„Ich habe mein Kind verloren und landete im Gefängnis“

„Es hat mit schrecklichen Schmerzen angefangen. Ich war allein zu Hause“, erinnert sich Cinthia mit einem ernsten Gesichtsausdruck. Sie ist Mitte 30, trägt Jeans und ein T-Shirt. Ihre langen dunklen Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Cinthia lebt in El Salvador, sie ist in einem der ärmeren Viertel aufgewachsen. Mit 19 Jahren hat sie noch bei ihrer Familie gelebt und als älteste Schwester mit ihrem Lohn die Familienkasse gefüllt. Die Geschwister waren noch jung, der Vater schwer krank. Ihre Mutter musste sich um ihn und die Kinder kümmern. Cinthia war zu diesem Zeitpunkt bereits im achten Monat schwanger. Es sei zwar kein Wunschkind gewesen, aber sie habe sich gefreut. Bis zu dem Tag, der ihr Leben komplett veränderte: der 4. Juni 2008.

„Wegen der Schmerzen habe ich mich hingelegt“, erzählt sie. Zunächst seien die Schmerzen etwas besser geworden. Für einen Moment sei sie eingeschlafen, dann jedoch unter starken Schmerzen wieder aufgewacht. Kurz darauf gebar sie unerwartet und viel zu früh ihren Sohn. „Er hatte die Nabelschnur um den Hals und war blau angelaufen. Ich hatte ihn in meinen Armen, er war ohnmächtig“, berichtet Cinthia. Verzweifelt bat sie die Nachbarin um Hilfe. Diese rief daraufhin einen Krankenwagen. Doch wenig später fuhr statt einem Krankenwagen die Polizei vor. Cinthia wurde erst auf eine Polizeiwache gebracht, dann ins Krankenhaus. Sie verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder aufwachte, war sie mit einem Bein ans Bett gefesselt und zwei Polizisten waren bei ihr. Sie fragte nach ihrem Sohn. „Er sei tot“, lautete die Antwort der Polizei. Die Ärzte im Krankenhaus hätten der Polizei mitgeteilt, dass Cinthia ihr Kind unter Umständen abgetrieben habe. „Das stimmt nicht. Das habe ich auch direkt gesagt“, stellt sie klar. Doch niemand glaubte ihr.

El Salvador gehört zu den Ländern mit den strengsten Abtreibungsgesetzen weltweit. Abtreibungen stehen generell unter Strafe, auch nach Vergewaltigungen oder bei Risikoschwangerschaften. Selbst junge Mädchen haben nicht das Recht abzutreiben. Und auch Fehl- und Totgeburten fallen unter den Straftatbestand „Verbrechen gegen ein Menschenleben“. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung wurden zwischen 2000 und 2019 insgesamt 181 Frauen wegen einer Abtreibung oder einer Fehlgeburt angeklagt. Wenn Ärzt*innen den Verdacht haben, dass eine Frau abgetrieben hat, müssen sie diese Frau anzeigen. Ansonsten droht ihnen selbst eine Haftstrafe.

Niemand glaubte ihr Doch Cinthia blieb stark und kämpfte für ihre Entlassung aus dem Gefängnis (Foto: Linda Peikert)

Statt dem Krankenwagen kam die Polizei


Cinthia blieb keine Zeit, um zu trauern. Nur wenige Tage nach seinem Tod wurde sie vom Krankenhaus ins Frauengefängnis in Ilopango gebracht. Weil sich Cinthia keinen Anwalt leisten konnte, bekam sie einen Pflichtverteidiger. Immer wieder habe der im Laufe der Verfahren gewechselt. Sie fühlte sich nicht gut vertreten. Bei ihrer Gerichtsverhandlung kamen weder sie noch der Vater zu Wort. Ihr Urteil lautete: 30 Jahre Haftstrafe wegen_homicidio agravado_(dt.: schwerwiegendes Tötungsdelikt).

„In diesem Moment ist meine Welt zusammengebrochen. Ich habe geweint und mir ausgerechnet, wie alt ich sein würde, wenn ich freikäme“, erinnert sie sich. Im Gefängnis wurde Cinthia wegen ihrer vermeintlichen Straftat von den Mitinhaftierten misshandelt und geschlagen. „Sie dachten alle, ich hätte mein Kind getötet“, sagt sie. Aber nicht nur körperlich, sondern auch mental ging es ihr schlecht. Sie hatte ihren Sohn, ihre Zukunftsaussichten und ihre Familie verloren. Vor ihrer Inhaftierung hatte sich Cinthia ausgemalt, eine Ausbildung zu machen. Durch das Urteil verlor sie mit einem Schlag jegliche Perspektive.

2012, nach etwa vier Jahren Haft, lernte Cinthia die Aktivistinnen vom feministischen Kollektiv CFDL (Colectiva feminista para el Desarrollo local; dt.: Feministisches Kollektiv für die lokale Entwicklung) kennen. Einige der Feministinnen besuchten sie im Frauengefängnis von Ilopango und sicherten ihr Hilfe zu. Zu diesem Zeitpunkt waren 17 Frauen wegen einer Abtreibung oder einer Fehlgeburt inhaftiert. Erst als die erste der Frauen mit Hilfe des Kollektivs freikam, konnte Cinthia anfangen daran zu glauben, dass es wirklich eine reale Chance gab, mit Unterstützung der Aktivistinnen vorzeitig entlassen zu werden. „Als ich gesehen habe, dass eine Mitinsassin freikam, habe ich wieder eine Perspektive gesehen“, erzählt sie, „ich habe angefangen, Workshops im Gefängnis zu belegen und mich weiterzubilden.“ Sie machte einen Abschluss und arbeitete drei Jahre lang als Bäckerin im Gefängnis. Sie wollte sich vorbereiten auf das Leben danach. Hoffnung machte sich bei Cinthia breit.

Doch bis sie wirklich freikam verstrichen noch viele Jahre. Am 7. März 2019 wurden Cinthia und zwei weitere Frauen mit ähnlichem Urteil schließlich begnadigt – kein Freispruch, nur eine vorzeitige Entlassung –, nach knapp elf Jahren hinter Gittern. „Für mich war das wie ein zweiter Geburtstag“, Cinthia hat ein kleines Lächeln auf den Lippen. Endlich konnte sie ihre Familie wiedersehen. Nur drei Mal hatten sie es geschafft, Cinthia zu besuchen. Der Weg war zu weit, die Fahrkarten zu teuer. Zu wenig Zeit blieb übrig neben dem harten Alltag.

Doch nach der ersten Freude des Wiedersehens, wurde auch der Neuanfang in Freiheit schwierig. „Ich kam an diesen Ort zurück. Die Leute wussten, was passiert war. Ein paar haben sich gefreut, mich wiederzusehen. Andere haben immer wieder Sprüche geklopft, die mir emotional nah gegangen sind“, erinnert sich Cinthia. Ihre Mutter sagte immer wieder, Cinthia solle sich nichts daraus machen was die Leute reden. Aber für sie war das schwer. Auch heute noch sei es ein harter Weg, aber der Zusammenhalt in der feministischen Gruppe und eine Therapie helfen Cinthia, zu verarbeiten, was passiert ist.

Schwieriger Neuanfang in Freiheit

Schließlich lernte sie wieder einen Mann kennen. Sie verliebten sich, zogen in eine Gegend, in der niemand Cinthia kannte. Niemand in der Nachbarschaft weiß, was Cinthia in ihrer Vergangenheit passiert ist. Und das soll auch so bleiben. Sie will sich schützen – vor Vorwürfen, vor Getuschel, davor, dass ihr so viele nicht glauben, davor, dass so viele sie für den Tod ihres Sohnes verantwortlich machen.
Cinthia wurde wieder schwanger. Heute ist ihre Tochter fünf Jahre alt. Ein aufgewecktes Mädchen, voller Energie. Cinthia schaut ihrer Tochter liebevoll beim Spielen zu. „Ich wünsche mir, meiner Tochter eine gute Zukunft ermöglichen zu können, ihr Dinge beizubringen und zu erklären. Und dass ihr sowas niemals passiert“, sagt sie.

Über das Geschehene zu sprechen, fällt Cinthia nach wie vor schwer. Gleichzeitig ist es ihr wichtig, auf die Situation so vieler Frauen in El Salvador aufmerksam zu machen. Denn Konsequenzen habe das restriktive Abtreibungsgesetz besonders für die Frauen, die in eher armen Verhältnissen leben. Cinthia konnte die empfohlenen Termine zu den Schwangerschaftsuntersuchungen zum Großteil nicht wahrnehmen. Zu weit war das nächste Krankenhaus entfernt, sie hätte jedes Mal einen ganzen Tag auf der Arbeit gefehlt. Ihrem Eindruck nach haben sich ihre juristischen Pflichtverteidiger zudem nicht genug für sie eingesetzt. Auch die Verhaftung im Krankenhaus wäre einer wohlhabenderen Frau in einer schicken Privatklinik eher nicht passiert.

Es herrscht kurz Stille. Cinthia beobachtet eine Weile ihre kleine Tochter, die immer noch in ihrer eigenen Welt versunken mit kleinen Figuren spielt. Immer wieder schmunzelt sie beim Anblick des kleinen Mädchens mit den abstehenden Zöpfen. „Wir dürfen nicht ohnmächtig werden, sondern müssen immer weitermachen“, sagt sie schließlich zur Verabschiedung.


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Und wenn sie noch so viele Gefängnisse bauen

Foto: ADES

Es hat in den letzten Wochen viele besorgniserregende Berichte aus Santa Marta gegeben. Zuletzt wurde ihr Sohn Manuel verhaftet. Wie kam es dazu?
Ja, mein Sohn wurde am 17. Mai festgenommen. Er war mit seinen Freunden auf einem Fußballplatz, als die Polizei eintraf und ihn festnahm. Auf dem Polizeirevier in Santa Marta wurde mein Sohn von den Polizisten verprügelt. Von dort aus setzten sie ihn in ein Fahrzeug und brachten ihn nach Sensuntepeque, die Hauptstadt des Departamentos. Auf dem Weg dorthin wollte er wissen, warum sie ihn gefangen genommen haben. Statt ihm zu antworten schlugen sie weiter auf ihn ein. Zum Glück wurde er innerhalb von 24 Stunden wieder entlassen. Er hat starke Schmerzen und nimmt Medikamente.

