„BÜCHER JA, WAFFEN NEIN“

João Paulo da Silva „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ // Foto: Beatriz Mota
In ein paar Tagen wird Julia De Souza Rodrigues auf eine Konferenz nach Italien fahren, doch bis dahin wird die Neurowissenschaftlerin weiter protestieren. Souza Rodrigues forscht für ihre Doktorarbeit an der Bundes-Universität UFABC im Süden von São Paulo zu dem Zusammenhang von muskulärer und neuronaler Aktivität. Möglich macht das auch ein Stipendium, das sie aus öffentlichen Geldern für vier Jahre erhält. Souza Rodrigues hat einen wissenschaftlichen Schnellstart hingelegt, sie ist erst 21 Jahre alt. Inzwischen hat sich auch Harvard bei ihr gemeldet und sie eingeladen. Es ist nicht so, dass es unter den linken Vorgängerregierungen keine Kürzungen gegeben hätte, sagt sie, „aber der große Unterschied sind die Rechtfertigungen. Unter Dilma hieß es, wir haben kein Geld, aber in keinem Augenblick wurden wir derartig angegriffen. Heute sehen wir, dass die Regierung die Leute nicht respektiert, die das Beste für ihr Land wollen“. Für Bildung und gegen die Regierung demonstrieren gehört für sie in diesen Tagen unbedingt zusammen.

„Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“

„Raus Bolsonaro!“, das steht wie ein einstimmiges Fazit auf den Bannern, schallt durch die Reihen der Protestierenden und findet immer wieder zustimmende Antworten von den Balkons der angrenzenden Hochhäuser und im Hupen vorbeifahrender Autos. Die Studierenden rufen „Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“ oder fordern „Bücher ja, Waffen nein“. Am 15. Mai haben sie schließlich die gesamte Avenida Paulista besetzt, die größte und wichtigste Straße in São Paulo. Gewerkschaften, Parteien und Studierendenvereinigungen hatten landesweit zum Nationalstreik an Universitäten aufgerufen, mehr als 1,5 Millionen Menschen sollen es am Ende gewesen sein, in über 170 Städten. Offizielle Zahlen der Polizei gibt es nicht.

