen, so Weintraub, könnten auch die Zahlungen für die Bildung wieder freigegeben werden. Mehrere Gruppen sprachen sich auf den Bildungsprotesten ausdrücklich auch gegen die Rentenreform aus.
Hintergrund der Einsparungen ist auch ein Haushaltsdefizit von über 139 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet 31 Milliarden Euro). Das Bildungsministerium soll dabei auf umgerechnet rund 1,7 Milliarden Euro seiner insgesamt bewilligten 34 Milliarden. Euro verzichten. Für die bundesstaatlichen Unis bedeutet das: Von den bewilligten 11,5 Milliarden Euro für die bundesstaatlichen Universitäten sollen 3,5 Prozent wegfallen, also mehr als 400 Millionen Euro. Das klingt wenig, bedeutet in der Praxis aber rund 30 Prozent weniger für all die Kostenpunkte, die nicht auf Löhne oder Renten entfallen. Allein die Personalkosten verschlingen mit umgerechnet 9,6 Milliarden. Euro mehr als 85 Prozent der Gesamtkosten an diesen Unis. Unter diese sogenannten nicht-obligatorischen Kosten fallen Neubauten, Renovierungen oder auch die Ausstattung für Labore, laufende Kosten für Wasser, Gas, Strom, Reinigungs- und Sicherheitspersonal, Mensen, Transport, Lehrmittel und vor allem Stipendien- und Projektmittel. Der Einschnitt ist an den Universitäten unterschiedlich, beläuft sich an den Universitäten im Süden der Bahia und Mato Grosso do Sul aber auf über 50 Prozent.
Ricardo Fonseca, Rektor der bundesstaatlichen Universität UFPR in Curitiba warnte vor einer Schließung der Universität, sollten die Kürzungen weiter bestehen bleiben. „Zu diesem Zeitpunkt werden sie die Aktivitäten im zweiten Semester unmöglich machen“. Die UFRJ in Rio de Janeiro beklagte, bereits jetzt mit einem Defizit von 170 Millionen Reais haushalten zu müssen, eine Folge vorheriger Kürzungen.
Gerade Stipendien haben es in den letzten Jahren Teilen der marginalisierten Bevölkerung erleichtert, Zugang zu höherer Bildung zu bekommen. Das bundesstaatliche Gesetz N.12711 wurde 2012 beschlossen, demnach müssen mindestens 50 Prozent der Studienplätze an Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vergeben werden. Diese sind in Brasilien dafür bekannt, zwar kostenlos aber nur unzureichend auf die Aufnahmeprüfungen der Unis vorzubereiten. Dementsprechend niedrig war die Quote der Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vor allem an den Exzellenzuniversitäten. Das Gesetz regelt auch die Quoten für Schwarze Menschen, People of Color (PoC) und Indigene, sie orientieren sich an dem jeweiligen Bevölkerungsanteil in den Bundesstaaten. Nach Angaben des nationalen Bildungsforschungsinstituts INEP sind in den ersten drei Jahren nach Gesetzesbeschluss die Zahlen der angenommenen Absolvent*innen aus öffentlichen Schulen von knapp 29.000 auf über 78.000 gestiegen, die Zahl der Studierenden, die sich als Schwarze oder PoC identifizieren, von knapp einer auf über zwei Millionen.
Parallel zu den Nachrichten aus dem Bildungsministerium stellten die Abgeordneten der Regierungspartei PSL Rodrigo Amorim in Rio de Janeiro und die Lehrerin Dayane Pimentel im Bundesstaat Bahia Gesetzesentwürfe vor, die das Quotensystem an den Universitäten beenden sollen.
Auch vor diesem Hintergrund kann das Foto des 20-jährigen João Paulo da Silva als ein Symbol gesehen werden. Die Journalistin Beatriz Mota fotografierte den Studenten während der Proteste am 15. Mai in Rio, er blickt entschlossen in die Kamera, auf seinem Schild steht: „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ Sein Foto wird auf Facebook tausendfach geteilt. Er selbst habe nicht mit dieser Verbreitung gerechnet, schreibt da Silva später auf Twitter und: „Ein junger lebender Schwarzer Studierender in einer Zeitung, das ist, was zählt, nicht nur weil ich das bin. Zwischen all den Todesnachrichten über unsere Leute, glaube ich, ist das eine andere Schlagzeile.“
Präsident Jair Bolsonaro ist während der Proteste außer Landes auf Staatsbesuch in den USA. Die Proteste seien Werk von „nützlichen Idioten“, die nicht einmal die Formel von Wasser kannten, weiß er aus der Ferne zu kommentieren, „Schwachköpfe, die als Manövriermasse einer kleinen Gruppe von Schlaumeiern dienen, die den Kern unserer Bundesuniversitäten in Brasilien ausmachen“. Ein paar Tage später kündigte die Regierung an, rund 20 Prozent der Kürzungen zurückzunehmen – ob aus Angst vor weiteren Protesten, bleibt unklar.
Angesichts der zweiten großen Proteste am 30. Mai, teilte das Bildungsministerium mit, es sei Lehrer*innen, Mitarbeiter*innen, Schüler*innen und Eltern „nicht erlaubt, während der Unterrichtszeit Proteste zu verbreiten und anzuregen“. Minister Weintraub ermutigte in einer Videobotschaft dazu, entsprechende Personen direkt auf der Website des Ministeriums anzuzeigen.


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