Später kam raus, dass Ihrem Sohn vorgeworfen wurde, eine kriminelle Vereinigung zu unterstützen.
Das ist die harte Realität, die vor allem junge Menschen erleiden, wenn sie unter diesem Ausnahmeregime festgenommen werden. Zunächst einmal gibt es keine Informationen darüber, warum sie gefangen genommen werden. Laut Polizeibericht soll mein Sohn mit den Banden zusammengearbeitet haben. Nach diesem Muster nimmt die Nationale Zivilpolizei immer wieder junge Leute fest. In Wirklichkeit ist das aber eine totale Farce, denn wir kennen die Gemeinden und ihre Mitglieder. Wir waren es, die hart dafür gekämpft haben, dieses Phänomen (der Bandenkriminalität, Anm. d. Red) zu stoppen, das sich hier in El Salvador seit vielen Jahren wie ein Krebsgeschwür ausgebreitet hat. Denn die Politik des Staates war völlig unfähig dieser Situation entgegenzuwirken. Jetzt versucht diese Regierung dem Ganzen mit Massenverhaftungen ein Ende zu setzen. Seitdem wurden mehr als 65.000 Menschen gefangen genommen. Männer und Frauen.

Wie wirkt sich diese Willkür auf das Zusammenleben aus?
Seit heute Morgen hat sich hier rund um die Gemeinde und an den Haupteingängen das Militär positioniert. Letzte Woche hat eine Anhängerin des Bukelismo einen Tweet abgesetzt, in dem sie die Regierung aufforderte, unsere Gemeinde zu militarisieren, weil sie angeblich voller Bandenmitglieder sei. Wir vermuten, dass das der Grund für die starke Militärpräsenz ist. Für uns ist das alles erschreckend, denn die Älteren und auch ich haben erlebt, was es bedeutet, wenn das Militär da ist und dich kontrolliert, dich beobachtet. Das lässt die Wunden, die die Menschen in der Vergangenheit (während des Bürgerkriegs 1980 bis 1992, Anm. d. Red) erlitten haben, wieder aufreißen. Die Regierung hat klar auf Militarisierung zur Bekämpfung der Banden gesetzt und das ist die Ursache für all diese schweren Menschenrechtsverletzungen. Die Freiheit, die Meinungsfreiheit, die Organisationsfreiheit – so viele Rechte werden unter diesem Ausnahmezustand verletzt. Auch unsere Genossen wurden verhaftet, aus dem einfachen Grund, dass wir eine Gemeinschaft sind, die sich in schwierigen Momenten wie diesen irgendwie organisiert.

Die inhaftierten Aktivisten Miguel Ángel Gómez, Alejandro Laínez García, Pedro Antonio Rivas Laínez, Antonio Pacheco sowie Saúl Agustín Rivas Ortega sind durch ihren Einsatz gegen den Bergbau weltweit bekannt geworden. Internationale Menschenrechtsorganisationen fordern ihre Freilassung. Sogar die UNO meldete sich zu Wort und verlangte von der salvadorianischen Regierung detaillierte Informationen zu den erhobenen Anschuldigungen sowie zur humanitären und rechtlichen Situation der Inhaftierten. Diese behauptete, die Gefangenen würden rechtmäßig behandelt und medizinisch betreut. Was wissen Sie über die Situation?
Unsere Kameraden wurden am 11. Januar inhaftiert. Seit der ersten Anhörung am 19. Januar hatten die Familienangehörigen keine Möglichkeit mehr, mit ihnen in Kontakt zu treten. Allerdings war die Verteidigung regelmäßig bei ihnen, bis die Angeklagten am 7. März an das Gericht in Soyapango überstellt und in das dortige ehemalige Frauengefängnis verlegt wurden. Seitdem haben auch die Anwälte sie nicht mehr gesehen. Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir nicht gegen die Fortführung eines ordnungsgemäßen Verfahrens sind. Aber Sorgen bereiten uns die Bedingungen, in denen sich die Kameraden jetzt befinden, zum Beispiel, was ihren Gesundheitszustand angeht. Einige von ihnen sind schon älter. Es gibt zwei, die gesundheitliche Probleme und chronische Krankheiten wie Asthma und Diabetes haben. Der Anwalt reiste vor dem 7. März jeden Tag zu ihnen, um ihnen ihre Medikamente zu geben, weil er ihnen nicht die Dosis für den nächsten Tag geben durfte. Aber seit dem 7. März ist auch das nicht mehr möglich. Von zwei Genossen verschlechterte sich der Gesundheitszustand so sehr, dass sie in ein Gefängnis namens Quezaltepeque in San Salvador verlegt wurden. Einmal durfte das Rote Kreuz die übrigen Kameraden in Soyapango besuchen. Zu unserer Überraschung empfahlen sie den Gefängniswärtern dringend, sie medizinisch versorgen zu lassen. Das beunruhigte uns sehr, denn es scheint, dass ihr Gesundheitszustand nicht gut ist. Besonders große Sorgen machen wir uns aber um Saúl Agustín Rivas. Er ist Rechtsanwalt und hat in der Vergangenheit viel mit unserer Vereinigung zusammengearbeitet. Er wurde im April in das berüchtigte Izalco-Gefängnis verlegt. Er ist dringend auf Medikamente gegen seine Zuckerkrankheit angewiesen. Aber wir haben gehört, dass es dort keine medizinische Versorgung gibt. Außerdem wurden von dort die meisten Todesfälle registriert. Wir machen uns große Sorgen um die Sicherheit und den Gesundheitszustand von Saúl.

Die Gemeinde Santa Marta war vom Bürgerkrieg und den damals vom Militär begangenen Verbrechen schwer betroffen. Welchen Zusammenhang sehen Sie in Bezug auf den Aktivismus, der in Santa Marta seit den Jahren des Bürgerkrieges ungebrochen scheint?
Diese Gemeinde hat während des bewaffneten Konflikts in den 80er Jahren viel erlitten. Für unser salvadorianisches Volk war das sehr hart, es hat unter der Unterdrückung und Gewalt sehr gelitten, Santa Marta hat den Konflikt am eigenen Leib erfahren. Um sich zu retten, mussten die Menschen aus Santa Marta nach Honduras fliehen. Aber sie kehrten noch während des Konflikts zurück und begannen sich zu organisieren. Und auf diese Weise haben wir grundlegende Dienstleistungen in der Gemeinde erreicht, wir haben sogar Gemeinschaftsgrundstücke, eine Ausbildungsstätte, die bei einigen sogar mit einem Universitätsabschluss endet. All dies verdanken wir unserer organisatorischen Stärke.

Santa Marta hatte eine große Mobilisierungskraft und dadurch wurde es möglich, dass die Nationalversammlung das Gesetz gegen den Bergbau im Jahr 2017 verabschiedet hat. Aber seitdem diese Regierung im Amt ist, ist die Situation kompliziert geworden. Man merkt, dass sie Megaprojekte in diesem Land voranbringen will. Antonio Pacheco und die anderen wurden genau in dem Moment verhaftet, als sie ein großes nationales Forum zur Sensibilisierung der Bevölkerung über die Anwesenheit von Bergbau- unternehmen organisieren wollten.

Im Juli 2023 sind die Angeklagten noch immer in Haft. Wie schaffen Sie es als Organisation trotz der Repression weiterzumachen?
Wir haben sehr schwierige Zeiten durchgestanden. Im bewaffneten Konflikt, aber auch im Kampf für die Umwelt, als wir sehr wertvolle Kameraden verloren haben. Aber wir haben die harten Momente überwunden. Das ist nur mit starken Gemeinschaften möglich, mit dieser Hingabe und auch der internationalen Solidarität. Diese Regierung hat große Angst vor dem, was die Leute von außen sagen. Für uns ist es wichtig, diese Regierung zu entlarven, obwohl wir wissen, dass wir sogar das Risiko eingehen, dass sie uns verschwinden lassen. Ich weiß nicht, ob sie kommen werden – aber sie werden uns nicht vernichten können. Egal, wie viele Gefängnisse sie bauen, egal, wie groß sie sie bauen, sie werden es nicht schaffen, die sechseinhalb Millionen von uns, die in diesem Land leben, zum Schweigen zu bringen. Es wird Stimmen geben, die diesen Kampf fortsetzen werden. Und das ist die Kraft, die uns Hoffnung gibt.


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HUNGERSTREIK ALS LETZTES MITTEL

Und wenn es dein Kind wäre? Eltern und Angehörige politischer Gefangener bei einer Kundgebung in Managua (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr, CC BY 2.0)

Am 24. September bestätigte die Demokratische Union der Erneuerung UNAMOS, dass deren Vorsitzende und Ex-Guerillera Dora María Téllez (66) in den Hungerstreik getreten ist und die Aufhebung der Isolationshaft und Zugang zu Lesematerial fordert. Bestätigt ist auch, dass die politischen Gefangen Róger Reyes, Irving Larios und Miguel Mendoza einen Hungerstreik begonnen haben. Bei Redaktionsschluss hatte sich die Zahl der Streikenden im Gefängnis La Modelo um weitere 20 politische Gefangene erhöht. Sie waren nach Informationen von Familienangehörigen am 26. September in einen unbefristeten Hungerstreik getreten, um ihre Freilassung zu verlangen. Zu befürchten ist, dass die unmenschlichen Haftbedingungen in Nicaragua weitere Todesopfer fordern könnten.

Insgesamt befinden sich derzeit schätzungsweise 205 Personen aus politischen Gründen in verschiedenen Gefängnissen des Landes, während die Repression gegen Aktivist*innen, Journalist*innen und Oppositionelle weitergeht. Seit sich die Angriffe auf die katholische Kirche in den vergangenen Monaten intensiviert haben, werden auch Priester verhaftet, ein Bischof wurde unter Hausarrest gestellt.