Protest der philosophischen Fakultäten am 3. Mai 2019  // Foto: Lisa Pausch

Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben

Es ist die erste große Protestwelle seit dem Amtsantritt des rechtsextremen Jair Bolsonaro. Ende April nahm sie Fahrt auf, auch als Folge von fliegenden Personalwechseln und zweifelhaften Aussagen des Bildungsministers.
Abraham Weintraub, Ökonom mit Erfahrung im Finanzsektor, ist selbst erst seit Anfang April im Amt. Sein Vorgänger, Ricardo Vélez Rodríguez, hatte kurz vor seiner Entlassung in einem Interview gesagt, es habe 1964 keinen Putsch gegeben, „sondern einen souveränen Beschluss der brasilianischen Gesellschaft“ und er wolle entsprechende Änderungen in Lehrbüchern vornehmen. Dass er ein paar Tage später entlassen wurde, hing eher mit internen Streitigkeiten zusammen als mit inhaltlichen Unstimmigkeiten. Wie auch Vélez Rodríguez hat es sich sein Nachfolger Weintraub auf die Fahnen geschrieben, Universitäten von einem vermeintlichen „Kulturmarxismus“ zu befreien. Eine Regierungsmaxime ganz im Sinne von Bolsonaros Guru, dem rechten Philosophen Olavo de Carvalho, nach dem das größte Problem Brasiliens der „Kulturmarxismus“ sei, der von den Linken in allen Sektoren der Gesellschaft verbreitet werde.
Nachdem der Kampf gegen die Kulturszene schon im März rhetorische Auswüchse in sozialen Netzwerken getrieben hatte, folgte am 24. April eine Ankündigung Jair Bolsonaros auf Twitter. Ausgaben für Soziologie und Philosophie sollten gekürzt werden, hieß es da, man werde sich auf andere Bereiche konzentrieren, die einen „direkten Nutzen für den Steuerzahler“ hätten, wie „Ingenieurswissenschaften und Medizin“.
Am 29. April legte Caroline de Toni, Abgeordnete der Regierungspartei, einen Gesetzesentwurf vor, der vorsieht, Paulo Freire den Titel als „Patron der brasilianischen Bildung“ zu entziehen. Dieser war ihm unter der linksgerichteten Regierung von Dilma Rousseff 2012 zuerkannt worden. „Paulo Freire war Marxist und er hat sich mehr um Politik gekümmert“, erklärte de Toni. Die Abgeordnete gehört mit zu den Carvalho-Anhängern und ist Verteidigerin der Initiative „Escola Sem Partido“ (Schule ohne Partei), deren Ziel es ist, gegen die linke „Indoktrination“ von Schüler*innen vorzugehen. Der brasilianische Pädagoge und Philosoph Paulo Freire (1921-1997) wurde für sein Werk Die Pädagogik der Unterdrückten weltweit rezipiert, seine Schriften sind Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO.
Am 30. April kündigte das Bildungsministerium (MEC) an, zunächst 30 Prozent der Budgets an den bundesstaatlichen Universitäten UFBA (Bahia), UFF (Rio de Janeiro) und UnB (Brasília) zu streichen, mit der Begründung, sie hätten die Erwartungen an ihre akademische Arbeit nicht erfüllt, stattdessen verursachten die Studierenden „Durcheinander“ und „lächerliche Veranstaltungen“. Bildungsminister Weintraub nannte als Beispiel für diesen „Radau“ etwa „Ohne-Land- Aktivisten“ und „nackte Menschen“ auf dem Campus, ohne diese Angaben genauer zu spezifizieren. Inzwischen geht die regierungsunabhängige Bundesstaatsanwaltschaft juristisch gegen Weintraub vor und fordert eine Entschädigung über eine Million Euro als „kollektiven Moralschaden“. Nach heftiger Kritik wurde diese Kürzung auf alle bundesstaatlichen Universitäten ausgeweitet.
Gabriel Dias, 19, ist Geschichtsstudent an der bundesstaatlichen Universität UNIFESP in São Paulo. Er hatte bereits am 3. Mai den ersten Protest der philosophischen Fakultäten organisiert. An dem Tag waren etwa 200 Studierende in São Paulo auf der Straße. „Die UNIFESP hatte historisch gesehen schon immer ein Profil von vielen Schwarzen Studierenden und jenen aus der Arbeiterklasse“, betonte er, „Wir leiden am meisten unter dem Angriff auf die Maßnahmen, die uns den Verbleib an der Uni überhaupt ermöglichen. Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben.“

Brachiale Polizeipräsenz Bildungsprotest in São Paulo am 23. Mai // Foto: Lisa Pausch

