„Es hat mit schrecklichen Schmerzen angefangen. Ich war allein zu Hause“, erinnert sich Cinthia mit einem ernsten Gesichtsausdruck. Sie ist Mitte 30, trägt Jeans und ein T-Shirt. Ihre langen dunklen Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Cinthia lebt in El Salvador, sie ist in einem der ärmeren Viertel aufgewachsen. Mit 19 Jahren hat sie noch bei ihrer Familie gelebt und als älteste Schwester mit ihrem Lohn die Familienkasse gefüllt. Die Geschwister waren noch jung, der Vater schwer krank. Ihre Mutter musste sich um ihn und die Kinder kümmern. Cinthia war zu diesem Zeitpunkt bereits im achten Monat schwanger. Es sei zwar kein Wunschkind gewesen, aber sie habe sich gefreut. Bis zu dem Tag, der ihr Leben komplett veränderte: der 4. Juni 2008.
„Wegen der Schmerzen habe ich mich hingelegt“, erzählt sie. Zunächst seien die Schmerzen etwas besser geworden. Für einen Moment sei sie eingeschlafen, dann jedoch unter starken Schmerzen wieder aufgewacht. Kurz darauf gebar sie unerwartet und viel zu früh ihren Sohn. „Er hatte die Nabelschnur um den Hals und war blau angelaufen. Ich hatte ihn in meinen Armen, er war ohnmächtig“, berichtet Cinthia. Verzweifelt bat sie die Nachbarin um Hilfe. Diese rief daraufhin einen Krankenwagen. Doch wenig später fuhr statt einem Krankenwagen die Polizei vor. Cinthia wurde erst auf eine Polizeiwache gebracht, dann ins Krankenhaus. Sie verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder aufwachte, war sie mit einem Bein ans Bett gefesselt und zwei Polizisten waren bei ihr. Sie fragte nach ihrem Sohn. „Er sei tot“, lautete die Antwort der Polizei. Die Ärzte im Krankenhaus hätten der Polizei mitgeteilt, dass Cinthia ihr Kind unter Umständen abgetrieben habe. „Das stimmt nicht. Das habe ich auch direkt gesagt“, stellt sie klar. Doch niemand glaubte ihr.
El Salvador gehört zu den Ländern mit den strengsten Abtreibungsgesetzen weltweit. Abtreibungen stehen generell unter Strafe, auch nach Vergewaltigungen oder bei Risikoschwangerschaften. Selbst junge Mädchen haben nicht das Recht abzutreiben. Und auch Fehl- und Totgeburten fallen unter den Straftatbestand „Verbrechen gegen ein Menschenleben“. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung wurden zwischen 2000 und 2019 insgesamt 181 Frauen wegen einer Abtreibung oder einer Fehlgeburt angeklagt. Wenn Ärzt*innen den Verdacht haben, dass eine Frau abgetrieben hat, müssen sie diese Frau anzeigen. Ansonsten droht ihnen selbst eine Haftstrafe.
Statt dem Krankenwagen kam die Polizei
Cinthia blieb keine Zeit, um zu trauern. Nur wenige Tage nach seinem Tod wurde sie vom Krankenhaus ins Frauengefängnis in Ilopango gebracht. Weil sich Cinthia keinen Anwalt leisten konnte, bekam sie einen Pflichtverteidiger. Immer wieder habe der im Laufe der Verfahren gewechselt. Sie fühlte sich nicht gut vertreten. Bei ihrer Gerichtsverhandlung kamen weder sie noch der Vater zu Wort. Ihr Urteil lautete: 30 Jahre Haftstrafe wegen_homicidio agravado_(dt.: schwerwiegendes Tötungsdelikt).
„In diesem Moment ist meine Welt zusammengebrochen. Ich habe geweint und mir ausgerechnet, wie alt ich sein würde, wenn ich freikäme“, erinnert sie sich. Im Gefängnis wurde Cinthia wegen ihrer vermeintlichen Straftat von den Mitinhaftierten misshandelt und geschlagen. „Sie dachten alle, ich hätte mein Kind getötet“, sagt sie. Aber nicht nur körperlich, sondern auch mental ging es ihr schlecht. Sie hatte ihren Sohn, ihre Zukunftsaussichten und ihre Familie verloren. Vor ihrer Inhaftierung hatte sich Cinthia ausgemalt, eine Ausbildung zu machen. Durch das Urteil verlor sie mit einem Schlag jegliche Perspektive.