Für die Haftbedingungen, denen die politischen Gefangenen ausgesetzt sind, trägt das Präsidentenpaar Ortega-Murillo die Verantwortung. Dabei treten die zerstörerischen Auswirkungen auf die physische und psychische Integrität der Häftlinge immer deutlicher zutage. Ortega-Murillo scheinen mit ihrer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Gefangenen entschlossen zu sein, sogar deren Tod in Kauf zu nehmen. Über die Haftsituation und den Gesundheitsstatus der politischen Gefangenen dringen nur spärlich Informationen nach außen. Da nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen die Beobachtung und Überwachung der Lage der politischen Gefangenen vor Ort verweigert wird, beschränkt sich das Wissen über ihre Haftbedingungen im Wesentlichen auf Aussagen von Familienangehörigen und Anwält*innen der Gefangenen, die sich nach jedem Besuch in der Haftanstalt El Chipote entsetzt über den körperlichen und psychischen Verfall der Häftlinge äußern.

„Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie nicht einmal drei Mahlzeiten am Tag bekommen? Und wenn Sie etwas zu essen bekommen, ist es mangelhaft, von schlechter Qualität und manchmal sogar verdorben”, zitiert das Informationsportal DIVERGENTES Bertha Valle, die Frau des politischen Gefangenen Felix Maradiaga. Vilma Núñez, Präsidentin des Nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte (CENIDH) warnt, dass einige politische Gefangene ihren Angehörigen erzählt haben, sie könnten sogar die „15 Bohnen in dem schlecht gemachten Gallopinto” (nicaraguanische Hauptmahlzeit aus Bohnen und Reis, Anm. d. Red.) zählen und gingen hungrig zu Bett.

Seinen Familienangehörigen hat Medardo Mairena, eine der Führungspersönlichkeiten der Bauernbewegung, berichtet, dass er manchmal das Gefühl habe zu ersticken. Durch häufige Verhöre werde dieses Gefühl noch verstärkt. In der zwei mal zwei Meter messenden Strafzelle, in der er seit mehr als einem Jahr in strenger Isolation gehalten wird, gibt es kaum Luftzirkulation. Ob es Tag oder Nacht ist, kann er nur erkennen, wenn er durch ein kleines Fenster schaut.

Edgar Stuardo Ralón, Berichterstatter der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) für die Rechte von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, und für die Verhütung und Bekämpfung von Folter, verwendet zur Definition der Haftbedingungen, denen die politischen Gefangenen in Nicaragua unterworfen sind, den Begriff „weiße Folter”. Der Begriff wird verwendet, wenn Bedingungen wie die drastische Einschränkung sinnlicher Wahrnehmung und Unterbindung jeglicher Kontaktmöglichkeiten durch extreme Isolationshaft gegeben sind. In der Praxis des Strafvollzugs gehören dazu unter anderem Maßnahmen wie die Unterbringung in Zellen, in denen 24 Stunden das Licht brennt oder völlige Dunkelheit herrscht, der Entzug von Sonnen- oder Tageslicht, Entzug jeglichen Lese- und Schreibmaterials, Briefzensur oder die Willkür der Gefängnisadministration bei Entscheidungen wie der Zulassung oder dem Verbot von Besuchen.

Das Gefängnis El Chipote, in dem mehr als 30 der politischen Gefangenen strenger Isolationshaft unterworfen sind, ist nicht Teil des allgemeinen nicaraguanischen Strafvollzugssystems, sondern eine Sonderhaftanstalt, in der die Isolierung der Gefangenen von anderen Häftlingen ermöglicht wird. In diesem Gefängnis befinden sich auch die vier weiblichen politischen Gefangenen und Mitglieder der Direktion von UNAMOS: Tamara Dávila, Suyen Barahona, Ana Margarita Vijil und Dora María Téllez. Am 17. September warnte das Nicaraguanische Zentrum für Menschenrechte (CENIDH), dass das Leben von Téllez aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und des schweren körperlichen Verfalls, den sie während der mehr als einjährigen Haft erlitten habe, in Gefahr sei.

Seit ihrer Verhaftung haben die vier Frauen mehr als 460 Tage allein in strenger Einzelhaft verbracht. In einem Interview des Journalisten Carlos F. Chamorro mit dem US-amerikanischen forensischen Psychiater Terry Kupers auf dem Youtube-Nachrichtenkanal Esta Semana beschreibt der Journalist deren Haftbedingungen: „Sie hatten noch nie das Recht, mit anderen Menschen zu kommunizieren, ein Buch zu lesen oder zu schreiben. Und sie werden nur einmal pro Woche für ein paar Minuten Sonnenlicht und frische Luft aus ihren Zellen geholt und erhalten nur alle 45 Tage Familienbesuche.” Nach den kurz- und mittelfristigen gesundheitlichen Auswirkungen der in El Chipote angewandten Isolationshaft für die Betroffenen befragt, antwortet Kupers: „Was du beschreibst, ist Folter. Dies ist nach allen Definitionen Folter“. Als Experte für die Gesundheit von Gefangenen in den Vereinigten Staaten hat Kupers mehr als 30 Mal vor US-Gerichten über die psychiatrischen und physiologischen Auswirkungen des US-Gefängnis- systems auf Gefangene ausgesagt und war als Berater für Menschenrechtsorganisationen tätig.

In einer gemeinsamen Erklärung hatten die Familienangehörigen am 29. August in einer Pressekonferenz wiederholt angeprangert, dass die an die Gefangenen verabreichten Essensrationen auf ein lebensbedrohliches Maß reduziert worden seien. Offenbar als Reaktion darauf hatten Ortega-Murillo zwischen dem 30. August und 1. September eine fragwürdige „informative” Anhörung einer ausgewählten Gruppe von bereits zu langjährigen Haftstrafen verurteilten politischen Gefangenen vor Gerichten in Managua angeordnet. Für dieses einmalige Prozedere gibt es im nicaraguanischen Justizwesen keinerlei Rechtsgrundlage, vielmehr ist anzunehmen, dass es darum ging, einige der prominentesten Gefangenen der Öffentlichkeit vorzuführen, um ihre gesundheitliche Unversehrtheit zu beweisen. Hierzu wurden in regierungsnahen Medien Fotos von Gefangenen in Gefängniskleidung veröffentlicht, die allerdings zu nichts weniger taugten als zu einem Beweis für den guten Gesundheitszustand der Häftlinge. Einige sahen deutlich geschwächt und blass aus, es war ihnen anzusehen, dass sie einen starken Gewichtsverlust erlitten haben. Nach übereinstimmenden Aussagen von Familienangehörigen wurden vor der Vorführung die Essensrationen kurzzeitig erhöht, was manche der männlichen Gefangenen aufgrund ihrer Statur kräftiger aussehen ließ, um die Portionen anschließend wieder auf das niedrigere Maß sinken zu lassen. Eine Lebensmittelversorgung über die Angehörigen ist nicht erlaubt.

Mit zunehmender Häufigkeit setzen Gefangene in Hungerstreiks ihr Leben aufs Spiel, um Hafterleichterungen zu erreichen wie sie in der Erklärung von UNAMOS zum Hungerstreik von Dora María Téllez gefordert werden: „Das muss aufhören, alle Personen müssen Zugang zu Lese- und Schreibmaterial erhalten, Besuche müssen reguliert werden, die Ernährung muss verbessert werden und die von den Verwandten bereitgestellten Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente müssen vollständig und rechtzeitig geliefert werden, mit einem Wort: Ihre Rechte, die jeden Tag von der Diktatur verletzt werden, müssen respektiert werden.”

Die Anwendung systematischer Folter ist ein Kennzeichen totalitärer Regime, die „weiße Folter” findet hingegen auch in den Gefängnissen von Demokratien statt, zum Beispiel zur Bestrafung von Häftlingen. In Nicaragua hat die Folter die offensichtliche Funktion, Rache an einer zivilgesellschaftlichen Bewegung zu nehmen, die mit friedlichen Mitteln eine Änderung der Verhältnisse suchte. „Es gibt eine Politik der Rache, und zwar nicht nur gegen die sichtbarsten Personen. Sie rächen sich an den Bürgern und Bürgerinnen, die massenhaft auf die Straße gegangen sind, denn das ist ein enormer Affront gegen ein Regime, das es gewohnt war, jede Form der Bürgermobilisierung an sich zu reißen”, zitiert DIVERGENTES die Soziologin María Teresa Blandón, feministische Aktivistin und Leiterin von La Corriente, einer der 2.000 Nichtregierungsorganisationen, deren Schließung im Juli 2022 angeordnet wurde. Blandón selbst wurde nach einem Auslandsaufenthalt die Einreise in ihr Land verweigert.

Der Wirtschaftswissenschaftler Enrique Sáenz ist der Meinung, dass das Ortega-Murillo-Regime darauf setzt, die Moral der politischen Gefangenen „nicht nur physisch, sondern auch psychisch“ zu brechen. Doch hätte Ortega das bei zehn oder fünfzehn von ihnen geschafft, hätte er sie bereits auf einem Podium präsentiert und sie hätten gegen ihren Willen behauptet, dass sie sich ‚geirrt haben‘, dass sie ‚dankbar für Ortegas Großzügigkeit‘ sind.“ Von daher mahnt Sáenz selbstkritisch an: „Wir haben den Widerstand (der politischen Gefangenen) immer noch nicht ausreichend gewürdigt“.


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SELBSTBESTIMMT AUS DEM GEFÄNGNIS

Fotos: Grace Perviu

Es funkt, raucht und knallt. In einer alten Werkhalle in der Straße Atuel in Buenos Aires wird aus Stahl ein kleiner Wasserturm gebaut. Männer mit Tattoos und Narben im Gesicht laufen herum, schneiden und schweißen Metallstangen zusammen. Die Werkhalle ist alt, etwas heruntergekommen, der Boden schwarz vor Dreck, doch an der Wand ganz hinten im Raum erstrahlt die Wandmalerei einer zerbrochenen Eisenkette, daneben der Name: Zweigorganisation der Freigelassenen und ihrer Familien, Teil der Bewegung der Ausgeschlossenen Arbeiter*innen.