In einem ersten Schritt hatte die Regierung zu verstehen gegeben, 30 Prozent aller Gelder für bundesstaatliche Universitäten einzufrieren, später revidierte sie diese Aussage, es gehe um die „nicht-obligatorischen“ Zahlungen und das auch nur „vorübergehend“. Sollte die Rentenreform durchgehen, so Weintraub, könnten auch die Zahlungen für die Bildung wieder freigegeben werden. Mehrere Gruppen sprachen sich auf den Bildungsprotesten ausdrücklich auch gegen die Rentenreform aus.
Hintergrund der Einsparungen ist auch ein Haushaltsdefizit von über 139 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet 31 Milliarden Euro). Das Bildungsministerium soll dabei auf umgerechnet rund 1,7 Milliarden Euro seiner insgesamt bewilligten 34 Milliarden. Euro verzichten. Für die bundesstaatlichen Unis bedeutet das: Von den bewilligten 11,5 Milliarden Euro für die bundesstaatlichen Universitäten sollen 3,5 Prozent wegfallen, also mehr als 400 Millionen Euro. Das klingt wenig, bedeutet in der Praxis aber rund 30 Prozent weniger für all die Kostenpunkte, die nicht auf Löhne oder Renten entfallen. Allein die Personalkosten verschlingen mit umgerechnet 9,6 Milliarden. Euro mehr als 85 Prozent der Gesamtkosten an diesen Unis. Unter diese sogenannten nicht-obligatorischen Kosten fallen Neubauten, Renovierungen oder auch die Ausstattung für Labore, laufende Kosten für Wasser, Gas, Strom, Reinigungs- und Sicherheitspersonal, Mensen, Transport, Lehrmittel und vor allem Stipendien- und Projektmittel. Der Einschnitt ist an den Universitäten unterschiedlich, beläuft sich an den Universitäten im Süden der Bahia und Mato Grosso do Sul aber auf über 50 Prozent.
Ricardo Fonseca, Rektor der bundesstaatlichen Universität UFPR in Curitiba warnte vor einer Schließung der Universität, sollten die Kürzungen weiter bestehen bleiben. „Zu diesem Zeitpunkt werden sie die Aktivitäten im zweiten Semester unmöglich machen“. Die UFRJ in Rio de Janeiro beklagte, bereits jetzt mit einem Defizit von 170 Millionen Reais haushalten zu müssen, eine Folge vorheriger Kürzungen.
Gerade Stipendien haben es in den letzten Jahren Teilen der marginalisierten Bevölkerung erleichtert, Zugang zu höherer Bildung zu bekommen. Das bundesstaatliche Gesetz N.12711 wurde 2012 beschlossen, demnach müssen mindestens 50 Prozent der Studienplätze an Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vergeben werden. Diese sind in Brasilien dafür bekannt, zwar kostenlos aber nur unzureichend auf die Aufnahmeprüfungen der Unis vorzubereiten. Dementsprechend niedrig war die Quote der Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vor allem an den Exzellenzuniversitäten. Das Gesetz regelt auch die Quoten für Schwarze Menschen, People of Color (PoC) und Indigene, sie orientieren sich an dem jeweiligen Bevölkerungsanteil in den Bundesstaaten. Nach Angaben des nationalen Bildungsforschungsinstituts INEP sind in den ersten drei Jahren nach Gesetzesbeschluss die Zahlen der angenommenen Absolvent*innen aus öffentlichen Schulen von knapp 29.000 auf über 78.000 gestiegen, die Zahl der Studierenden, die sich als Schwarze oder PoC identifizieren, von knapp einer auf über zwei Millionen.
Parallel zu den Nachrichten aus dem Bildungsministerium stellten die Abgeordneten der Regierungspartei PSL Rodrigo Amorim in Rio de Janeiro und die Lehrerin Dayane Pimentel im Bundesstaat Bahia Gesetzesentwürfe vor, die das Quotensystem an den Universitäten beenden sollen.
Auch vor diesem Hintergrund kann das Foto des 20-jährigen João Paulo da Silva als ein Symbol gesehen werden. Die Journalistin Beatriz Mota fotografierte den Studenten während der Proteste am 15. Mai in Rio, er blickt entschlossen in die Kamera, auf seinem Schild steht: „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ Sein Foto wird auf Facebook tausendfach geteilt. Er selbst habe nicht mit dieser Verbreitung gerechnet, schreibt da Silva später auf Twitter und: „Ein junger lebender Schwarzer Studierender in einer Zeitung, das ist, was zählt, nicht nur weil ich das bin. Zwischen all den Todesnachrichten über unsere Leute, glaube ich, ist das eine andere Schlagzeile.“
Präsident Jair Bolsonaro ist während der Proteste außer Landes auf Staatsbesuch in den USA. Die Proteste seien Werk von „nützlichen Idioten“, die nicht einmal die Formel von Wasser kannten, weiß er aus der Ferne zu kommentieren, „Schwachköpfe, die als Manövriermasse einer kleinen Gruppe von Schlaumeiern dienen, die den Kern unserer Bundesuniversitäten in Brasilien ausmachen“. Ein paar Tage später kündigte die Regierung an, rund 20 Prozent der Kürzungen zurückzunehmen – ob aus Angst vor weiteren Protesten, bleibt unklar.
Angesichts der zweiten großen Proteste am 30. Mai, teilte das Bildungsministerium mit, es sei Lehrer*innen, Mitarbeiter*innen, Schüler*innen und Eltern „nicht erlaubt, während der Unterrichtszeit Proteste zu verbreiten und anzuregen“. Minister Weintraub ermutigte in einer Videobotschaft dazu, entsprechende Personen direkt auf der Website des Ministeriums anzuzeigen.