2012, nach etwa vier Jahren Haft, lernte Cinthia die Aktivistinnen vom feministischen Kollektiv CFDL (Colectiva feminista para el Desarrollo local; dt.: Feministisches Kollektiv für die lokale Entwicklung) kennen. Einige der Feministinnen besuchten sie im Frauengefängnis von Ilopango und sicherten ihr Hilfe zu. Zu diesem Zeitpunkt waren 17 Frauen wegen einer Abtreibung oder einer Fehlgeburt inhaftiert. Erst als die erste der Frauen mit Hilfe des Kollektivs freikam, konnte Cinthia anfangen daran zu glauben, dass es wirklich eine reale Chance gab, mit Unterstützung der Aktivistinnen vorzeitig entlassen zu werden. „Als ich gesehen habe, dass eine Mitinsassin freikam, habe ich wieder eine Perspektive gesehen“, erzählt sie, „ich habe angefangen, Workshops im Gefängnis zu belegen und mich weiterzubilden.“ Sie machte einen Abschluss und arbeitete drei Jahre lang als Bäckerin im Gefängnis. Sie wollte sich vorbereiten auf das Leben danach. Hoffnung machte sich bei Cinthia breit.
Doch bis sie wirklich freikam verstrichen noch viele Jahre. Am 7. März 2019 wurden Cinthia und zwei weitere Frauen mit ähnlichem Urteil schließlich begnadigt – kein Freispruch, nur eine vorzeitige Entlassung –, nach knapp elf Jahren hinter Gittern. „Für mich war das wie ein zweiter Geburtstag“, Cinthia hat ein kleines Lächeln auf den Lippen. Endlich konnte sie ihre Familie wiedersehen. Nur drei Mal hatten sie es geschafft, Cinthia zu besuchen. Der Weg war zu weit, die Fahrkarten zu teuer. Zu wenig Zeit blieb übrig neben dem harten Alltag.
Doch nach der ersten Freude des Wiedersehens, wurde auch der Neuanfang in Freiheit schwierig. „Ich kam an diesen Ort zurück. Die Leute wussten, was passiert war. Ein paar haben sich gefreut, mich wiederzusehen. Andere haben immer wieder Sprüche geklopft, die mir emotional nah gegangen sind“, erinnert sich Cinthia. Ihre Mutter sagte immer wieder, Cinthia solle sich nichts daraus machen was die Leute reden. Aber für sie war das schwer. Auch heute noch sei es ein harter Weg, aber der Zusammenhalt in der feministischen Gruppe und eine Therapie helfen Cinthia, zu verarbeiten, was passiert ist.
Schwieriger Neuanfang in Freiheit
Schließlich lernte sie wieder einen Mann kennen. Sie verliebten sich, zogen in eine Gegend, in der niemand Cinthia kannte. Niemand in der Nachbarschaft weiß, was Cinthia in ihrer Vergangenheit passiert ist. Und das soll auch so bleiben. Sie will sich schützen – vor Vorwürfen, vor Getuschel, davor, dass ihr so viele nicht glauben, davor, dass so viele sie für den Tod ihres Sohnes verantwortlich machen.
Cinthia wurde wieder schwanger. Heute ist ihre Tochter fünf Jahre alt. Ein aufgewecktes Mädchen, voller Energie. Cinthia schaut ihrer Tochter liebevoll beim Spielen zu. „Ich wünsche mir, meiner Tochter eine gute Zukunft ermöglichen zu können, ihr Dinge beizubringen und zu erklären. Und dass ihr sowas niemals passiert“, sagt sie.
Über das Geschehene zu sprechen, fällt Cinthia nach wie vor schwer. Gleichzeitig ist es ihr wichtig, auf die Situation so vieler Frauen in El Salvador aufmerksam zu machen. Denn Konsequenzen habe das restriktive Abtreibungsgesetz besonders für die Frauen, die in eher armen Verhältnissen leben. Cinthia konnte die empfohlenen Termine zu den Schwangerschaftsuntersuchungen zum Großteil nicht wahrnehmen. Zu weit war das nächste Krankenhaus entfernt, sie hätte jedes Mal einen ganzen Tag auf der Arbeit gefehlt. Ihrem Eindruck nach haben sich ihre juristischen Pflichtverteidiger zudem nicht genug für sie eingesetzt. Auch die Verhaftung im Krankenhaus wäre einer wohlhabenderen Frau in einer schicken Privatklinik eher nicht passiert.
Es herrscht kurz Stille. Cinthia beobachtet eine Weile ihre kleine Tochter, die immer noch in ihrer eigenen Welt versunken mit kleinen Figuren spielt. Immer wieder schmunzelt sie beim Anblick des kleinen Mädchens mit den abstehenden Zöpfen. „Wir dürfen nicht ohnmächtig werden, sondern müssen immer weitermachen“, sagt sie schließlich zur Verabschiedung.