Gleich daneben steht eine der wenigen Frauen. Nora Calandra wirkt trotz ihrer kleinen Figur imposant, ihr Auftreten selbstsicher. Bei ihrer Ankunft in der Werkhalle wird sie freudig begrüßt, man kennt und mag sich.

Die Menschen verbindet eine abgesessene Gefängnisstrafe, manche nur ein paar Jahre, andere über ein Jahrzehnt. Es sind Geschichten der Armut, aber auch die Suche nach Adrenalin, die sie in Haft gebracht haben. Der Ausweg führt über Lohnarbeit, Freundschaften und gegenseitige Hilfe. Und das alles finden sie hier, in dieser einfachen Halle.

Sie war vor mehr als vier Jahren Ausgangspunkt für die genossenschaftliche Bewegung ehemaliger Gefangener, die gemeinsam aus dem Zirkel der Gewalt ausbrechen wollten. Sie schufen zuerst für sich und dann für andere eine neue Realität. Heute wollen sie die staatliche Resozialisierungspolitik mitgestalten.

José Ruiz

Alles begann vor etwa vier Jahren mit José Ruiz. Der kleine stämmige Mann saß über zehn Jahre im Gefängnis. Weshalb, das soll hier nicht stehen. Zu häufig hole ihn seine Vergangenheit in Gesprächen ein. Ruiz sitzt hinter seinem Bürotisch in einem einfachen Haus in Pilar, einem ärmeren Vorstadtort von Buenos Aires. Es war das Grundstück seiner Familie, doch mit der Zeit wurde es zum zentralen Treffpunkt für ehemalige Gefangene, die sich in verschiedenen Genossenschaften organisieren.

In der Vorstadt arbeiten rund 20 Personen. Es gibt Schweißereien, Schreinereien, Bäckereien und Recyclingstationen, die von Ex-Gefangenen als Genossenschaften geführt werden. Man arbeitet gemeinsam und verteilt am Ende der Woche den Gewinn gleichmäßig.

„Es geht um die Hilflosigkeit, die du hast, wenn du aus dem Gefängnis kommst“, sagt Ruiz. Denn wer in Argentinien aus dem Gefängnis freikommt, sei auf sich allein gestellt. Die ehemaligen Häftlinge fänden keine Arbeit, keine Wohnung, keinen Anschluss. Meist kämen sie in eine zerrüttete Familie zurück. Oft zerbrächen sie unter der Last, eine Person im Gefängnis zu begleiten, denn aufgrund korrupter Gefängnisdirektoren müssten sich meist die Familien um die Verpflegung des Häftlings kümmern, so Ruiz. Versorgende werden während der Zeit im Gefängnis zu Versorgten. Man wird zur Last und bekommt dies nach der Freilassung zu spüren. Die Rückkehr zur Kriminalität ist bei vielen der einfachste Ausweg. Staatliche Hilfeleistungen zur Wiedereingliederung gibt es kaum. Da kaum Menschen aus dem Zirkel der Gewalt ausbrechen, wächst die eingesperrte Bevölkerung stetig. Zum Jahreswechsel 2019/2020 waren laut offizieller Statistik 100.634 Personen in staatlicher Gefangenschaft, 75 Prozent mehr als noch zehn Jahre zuvor. Und so sitzen derzeit in Argentinien pro 100.000 Personen 243 in einem Gefängnis, in Deutschland liegt die Zahl bei 69.

José Ruiz erlebte all dies am eigenen Leib. Er suchte Hilfe bei der Lokalverwaltung, doch mehr als Lebensmittelpakete konnten sie ihm nicht geben. Er hatte kurzzeitig einen guten Job, bis er seinen Strafregisterauszug nachreichen sollte, „sie sahen mich an, fragten warum ich gelogen hatte, und warfen mich raus“, erzählt der heute 39-Jährige. Er begann zu stehlen und kam ein weiteres Mal ins Gefängnis.

Noch während seiner zweiten Gefangenschaft begann Ruiz mit Freunden T-Shirts zu bedrucken und an Unternehmen zu verkaufen – mit einem Handy übernahm er aus der Zelle den Vertrieb, die schon freigelassenen Kollegen die Produktion. In der Werkstatt Atuel bot man den ehemaligen Häftlingen erstmals eine Werkstatt an. Noch im Gefängnis verdiente er Geld und konnte seinen Mitgefangenen regelmäßig einen Grillabend spendieren. Als er schließlich freikam, kam er direkt in einen geregelten Arbeitsalltag und hatte bereits ein Einkommen.

Versorgende werden im Gefängnis zu Versorgten

Nach einiger Zeit bot die MTE Ruiz an, sich innerhalb der Basisorganisation um die ehemaligen Gefangenen zu kümmern. Die MTE ist ursprünglich aus Kartonsammler*innen entstanden, die sich gegen staatliche Verfolgung und für bessere Arbeitsbedingungen im Jahr 2001 zusammenschlossen. Heute ist es eine genossenschaftliche Bewegung, in der sich prekarisierte Arbeiter*innen vereinen und gemeinsam produzieren – auf dem Land, im Recycling, beim Nähen oder Schreinern.

Ruiz erzählt, dass sie sich dafür entschieden, eine Zweigorganisation zu gründen, organisatorisch getrennt von den anderen Genossenschaften. Denn, so Ruiz, „Freigelassene haben andere Bedürfnisse, du kommst psychologisch total kaputt aus dem Gefängnis und brauchst unbedingt eine spezielle Begleitung“. In ihrem Weg werden sie eng von Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und Sozialwissenschaftler*innen betreut. So zum Beispiel die Mitglieder der Bäckereigenossenschaft im Nebenraum. Hortensia Fleitas, eine Sozialarbeiterin sitzt neben den streitenden Mitgliedern.

Sie ist da, um bei der Lösung von Problemen und Konflikten zu helfen, aber auch für Alltägliches, wie das Beantragen eines Personalausweises. Ruiz schätzt diese Arbeit sehr. Auch weil viele Gefangene sehr individualistisch aus der Haft kommen „im Gefängnis kümmerst du dich um dich selbst, die Gemeinschaft hat keine Bedeutung“. Er meint die „Akademiker sollen begleiten, helfen und unterstützen, aber leiten tun wir, wir wissen am besten was wir brauchen“. Im Gegensatz zu vielen anderen sozialen Projekten, sollen hier die Betroffenen selbst entscheiden.

Die Erzählungen sind geprägt von Männern. Doch auch die Anzahl an FLINTA* in argentinischen Gefängnissen wächst stetig. Die argentinische Behörde für die Wahrung der Menschenrechte von Inhaftierten sprach im Jahr 2021 von 4.526 „Frauen, Trans und Travesti“, die in argentinischen Gefängnissen einsaßen. Doppelt so viel wie noch 20 Jahre zuvor. Mehr als ein Drittel sitzen wegen Drogendelikten ein, ein weiteres Viertel wegen Diebstahls. Viele Frauen erleben sexualisierte Gewalt, innerhalb oder außerhalb des Gefängnisses. Weiterhin sind sich Expert*innen darin einig, dass gefangene Frauen unter einem noch größeren gesellschaftlichen Ausschluss leiden als Männer.

Nora Calandra

Nora Calandra war eine von ihnen. Die Mittvierzigerin sitzt im Innenhof der Werkstatt von Atuel und betont, sie erzähle ihre Geschichte. Sie betont, es sei ihre Geschichte da sie nicht über Intimitäten und Probleme anderer sprechen möchte. Es fällt vielen schwer, über ihre Erlebnisse zu reden. Noch weniger wolle man, dass sie weitererzählt werden.

Calandra versuchte als alleinerziehende Mutter durch Kleinkriminalität ihre Kinder durch den Alltag zu bringen. Im Jahr 2010 wurde sie erwischt und kam ins Gefängnis. Plötzlich war sie eingesperrt und allein. Calandra erzählt: „Am Eingang eines Gefängnisses für Männer stehen die Frauen Schlange für den Besuch, beim Eingang eines Frauengefängnisses stehen auch nur Frauen, aber viel weniger. Die Männer sind in beiden Fällen abwesend.“ Calandra wollte nicht, dass ihre Kinder und ihre Mutter sie im Gefängnis besuchen. Sie sollten ihre Mutter von außerhalb in Erinnerung behalten, ohne Gitter und herabwürdigende Leibesvisitationen. Nur ihr damaliger Partner kam sie hin und wieder besuchen.

Während der Haft wird Calandra schwanger und bringt im Jahr 2012 ihr drittes Kind zur Welt – angekettet an das Bett. Laut argentinischem Gesetz dürfen gefangene Mütter ihre Kinder während der ersten vier Lebensjahre bei sich haben. „Ich entschied mich, mein Kind zwei Jahre bei mir zu behalten, danach sollte es in Freiheit leben.“ Die erneute Mutterschaft veränderte ihren Blick auf die eigene Zukunft. Sie wollte von nun an für ein besseres Leben für sich und ihre Mitmenschen kämpfen, sagt Calandra. Im Jahr 2016 kam sie aus dem Gefängnis. Alles hatte sich in den sechs Jahren Haft verändert: „Meine Töchter waren keine Kinder mehr“, sagt Calandra und schweigt kurz. Sie meint, es sei eine Freiheit ohne Werkzeuge zum Leben gewesen. Sie und viele andere wussten nicht, wie man Geld verdienen oder wo man leben solle. Von diesem Moment an begann sie, sich für die Rechte von gefangenen Frauen zu engagieren. Im Jahr 2018 lernte sie Ruiz kennen, sie begannen, gemeinsam zu arbeiten.

Calandra sieht im Vergleich zu Ruiz einen wichtigen Unterschied für das Leben nach der Haft: „Die Männer sagen immer: Die richtige Arbeit würde ein Leben in Würde ermöglichen. Aber so einfach ist es nicht.“ Für Frauen sei Lohnarbeit nicht alles. Es gehe häufig um intrafamiliäre Gewalt oder Probleme bei der Sorgearbeit. Wie könne man alles unter einen Hut bringen?