DIE 120 TAGE VON SODOM IN BRASÍLIA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Jair Bolsonaro verging kaum ein Tag, an dem nicht eine der zu einem demokratischen Gemeinwesen gehörenden Selbstverständlichkeiten von ihm oder seinen Regierungsmitgliedern erst unter Beschuss geriet, dann in schwerem Gewässer ohne Seenotrettung ausgesetzt und damit dem Untergang überlassen wurde. Schon in den ersten Tagen seiner Regierung setzte Bolsonaro mit der Erleichterung des Zugangs zu Feuerwaffen eines seiner Wahlversprechen um. Seit Januar dieses Jahres haben „Bewohner von städtischen Gebieten mit hoher Kriminalität“ sowie „Eigentümer von kommerziellen oder industriellen Geschäften“ die Erlaubnis, sich legal mit bis zu vier Feuerwaffen hochzurüsten. Flankiert wird diese Liberalisierung des Waffengesetzes von einer Lizenz zum Töten.

Die dahinter waltende Exzellenz ist Justizminister Moro, jener Richter, dessen Hauptmission es war, den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu verhaften und ihn damit an der erneuten Kandidatur zum Präsidenten zu hindern, und der dafür mit einem Ministeramt beschenkt wurde. Moro hat rasch eine Justizreform ins Parlament gebracht. Zum Kern dieser „Reform“ gehört die Entkriminalisierung von Tötungsdelikten der Polizei in Fällen von „entschuldbarer Angst, Überraschung und heftigen Emotionen“, falls diese der Erschießung von Banditen (fast immer junge, schwarze Männer) vorausgegangen seien. Dazu soll es dem Gesetzentwurf zufolge ausreichen, wenn die Polizist*innen dies anschließend glaubhaft deutlich machen. Wahre Leidenschaft aus dem ersten der Höllenkreise.

Zeitgleich lässt der neugewählte faschistische Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, mit Scharfschützen auf Favela-Bewohner*innen schießen, denen aus hunderten Metern Entfernung beim Blick durch das Zielfernrohr unterstellt wird, sie seien bewaffnet. Mehrere Fälle von Regenschirmen und Bohrmaschinen bezeugen deren Unschuld. Witzel beglückwünschte die Todesschützen. Fehlt nur noch der Orden aus dem Höllenkreis des Blutes.

Demokratisch verfasste Gemeinwesen brauchen eine lebendige Zivilgesellschaft, die Partizipation erkämpft und verteidigt, was der brasilianischen Zivilgesellschaft nach 1988 durchaus gelungen ist. Dem wurde nun de facto ein Ende gesetzt: Sämtliche der bestehenden Beiräte und Partizipationsorgane aller Ministerien wurden mit einem Federstrich abgeschafft, einschließlich staatlicher Organe, die in der Verfassung verankert sind oder durch völkerrechtlich verbindliche internationale Abkommen Rechtssicherheit genießen. Der Klageweg dagegen ist lang und steinig.