Es wäre die Aufgabe eines Sozialstaates hier einzuspringen, doch das macht er nicht. Calandra sagt, dies sei ein Grundproblem: „Dort, wo der Staat fehlt, springen Drogenbanden ein, und der Kreis der Kriminalität schließt sich.“ Denn der Staat sei bei den Armen nur strafend unterwegs: „Die Frau aus dem Armenviertel erscheint im Auge der Staatsgewalt, sobald sie straffällig wird, vorher nicht“, meint Calandra.

Ruiz und Calandra erzählen beide, wie wichtig es war, dass sie während ihrer Gefängniszeit Zugang zu Bildung hatten. Es waren Studierende und einzelne engagierte Professor*innen, die mit ihnen zu arbeiten begannen. Dort lernten sie, dass ihre Strafe der Entzug von Freiheit war, die Gewalt, das Fehlen von Lebensmitteln und andere Schikanen im Gefängnis verstießen hingegen gegen ihre Grundrechte. Heute gibt es im ganzen Land Initiativen, die ihre Erfahrung kopieren. Ruiz und Calandra sind zu Koordinator*innen dieser riesigen Organisation geworden. Sie wächst täglich weiter, neue Werkstätten werden eröffnet und bereits bestehende erweitert.

Längst arbeiten die beiden auch mit staatlichen Behörden zusammen. Einzelne Gemeinden stellen Grundstücke und Lagerhallen zur Verfügung oder kaufen die Produktion auf und stellen damit die Finanzierung sicher. Ruiz erzählt, dass sie mittlerweile auch mit Gefängnissen zusammenarbeiten und dort erste Genossenschaften gründen: „Es gibt eine große Nachfrage, die Gefangenen wollen etwas lernen und arbeiten.“ Das erwirtschaftete Geld geht in diesen Fällen direkt an die Familien der Gefangenen.

Mit dieser Initiative werde eine Lücke geschlossen, meint Ruiz: „Wir holen die Gefangenen direkt aus dem Gefängnis ab, bringen ihnen dort einen Job bei und im Moment der Freilassung werden sie von einer Genossenschaft außerhalb des Gefängnisses übernommen.“ Dadurch gebe es weniger Gefahr, dass sie nach Wiedererlangung ihrer Freiheit in alte Muster zurückfielen.

Das Ziel der Organisation ist ein Gesetz, das die Resozialisierung, so wie es die Genossenschaftler*innen umsetzen, formalisiert und auf Landesebene bei der Umsetzung unterstützt. Auch wenn die Organisation aus der Not geboren ist, sind sich die Ex-Häftlinge einig, dass sie es besser machen als der Staat es machen könnte. Dieser sollte lieber nur unterstützend wirken.

Die Organisation, so Calandra, sei ein Paradebeispiel für ganz Lateinamerika. Vor kurzem war sie in Kolumbien und stellte ihre Arbeit dort vor. „Die Genossinnen waren fasziniert, denn so etwas gibt es dort nicht.“


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HAUSARREST FÜR EX-PRÄSIDENT URIBE

Internationale Proteste Demonstration gegen die Regierung in Berlin (Foto: Unidos por la Paz – Alemania)

Am 4. August dieses Jahres ordnete der Oberste Gerichtshof Kolumbiens Hausarrest für den Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez an. Es ist das erste Mal in der kolumbianischen Geschichte, dass ein Ex-Präsident verhaftet wird. Uribe war von 2002 bis 2010 Kolumbiens Regierungspräsident. Er gilt noch immer als einer der einflussreichsten Politiker*innen des Landes und Hardliner der Rechten. Die Meinungen über ihn spalten das ganze Land. Die einen rühmen ihn für sein Vorgehen gegen die FARC, seine Politik rief eine politische Bewegung, den Uribismo, ins Leben. Die anderen werfen ihm vor, die Paramilitärs mit aufgebaut zu haben und Schuld an massiven Menschenrechtsverletzungen zu tragen.

Gegen Uribe laufen schon seit Jahren Ermittlungsverfahren, doch noch nie musste er sich vor Gericht verantworten. Er wird auch der „Teflon-Präsident” genannt, da alle Anschuldigungen an ihm abperlen. Doch nun ist er unter Hausarrest gestellt, um die Gefahr der Justizbehinderung zu verringern, so die Richter*innen, die den Arrest anordneten. Bis zu einem Jahr könnte er dort verbleiben müssen, auch wenn noch keine formelle Anklage gegen ihn erhoben wurde.

José Miguel Vivanco, geschäftsführender Direktor der Americas Division von Human Rights Watch, äußert sich positiv über die Festnahme. „Ich gratuliere dem Obersten Gerichtshof zu seinem verantwortungsvollen Handeln bei der Anordnung des Hausarrests von Uribe“, so Vivanco. „Das Gericht zeigt, dass niemand – auch nicht der Mächtigste – über dem Gesetz steht. Die richterliche Unabhängigkeit muss respektiert werden.“

Alles begann damit, dass der Senator Iván Cepeda der sozial-demokratischen Partei Demokratischer Alternativer Pol (PDA) im Jahr 2012 der Staatsanwaltschaft und dem Kongress eine Akte vorlegte, in der es um Uribes angebliche Verbindungen zum Paramilitarismus geht. Fotografien und Zeug*innenaussagen sollen beweisen, dass in den neunziger Jahren auf einem Grundstück im Besitz der Familie Uribe eine paramilitärische Gruppe entstand. Damals war Álvaro Uribe Gouverneur von Antioquia, einem Verwaltungsgebiet im Nordwesten Kolumbiens.

Mehr und mehr Stimmen fordern Duques Rücktritt

Als Cepeda 2014 den Fall erneut vor den Kongress brachte, versuchte Uribe die Geschichte umzudrehen. Der Ex-Präsident nutzte die Besuche Cepedas in den Gefängnissen, die dieser machte, um mit den inhaftierten Paramilitärs zu reden, um zu behaupten, dass Cepeda selbst versuche, die Zeug*innen zu manipulieren. Vier Jahre später verkündete das Gericht, dass es keinen Grund zur Ermittlung gegen Cepeda gebe. Es gab jedoch Beweise gegen Uribe, die Anlass zur Untersuchung waren.

Konkret geht es im laufenden Fall um Juan Guillermo Monsalve, ein vermeintliches Mitglied einer paramilitärischen Gruppe. Uribe soll Monsalve dazu gebracht haben, eine Aussage zurückzunehmen, die den Ex-Präsidenten in Verbindung mit der Aufstellung einer paramilitärischen Gruppe bringt. Auch soll Uribe in verschiedene Massaker verwickelt gewesen sein, die von Paramilitärs durchgeführt wurden. Wird er schuldig gesprochen, könnte er für sechs bis acht Jahre in Haft kommen.

Die Inhaftierung von Uribe könnte auch den amtierenden Präsidenten Iván Duque schwächen. Dieser ist stark von seinem Vorgänger Uribe abhängig. Es ist weithin bekannt, dass Duque die Wahl 2018 nicht ohne die Hilfe und Zustimmung des ehemaligen Präsidenten gewonnen hätte. Uribe erhoffte sich durch Duque das Wiederaufleben des Uribismo und die Stärkung der von ihm gegründeten Partei Demokratisches Zentrum (CD). Doch in den vergangenen Monaten sank die Beliebtheit von Duque in der Bevölkerung. Seine Umfrage- werte lagen im Februar nur noch bei 23 Prozent. Der Präsident hat es versäumt, der Polarisierung der Bevölkerung entgegen zu wirken. Auf Demonstrationen Ende vergangenen Jahres forderten mehr und mehr Stimmen seinen Rücktritt.

Schon seit Jahren wird gegen Uribe ermittelt

Duque zeigt sich auf Twitter solidarisch mit Uribe. In einer Videoansprache sagt er: „Als Kolumbianer tut es weh, dass ein vorbildlicher Beamter, der den höchsten Posten im Staat besetzt hat, sich nicht in Freiheit und mit der Unschuldsvermutung verteidigen darf.“ Nach der Inhaftierung Uribes stellten Duque und seine Anhänger*innen außerdem die Unabhängigkeit der Richter*innen in Frage.

Uribe trat inzwischen vom Amt als Senator zurück, das er seit 2014 ausübte. Am 18. August gab er bekannt, dass er sein Mandat abgeben werde. Er warf dem Obersten Gerichtshof in dem Schreiben zusätzlich vor, dass seine Festnahme nicht rechtmäßig gewesen sei. Auch will er sich weiterhin für eine Reform und Entpolitisierung des Justizwesen einsetzen. Der Senat hat indes seinen Rücktritt als Senator abgesegnet. Das hat unter anderem zur Folge, dass nun die Generalstaatsanwaltschaft und nicht mehr der Oberste Gerichtshof in dem Verfahren ermittelt.

„Wenn man nicht mehr die Funktion eines Kongressabgeordneten inne hat, wie zum Beispiel jetzt, wo der Rücktritt angenommen wurde, behält das Gericht nur noch die Zuständigkeit für diejenigen Tatsachen, die sich auf die Funktion eines Kongressabgeordneten beziehen“, erklärt der Anwalt Uribes, Jaime Granados, gegenüber dem Fernsehsender NTN24. Im Falle Uribes seien die vermeintlichen Verbrechen nicht im Bezug zu seiner Funktion als Senator geschehen, so das Statement des Obersten Gerichtshofes zur Entscheidung.

Zusätzlich gibt es derzeit ungefähr 400 Klagen gegen den Beschluss des Obersten Gerichtshofs, Uribe unter Hausarrest zu stellen. Viele von Uribes Anhänger*innen kritisieren den Arrest im Hinblick darauf, dass sich viele FARC Kämpfer*innen durch das Friedensabkommen 2016 nicht vor der Justiz verantworten mussten. Die ersten 177 dieser Klagen wurden bereits abgelehnt.

Der Skandal entfaltet sich, während die Corona-Pandemie das Land fest im Griff hat. Das neuartige Virus verschärft die strukturelle Ungleichheit im Land. Arbeitslosigkeit und Armut steigen, die Wirtschaft wird noch weiter geschwächt. Zudem nehmen häusliche Gewalt und Xenophobie im Land zu, es gibt einen Anstieg an Morden. Der Ex-Präsident Uribe befindet sich währenddessen auf seinem Anwesen El Ubérrimo im Norden Kolumbiens. Nach einer überstandenen Covid-19 Infektion Anfang August muss er darauf warten, wie es in seinem Fall weitergehen wird.


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„NICHTS IST NORMAL“

Amaya Eva Coppens Zamora
ist Feministin, Medizinstudentin und Mitglied der Artikulation der Sozialen Bewegungen (AMS) sowie der Student*innenbewegung 19 de Abril der Nationalen Autonomen Universität (UNAN) in León. Darüber hinaus ist sie Mitglied der Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit (CUDJ). (Foto: Christina Schulze)


 

Sie waren Opfer einer Entführung durch die Paramilitärs und anschließend neun Monate im Gefängnis. Im Juni 2019 sind Sie mit dem Inkrafttreten des Amnestiegesetzes frei gekommen. Welcher Straftaten wurden Sie beschuldigt?

Ich wurde nie wirklich verurteilt, ich bekam nie einen Prozess. Die Anschuldigungen lauteten auf Terrorismus, Waffenbesitz, Entführung, Raub, gefährliche Körperverletzung – eine lange Liste. All diese Anschuldigungen sind sehr wenig glaubhaft, aber wie schon beim Amnestiegesetz bleibt der Regierung auch beim Terrorismusgesetz (verabschiedet nach Beginn der Proteste im Jahr 2018, Anm. d. Red.) genügend Raum für Interpretationen, um es so auszulegen und zu nutzen, wie sie es braucht. Für uns, die politischen Gefangenen, vor allem aber für die Familien der Ermordeten ist das Amnestiegesetz ein Hohn. Tatsächlich ging es den Machthabern dabei nur darum, nach ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit während dieser ganzen Zeit ungestraft davonzukommen. So wird es noch schwieriger, für die mehr als 300 in Nicaragua ermordeten Menschen Gerechtigkeit zu erreichen. Die einzige Verurteilung wegen Mordes gab es im Fall des Mörders des brasilianischen Studenten Rajneia Lima, der durch das Amnestiegesetz wieder freikam. Wir dagegen haben keine Verbrechen begangen. Alle Unregelmäßigkeiten in den Verfahren belegen das, ebenso die Korruption im gesamten Justizsystem, durch die viele unschuldige Menschen für Monate ins Gefängnis gekommen sind, ohne dass sie überhaupt vor ein Gericht gestellt wurden. Vor einem Gericht, das tatsächlich den gesetzlichen Mindestanforderungen genügte, wären wir nie verurteilt worden.

Sie waren im Frauengefängnis La Esperanza inhaftiert. Wie waren die Haftbedingungen für politische Gefangene in diesem Gefängnis?

Die Situation in den Gefängnissen ist vollkommen inhuman. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass es kein Trinkwasser gibt. Das Wasser, das aus den Wasserhähnen kommt, ist Thermalwasser, stark mineral- und schwefelhaltig und für den menschlichen Konsum nicht geeignet. Wir waren nicht so lange dort, hatten davon aber bereits gesundheitliche Probleme. Stellen Sie sich nun die Situation der Frauen vor, die jahrelang dieses Wasser konsumieren. Das verursacht verschiedene dermatologische und gynäkologische Veränderungen. Die gesellschaftspolitische Krise ermöglichte es, die allgemeinen Bedingungen in den Gefängnissen sichtbar zu machen, aber auch die mangelnde Glaubwürdigkeit des Justizsystems, das vollkommen korrupt ist.
Als politische Gefangene waren wir von den anderen Gefangenen völlig isoliert. Die Gefängniswärter drohten ihnen, sie zu bestrafen, wenn sie sich unseren Zellen näherten. Wir hatten kein Recht, einen Gottesdienst zu besuchen, in den Innenhof durften wir nur einmal pro Woche gehen. Wir hatten keinen Zugang zu Aktivitäten, die den normalen Gefangenen angeboten wurden, wie zum Beispiel studieren oder die Herstellung von industriellen Produkten. In den neun Monaten, in denen ich festgehalten wurde, hatte ich keinen Zugang zu einem Telefon und durfte keine Briefe von meiner Familie bekommen. Am Anfang wollten sie uns nicht einmal Bücher geben. Wir hatten keinen Zugang zu Radio oder Fernsehen, absolut keine Informationen.

Wie würden Sie die Auswirkungen der Haftzeit auf ihr weiteres Leben beschreiben?

Gesundheitlich sind wir alle gezeichnet. Außer den verschiedenen Foltermethoden, die dokumentiertermaßen in den Gefängnissen angewandt wurden, hat auch der Stress, eingesperrt zu sein, ausgeprägte Auswirkungen auf psychologischer Ebene. Bei meinem Fall wussten sie, dass er öffentlich bekannt würde und taten mir nichts Körperliches an, aber sie folterten meinen Partner. Sie brachen ihm die Schulter und mehrere Rippen. Stromschläge waren in den meisten Fällen üblich. Eine Strafe war, Gefangenen die Fingernägel auszureißen. Sie machten sogar Videos von dem Moment, in dem sie der Person so viel Schmerz zufügten, machten Witze darüber, wie sie ermordet werden sollte, wo unsere Körper entsorgt werden würden, und bedrohten damit unsere Familien. Die Wege, die sie gefunden haben, um uns zu foltern, waren wirklich unzählig. Zum Beispiel haben sie eine Grillparty direkt vor unserer Zelle veranstaltet, als wir im Hungerstreik waren.

Nicaragua erscheint derzeit als ein gespaltenes Land. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis wurden ehemalige Gefangene von Anhänger*innen Ortegas an ihren Wohnorten tätlich angegriffen. Haben auch Sie solche Vorfälle erlebt?

Oh ja! Alle ehemaligen politischen Gefangenen, unsere Familien, alle, die uns irgendwie unterstützt haben, alle, die an irgendeiner Art Protest beteiligt waren, wurden belästigt und auf verschiedene Art und Weise bedroht. Vor meinem Haus steht immer ein Auto mit Paramilitärs oder Polizisten fahren vorbei. Ich kann mich nicht bewegen, ohne dass mir jemand folgt.
In León wurden mehr als 57 Häuser mit dem Wort plomo beschmiert. Das bedeutet, sie werden dir Kugeln geben, es ist eine Morddrohung. Auch mein Haus in Estelí wurde beschmiert. Dass wir freigelassen wurden, bedeutet absolut nichts, denn die Drohungen gehen weiter. Sie haben bereits elf politische Gefangene wieder verhaftet, die mit dem Amnestiegesetz frei gekommen waren. Derzeit gibt es mehr als 130 politische Gefangene, was die Regierung leugnet. Sie behauptet, dass alles normal sei, erlaubt den internationalen Organisationen aber nicht, nach Nicaragua zurückzukehren, um zu sehen, was wirklich los ist.
Sämtliche Staatsgewalten befinden sich derzeit in den Händen des Ortega/Murillo-Regimes. Um eine Arbeit zu bekommen, benötigen die Leute eine Bestätigung ihrer politischen Loyalität. Seit Jahren nötigt man sie, als Gegenleistung für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes oder im Austausch für ein Stipendium zu Parteiaktivitäten und −veranstaltungen zu gehen. Zum Zeitpunkt der Krise setzten sie die Studenten unter Druck, auf die Protestierenden mit Steinen loszugehen. Wer nicht mitmachen wollte, musste fliehen, in unserem Fall aus der UNAN in León. Die Direktorin der Universität ist − entgegen dem gesetzlichen Autonomiestatus der Universitäten − stellvertretende Abgeordnete der Regierungspartei FSLN, sie war auch im Rahmen des nationalen Dialogs in der Regierungskommission. Aber nicht nur das, auch während der ersten Proteste in León war sie bei einer Gegendemonstration dabei, ebenso die Direktorin des Krankenhauses und die Gesundheitsministerin. Alle waren sie da, als wir angegriffen wurden, aber sie kümmerten sich nicht um die Sicherheit der Studenten, sondern verschlossen die Türen des Krankenhauses. Sie verweigerten ihnen medizinische Versorgung. Und nicht nur das: Studenten, die dort einige Erste-Hilfe-Plätze eingerichtet hatten, wurden aus dem Krankenhaus vertrieben und die Medikamente, die sie gesammelt hatten, in den Müll geworfen.

Die Aufkündigung des Dialogs mit der Alianza Cívica, das Einreiseverbot für die Kommission der OEA – alles deutet darauf hin, dass das Regime auf Zeit spielt. Könnte die Ungeduld bei Student*innen und anderen Gruppen dazu führen, dass diese sich radikalisieren, anstatt weiterhin auf Dialog zu setzen, um einen Systemwechsel zu erreichen?

Wir haben uns immer für den Dialog als friedliche Option und als Ausweg aus der Krise entschieden. Die Regierung hat jedoch den Dialog und die während des Dialogs getroffenen Vereinbarungen in keiner Weise respektiert. Wir haben weiter darauf bestanden, denn die Vereinbarungen sind keine großen Zugeständnisse. Sie bedeuten nur die Rückkehr zu unseren Menschen- und Bürgerrechten.
Die Morde gehen weiter. Von Januar bis Juni dieses Jahres konnten Informationen über 24 außergerichtliche Hinrichtungen gesammelt werden. Am stärksten betroffen sind ländliche Gebiete. Es gibt äußerst dramatische Fälle, wie der der Familie Montenegro: fünf ihrer Mitglieder wurden getötet. Das sind alltägliche Dinge, aber es ist schwierig, Informationen zu erhalten, da es sich um ländliche Gebiete handelt. Wir wissen etwa von Soldaten, die Bürger jagen, die versuchen, ins Ausland zu fliehen. Es gab sogar den Fall eines Nicaraguaners, der sich bereits auf costaricanischem Territorium befand und von nicaraguanischen Soldaten dort ermordet wurde. Es herrscht eine Atmosphäre generalisierter Gewalt. Nachdem Nicaragua laut Statistik eines der sichersten Länder Mittelamerikas war, ist es heute zu einem Ort geworden, an dem es jeden Tag Morde gibt. Im Grunde waren wir als politische Gefangene im Gefängnis noch besser dran, denn wenn dort etwas passierte, wusste man sofort, dass es die Wachen waren. Jetzt ist es möglich, dass mich jemand auf der Straße angreift und ersticht. Der Staat wäscht seine Hände in Unschuld mit dem Hinweis auf die allgemein verbreitete Gewalt, wir aber wissen, dass es sich um Paramilitärs handelt, die mit Billigung der Regierung agieren.