Wo die Bolsonaro-Truppe Widerstand mutmaßt, wird die Axt angesetzt. Der Kulturförderung wurde der Garaus gemacht, der Indigenenbehörde der Großteil ihres Etats genommen, und Philosophie und Soziologie sollten an Bundesuniversitäten gar nicht mehr gefördert werden. Bolsonaro will Fächer, die einen konkreten Nutzen haben. Ingenieur*innen haben sich schon immer angepasster an faschistische Systeme gezeigt als Geisteswissenschaftler*innen. Grundsätzlich sollen die Kids der Wohlhabenden die Universität wieder für sich alleine haben. „Die Universitäten sollen für eine intellektuelle Elite reserviert werden“, so der wegen interner Streitigkeiten inzwischen zurückgetretene Bildungsminister Ricardo Vélez Rodríguez. Der Minister ist gegangen, aber das Ziel bleibt: Arme sollen sich der Berufsausbildung widmen oder besser gleich malochen, sie haben an einer Hochschule im Brasilien des Haupt­manns Bolsonaro nichts zu suchen.

Bolsonaro liefert auch die Umsetzung weiterer Wahlkampfversprechen. Seine Hauptunterstützer – die Agrarlobby und die Industrie – rieben sich schon vor seiner Wahl die Hände, denn Bolsonaro will indigenes Land für das Agrobusiness und Bergbaukonzerne öffnen. Der tausendfache Protest der Indigenen, die Ende April das Acampamento Terra Livre, die größte indigene Versammlung zur Verteidigung des Amazonas­gebietes, in Brasília organisiert haben, wird von den militarisierten Bundestruppen der Força Nacional de Segurança Pública in Schach gehalten.

Die Aussortierung der Armen aus der Rentenversicherung, das ist der Plan der lange erwarteten Rentenreform seiner Durchlaucht, dem ultraneoliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes. Alte Menschen aus dem ländlichen Raum gehören zu den großen Verlierern, die Privilegien bei der Rente der Militärs sind aber aus der Reform herausgenommen. Überhaupt soll die Rentenkasse de facto den Banken übertragen werden: Kapitalgedeckte Altervorsorge heißt der Renner, der schon in Chile die Massen unter das Existenzminimum brachte und den Banken explodierende Börsenwerte verschaffte.

Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen.

Brasiliens Arbeiter*innen müssten sich entscheiden, tönte Bolsonaro im Wahlkampf: „Arbeit oder Rechte?“ Die logische Konsequenz aus diesem scheinbaren Gegensatz ist die Schleifung der Gewerkschaften über geschickt angesetzte Rahmenänderungen bei der Gewerkschaftsfinanzierung. Hinzu kommt, dass die Firmen nun – über die Tarifverträge hinweg – individuell mit den Arbeiter*innen verhandeln. Nicht nur wegen dieser Maßnahme freut sich die Wirtschaft über die neue Regierung und deutsche Firmen fühlen sich in Brasiliens Sodom pudelwohl. So sagt zum Beispiel André Clark, CEO von Siemens in Brasilien: „Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient“. Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen. Da schon unter der Temer-Regierung die Arbeitsjustiz dereguliert wurde, fehlte nur noch die logische Fortsetzung der Brutalo-Politik im Lohnbeutel: Der Stopp des Zuwachses des Mindestlohns. Die regelmäßige Erhöhung des Minimalbetrages über die Inflationsrate hinaus gehörte zu den wichtigsten Instrumenten der PT-Regierung zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Ab jetzt wird bei der Erhöhung höchstens die Inflation berücksichtigt und die bindende Kraft des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns erheblich eingeschränkt werden – anders ausgedrückt, er gilt nicht mehr in allen Bereichen und Regionen.