Wie lässt sich die derzeitige Situation der Studierenden beschreiben, die während der Proteste eine wichtige Rolle gespielt haben?

Ich bin Teil der Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit (CUDJ), der verschiedene studentische Gruppen angehören. Dies ist ein Sektor, der unsichtbar geworden ist, denn die meisten Exilanten sind Studenten. Und viele, die nicht im Exil sind, leben im Versteck vor der ständigen Verfolgung. Ich kann mich weder bewegen noch zur Universität gehen, denn irgendwann haben sie die akademischen Register der Studierenden gelöscht. Es wird geschätzt, dass mehr als 146 Studenten der CUDJ ausgeschlossen wurden – das sind nur die Exmatrikulierten, ohne diejenigen, die gehen mussten, um sich in Sicherheit zu bringen. Es wurden Universitätsstudenten ermordet, andere inhaftiert. Es gibt sehr viele, die wahrscheinlich nicht wieder studieren können. Das hat Auswirkungen, die in Nicaragua noch nicht sichtbar sind, bedeutet aber, dass eine ganze Generation ausgemerzt wird.

Welche Aktionsmöglichkeiten sehen Sie unter den gegenwärtigen Bedingungen noch für die Protestbewegung?

Wir protestieren weiter, wie wir können. Erst am 21. September wurde eine Demonstration organisiert. Wie immer gab es keine Erlaubnis und die Polizei unterdrückte die Demonstration, doch trotz der Drohungen, trotz des Polizeiaufgebots, trotz der Verhaftungen fand sie statt. Die Menschen gingen trotz der Angst auf die Straße, um zu zeigen, dass wir hier sind, dass wir weitermachen, weiter anklagen, was passiert. Nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb von Nicaragua, damit weiterhin auch von außen Druck ausgeübt wird, um auf die Wiederherstellung der Menschenrechte und auf Bedingungen zu drängen, die erfüllt sein sollten, um wirklich von Demokratie zu sprechen. Der Protest ist wichtig, damit die Situation in Nicaragua sichtbar bleibt. Aber wir müssten nicht einmal protestieren – nur zu teilen, was Tag für Tag in Nicaragua geschieht, sollte ausreichen, um Aufmerksamkeit zu erregen.

 


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NICARAGUA IST EIN RIESIGES HAUS

Te quiero mucho Essen für den inhaftierten Ehemann (Foto: Fred Ramos/Elfaro.net)

„Siehst du, Reisender, seine Tür ist offen, das ganze Land ist ein riesiges Haus. Nein, du hast nicht den falschen Flughafen erwischt: Steig einfach ein, du bist in Nicaragua.“
Julio Cortázar, 1980.

Im Haus der Familie Valle steht seit dem 14. Juli ein Stuhl leer. Und es ist nicht immer derselbe. Das Haus der Familie Valle in Managua ist ein Gefängnis, in dem eine Mutter, ihre beiden Töchter und ihr Sohn auf die Polizei warten, die eines Tages die Tür aufbrechen und sie verschleppen könnte, wie sie es bereits mit Hunderten getan hat. Sie wollen nicht weg. Das können sie nicht. Nicht, solange der Vater noch im Gefängnis El Chipote eingesperrt ist. Jemand muss ihm Essen bringen und ihn am Dienstag daran erinnern, dass er nicht allein ist, auch wenn es nur eine halbe Stunde ist. Dass sie immer noch da sind. Gemeinsam im Kampf gegen die Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Rebeca Montenegro, die Mutter, steht immer zuerst auf. Nachdem sie sich gewaschen und ihren Kaffee getrunken hat, legt sie Holzkohle auf den Herd. Das Rindfleisch wird solange gekocht, bis es schwarz wird, ein wenig hart. Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden ist.

Zum Mittagessen bereitet sie das Fleisch, den Reis, die Bohnen und Bananenchips und eine Flasche gefrorenes Wasser zu. Carlos wird etwas Gerste hinzufügen, um daraus Limonade zu machen. Die beiden Durapax-Schalen sind zum Platzen gefüllt. Sie schreibt den Namen ihres Mannes mit einem schwarzen Marker darauf. Unter dem Namen, drei Buchstaben: T.Q.M. – Te quiero mucho, auf Deutsch: Ich liebe dich sehr.
Rebeca ist bereit für ihre tägliche Pilgerreise in das dunkelste Gefängnis des Landes. Mit ihren 44 Jahren ist sie eine markante Erscheinung. Sie ist groß und stark. Aufrechte Haltung. Sie verabschiedet sich von ihrem Sohn David, 22 Jahre alt, bedächtig und langsam, groß und bärtig, und von ihren Töchtern: von der robusten Elsa, 19 Jahre alt und von der 16-jährigen Rebeca, schwarz gekleidet und schweigsam.

Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt 

Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Mann für eine Weile ohne Essen bleibt. Das bescheidene, aber gut organisierte Haus strahlt Festigkeit und Entschlossenheit aus, aber auch Traurigkeit, Erschöpfung, anhaltende Spannung und beständigen Konsum von Fernsehserien auf dem Sofa. Gerade ist das zehnte Kapitel der fünften Staffel von den Wikingern dran.Das Taxi, klapprig und von mehreren zugleich benutzt, weil es billiger ist. Keiner redet während der Fahrt. Jeder weiß es. Als sie ihren Kopf durch das Fenster schiebt und nach dem Preis fragt, sagt sie, wohin sie fahren wolle. Um nach El Chipote zu gelangen, muss man Luft holen und Mut haben. Das Gefängnis so mancher Diktaturen in Nicaragua wirft seit fast 90 Jahren seinen Schatten auf das an der Loma de Tiscapa gelegene Land, nahe dem Zentrum von Managua. Es befindet sich am Ende eines steilen Abhangs. Durchflutet von einem Wärmestrahl. Ein Dutzend Männer sitzt auf einer kleinen Mauer. In den Händen halten sie Holz- und Metallstangen. Als Rebeca an ihnen vorbeigeht, beladen und erschöpft, schlagen sie mit den Stangen auf den Boden. Klopf, klopf, klopf, klopf. Sie starren sie an – Verfolger. Vor dem Tor, Stille und Unbehagen.

Während des Wartens nähern sich die Frauen nacheinander und klammern sich an Taschen und Ordner voller Papiere. Ohne auf die Gitter und die Polizisten zu blicken, murmeln sie den Namen ihres Familienmitglieds und die Dauer seiner Inhaftierung. Ein Monat, drei Monate, sieben Monate. Diejenigen, die hier in dem Loch der willkürlichen Inhaftierung eingesperrt sind, wissen nicht, wessen sie beschuldigt werden. Es gibt keine Anklage gegen sie, sagen sie, noch wurden sie in vielen Fällen einem Richter vorgeführt. Die Polizei öffnet das Tor. Ohne ein Wort zu wechseln, fast ohne aufzublicken, nennt Rebeca den Namen des Gefangenen, Carlos Valle, übergibt die Taschen, zeigt ihren Ausweis, unterschreibt und muss wieder gehen. Wie alle anderen auch.

Alle drei Kinder waren alle schon in demselben Gefängnis inhaftiert wie ihr Vater

Von innen kommt ein offener Pick-Up mit quietschenden Reifen. Drei vermummte Polizisten, die sich an ihre Waffen klammern, nehmen einen Mann in Handschellen mit. Eine der Frauen erkennt ihre Mutter in der Kabine. Sie wird aufgeregt. Sie weint. Sie ruft: „Mama! Wo bringt ihr sie hin?“ Die anderen antworten. „Lauf, lauf, geh ein Taxi rufen, geh zum Gericht, da kannst du sie sicher sehen.“ Sie läuft allein bergab. Später werden wir erfahren, dass das Treffen mit einem Gefangenen im Gerichtsgebäude dazu führen kann, dass die ganze Familie in El Chipote landet. Auch für Rebecas Leben hat die Inhaftierung ihres Mannes Konsequenzen. Als Anwältin und Notarin wurde sie von ihrem Job in der Verwaltung entlassen, nachdem sie 16 Jahre lang auf dem Gebiet der technischen Ausbildung von Studenten gearbeitet hatte. Sie wurde geschlagen.

Die Familie Valle zahlt so ihr Leidensgeld für die Teilnahme am blau-weißen Aufstand gegen das Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Seit Beginn der Rebellion am 18. April 2018 gab es mehr als 300 Tote und mehr als 600 politische Gefangene. Tausende von Menschen sind ins Exil ins Ausland geflohen oder haben sich überall im Land in sicheren Häusern versteckt. Eine Zeitung, Confidencial, und zwei Fernsehsender, Esta Semana und 100% Noticias wurden verboten. Die übrigen kritischen Medien und ihre Journalist*innen sind bereit, den gleichen Weg zu gehen – Gefängnis oder Exil. Fast alle nicaraguanischen Nichtregierungsorganisationen, die gekämpft haben, wurden geschlossen; internationale Menschenrechtsorganisationen, die angeprangert haben, was in Nicaragua geschieht, wurden aus dem Land ausgewiesen. Familie Valle ist ein Opfer dessen, was die von der Organisation Amerikanischer Staaten eingesetzte Gruppe unabhängiger Expert*innen in ihrem Bericht über die Ereignisse in Nicaragua als von der Regierung begangene „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet hat. Menschen wurden ermordet, verfolgt, willkürlich inhaftiert, beschuldigt, geschlagen, in irgendeiner Weise gefoltert, gedemütigt, bedroht und mit Entlassung von ihren Arbeitsplätzen für ihr politisches Engagement bestraft. Wie fast alle nicaraguanischen Geschichten ist die politische Geschichte von Carlos Valle ein Kreislauf des Kampfes gegen die Diktatur, der sich in sich schließt. Sie beginnt während der Diktatur von Anastasio Somoza in den 1970er Jahren und setzt sich während der Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo, fast ein halbes Jahrhundert später, fort. Das Gefängnis El Chipote ist der rote Faden, der Nicaragua während seiner Diktaturen verbindet. Die Zeit vergeht und die Unterdrückung wiederholt sich. In Nicaragua gibt es heute mehr politische Gefangene als am Ende der Somoza-Diktatur.