Bolsonaro erklärt, „Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn die Armee es so will“. Und erlaubte, dass der Militärputsch von 1964 auf „angemessene Weise“ in den Armeebaracken gefeiert wird – Demokratie als Gnade der Militärs, so versteht die Bolsonaro-Truppe das politische System.Die Ermittlungen um die vielfältigen Verstrickungen des Bolsonaro-Clans in die tiefen Staatsstrukturen der Mafiamilizen kommen nicht voran, wenn sie denn je ernsthaft von den zuständigen Ermittlungsbehörden aufgenommen wurden. „Wer hat Marielle Franco erschossen, und wer gab den Mordauftrag?“, fragen Brasilianer*innen auch ein Jahr nach dem Mord millionenfach. Obwohl die mehr als anrüchigen, direkten Verbindungen der ersten festgenommenen, mutmaßlichen Täter mit dem Bolsonaro-Clan zwar höchste mediale Klickzahlen erreichen, enden sie im juristischen Niemandsland.

Die brasilianische Demokratie und die ohnehin schwache, politische und staatliche Institutionenlandschaft sind täglich in Auflösung begriffen und das ist das eigentliche Programm: „Brasilien ist nicht das Feld, wo wir viele gute Sachen für unser Volk aufbauen wollen. Wir müssen eher viel dekonstruieren“, so Bolsonaro bei seinem Besuch in den USA. Bolsonaros Brasilien ist ein Land mit immer weniger „checks and balances“. Anders sieht das allerdings die Deutsche Bundesregierung: „Wir vertrauen in die Festigkeit der brasilianischen Institutionen“, erklärte jüngst ein über die Einschätzung des Deutschen Außenministeriums informierter Mitarbeiter. Und Außenminister Heiko Maas sieht „gemeinsame Werte“ am walten.

Als Dekonstrukteur stellt sich Bolsonaro auch als Anti-Präsident dar: Er demontiert seine Minister*innen und lässt seinen Guru, den selbst ernannten Philosophen Olavo de Carvalho aus den USA, gegen die Militärs wettern (zuletzt beschimpfte er diese als „Hosenscheißer”). Mal interveniert Bolsonaro im halbstaatlichen Mineralölunternehmen Petrobras, um eine Dieselerhöhung zu verhindern. Mal beugt er sich dem Rat seines Wirtschaftsministers und verspricht, dies nie wieder zu tun. „Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“, erklärte er. Dann wieder hetzt er seinen jüngeren Sohn Carlos, den Monsignore, gegen seinen Vize-Präsidenten, einen General.

„Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“

Bolsonaros Partei PSL, aufgefüllt mit politischen Parvenüs und Abenteurern, agiert im Parlament völlig orientierungslos. Bolsonaro lässt sie nicht an die Fleischtöpfe der Macht. Und so vergeht kaum ein Tag ohne ein Verwirrspiel, das keines ist, weil es mit dem klaren Ziel geschieht, die Institutionen allmählich zu zersetzen und in diesem Chaos eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen. Parlament und Justiz geben völlig widersprüchliche Signale und die obersten Richter*innen begehen elementare Fehler. Die etablierten Medien distanzieren sich von Bolsonaro aus Furcht, dass dieser Mann am Ende für die Herrschaft der Elite doch zu dysfunktional sein könnte. Bolsonaro schimpft über den größten Fernsehsender des Landes: „Rede Globo ist der Feind“. Und die Opposition schweigt: Die rechte Opposition der PSDB ist im Nichts verschwunden und die Linke verbleibt in der Schockstarre. Noch einmal die Journalistin Eliane Brum: „Bolsonaro ist Regierung und Opposition zugleich.”

Flankiert wird das ganze Schmierentheater durch den Auftritt der Signora in Brasiliens Sodom, der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, der wir die Erkenntnis verdanken, dass in den Niederlanden Eltern ihre Babys sexuell stimulieren, und dass Touristen nach Brasilien reisen, um dort in den Motels Sodomie zu begehen. Woraufhin der Präsident selbst diese Einsichten durch die Aufforderung ergänzte, die Ausländer sollten ruhig nach Brasilien reisen, um dort mit den schönen Frauen zu schlafen, aber die Schwulen sollten das nicht tun, in Brasilien gälten schließlich familiäre Werte. Werte aus den Höllenkreisen der Leidenschaft, des Blutes und der Scheiße.

 

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