Nicht vollständig Ein leerer Stuhl am Tisch der Familie Valle (Foto: Fred Ramos, Elfaro.net)
Das Leben ihres Mannes Carlos und die Politik seien eins, sagt Rebeca. Als er 16 Jahre alt war, sei er von zu Hause weggelaufen. Er war Mitglied der sandinistischen Guerilla. Er hat immer noch seinen rechten Arm voller Scharniere. Nach dem Sieg der Revolution arbeitete er im Bereich der Grundnahrungsmittel und der Lebensmittelverteilung. Er sei enttäuscht gewesen, erzählt Rebeca, von der Kluft zwischen dem Sozialismus in Worten und dem in Taten. Irgendwann ging er ins Exil und kehrte als Mitglied der Konstitutionalistischen Liberalen Partei, deren Stadtrat er von 2001 bis 2007 in Managua war, nach Nicaragua zurück. Dann arbeitete er als Baseball-Reporter für den Radiosender Corporación und fuhr sogar Taxi. Das Autowrack liegt noch im Innenhof des Hauses. „Mein Vater hat uns immer beigebracht, für das zu kämpfen, woran wir glauben“, sagt David. „So sind wir mit klarer Entschlossenheit zum Protest gekommen. Das nimmt einem die Angst nicht, aber man fühlt sich dem Kampf verbunden.“ Carlos Valle wurde am 15. September 2018 auf der Straße verhaftet. Er kehrte nach einem Protestmarsch mit seiner Frau, seiner jüngsten Tochter und dem Sohn nach Hause zurück. Sie trugen ein Banner, auf dem sie die Freilassung der 19-jährigen Elsa forderten, der mittleren Tochter. Seit zwei Monaten war sie da schon im Gefängnis.In der Nähe des Marktes Roberto Huembes seien sie von einem Mann auf einem Motorrad angesprochen worden, erzählt Rebeca. „Danke Gott, dass deine Tochter nicht getötet oder in einem Kanal vergewaltigt wurde“, habe der Mann auf dem Motorrad gesagt. „Wir Nicaraguaner haben Blut in den Adern und kein Gelee“, erklärt Rebeca, also versetzte Carlos ihm einen Schlag auf den Helm. Rückblickend glaubt Rebeca, dass es eine Falle war: Jemand sollte Carlos provozieren, um somit einen Grund zur Verhaftung zu schaffen.

Einige Blocks später sei eine Patrouille aufgetaucht: Ein halbes Dutzend Polizist*innen und ein paar Männer in Zivil. Carlos habe das Telefon und die Brieftasche weggeworfen und versucht zu fliehen, erzählt Rebeca, schaffte es aber nicht. Die 16-jährige gleichnamige Tochter Rebeca erzählt, dass sie einzugreifen versuchte. „Ich begann, die Polizisten zu schlagen, und sie schlugen mir gnadenlos ins Gesicht und schoben mich weg“, sagt sie. Mutter und Vater wurden mitgenommen, sie selbst blieb zurück, den Bruder David hatte sie aus den Augen verloren. Carlos wurde auf die Ladefläche des Trucks geworfen. „Ich habe mit den Polizisten gerangelt, bis ich nicht mehr konnte“, sagt Rebeca, die Mutter. „Ich bin hochgestiegen. Ein Polizist, der über meinem Mann war, richtete die AK (Maschinengewehr) auf ihn. ‚Erschieß ihn‘, sage ich, ‚ich werde dich bis in die Ewigkeit verfolgen.‘“ Als sie an der Polizeistation 5 ankamen, wurde Rebeca getreten und weggezerrt. „Der Mund meines Mannes war voller Blut.” Während der Verhaftung, erzählt David, habe er sich eine Nummer auf dem Fahrzeug gemerkt, mit dem seine Eltern weggebracht wurden: Distrikt Fünf. Da sei er hingegangen. Und dann ebenfalls verhaftet worden. Vater und Sohn wurden dann nach El Chipote geschickt. Sie wurden beide auf der Ladefläche eines Lieferwagens abgelegt. Acht Stunden habe ein kollektives Verhör gedauert, erzählt David. Man habe sie beleidigt, Dinge gesagt wie: „Ihr Hunde werdet sterben.“ Am Ende konnte David nichts angelastet werden. Sein Vater, Carlos, blieb in El Chipote.

Die Kinder von Carlos Valle dürfen ihn nicht besuchen

Eine ungeschriebene, aber praktizierte Regel besagt: Niemand, der jemals Gefangene*r in El Chipote war, darf einen Gefangenen in El Chipote besuchen. Alle drei Kinder von Carlos Valle waren bereits in El Chipote. Zuerst Elsa, als Verantwortliche der Lebensmittelversorgung der Studierendenproteste. Sie war beim Mittagessen im Haus einer Freundin. „Die Polizei öffnete gewaltsam das Tor. Wir wurden von den Spitzeln in der Nachbarschaft denunziert, die uns hereinkommen gesehen hatten. Nach einer Fehlgeburt im Gefängnis und einer Inhaftierung unter üblen Bedingungen ist Elsa Ende September schließlich frei gekommen. Im November machen die Schwestern Elsa und Rebeca den Fehler, an ein Gerücht zu glauben. Jemand sagte ihnen, dass ihr Vater vor Gericht kommen würde. Sie zögerten keine Sekunde. Sie nahmen im Gerichtssaal Platz. Allein. Mit einem Plakat. Sie gaben mehrere Interviews, während sie auf das Fahrzeug warteten, das ihren Vater bringen würde. Es kam nie. Stattdessen kamen zwei Patrouillen mit einem Dutzend Polizist*innen darin. Sie nahmen sie fest wegen der Interviews. Die Journalist*innen entfernten sich. Elsa hat darüber nachgedacht, das Land zu verlassen.

Tausende sind nach Costa Rica geflohen. Fast alle ihre Compañerxs aus der UPOLI-Besetzung sind dort. Sie hat es einmal versucht. Sie hatte Angst, heimlich über die Grenze zu gehen. Wieder ins Gefängnis zu kommen, wenn sie verhaftet würde. Sie zieht das Haus vor, auch wenn es irgendwie auch ein Gefängnis ist.„Ich bin zu allem bereit. Wenn du zu den Waffen greifen musst, mach ich das“, sagt die Mutter. David widerspricht ihr. „Wir haben in so kurzer Zeit so viel erreicht, dass wir mit Waffen nicht weiter kommen werden. Du musst standhaft bleiben und warten“, sagt er. Er spielt mit seinem Handy. Auf der Hülle ist eine Pistole abgebildet. „Wenn wir Waffen hätten, würde diese Regierung nicht einmal zwei Wochen weiter bestehen”, sagt die Mutter hartnäckig, und bringt eine Tatsache zur Sprache, auf die David nicht besonders stolz ist. Das Taxi im Innenhof. Das kaputte Taxi. David hat es zertrümmert. Die Spannung, eingeschlossen zu sein. Die Erinnerung an die toten Compañerxs. Der Groll. Der Stress. Die allseits gegenwärtige Gewalt berührt jeden und gibt einem Monster Gestalt, das jeder zähmt und so handhabt, wie er kann.

 


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KEINE HAFT FÜR HOPP IN DEUTSCHLAND

Hartmut Hopp bei einer Festnahme in Chile 1997 – hierzulande könnte ihm das nun erspart bleiben (Foto: FDCL)

In der 1961 im Süden Chiles gegründeten deutschen Sekte Colonia Dignidad haben deutsche Staatsbürger*innen bis 2005 schwerste Verbrechen begangen. Bewohner*innen der Siedlung wurden gequält, missbraucht und ausgebeutet. Während der Militärdiktatur (1973-1990) wurden hunderte chilenische Oppositionelle dort gefoltert, Dutzende ermordet. Die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen verläuft jedoch bislang schleppend, partiell und prekär.

Die bundesdeutsche Justiz ermittelt seit fast sechs Jahrzehnten ergebnislos gegen Täter*innen. Seit den ersten Verfahren gegen den Anführer Paul Schäfer im Jahr 1961 wurde bis heute fast durchgehend ermittelt, aber in keinem Fall Anklage erhoben. Das längste Ermittlungsverfahren führte die Staatsanwaltschaft Bonn von 1985 bis 2010 gegen vier Führungsmitglieder der Colonia, darunter auch Hartmut Hopp. Das Verfahren wurde eingestellt, da laut Staatsanwaltschaft kein hinreichender Tatverdacht festgestellt werden konnte.

In Chile liegen jedoch inzwischen diverse Gerichtsurteile vor. Diese umfassen bei weitem nicht alle von Sektenmitgliedern begangenen Straftaten, bilden jedoch eine sogenannte juristische Wahrheit bezüglich der diversen Verbrechen der Gruppe ab: Zu den Taten, wegen derer sie von der chilenischen Justiz in den letzten Jahren rechtskräftig verurteilt wurden, gehören Mord, Folter, Entführung und Verschwindenlassen, sexueller Missbrauch, Körperverletzung durch Elektroschocks und die Vergabe von Psychopharmaka, Verstoß gegen das Waffengesetz sowie Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Hopps Verhalten in der Colonia Dignidad wäre nicht zu beanstanden und „sozial-adäquat“

Oftmals standen die Tatvorwürfe und die von der chilenischen Justiz verhängten Strafen jedoch in keiner Relation. Die meisten Strafen wurden lediglich zur Bewährung ausgesetzt. Nur in den Untersuchungen zu sexuellem Missbrauch an chilenischen Kindern und wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung wurden effektive Gefängnisstrafen verhängt. Diesen beiden und einem dritten Verfahren wegen dreifachen Mordes entzog sich Hartmut Hopp im Jahr 2011 durch seine Flucht nach Deutschland. Im Missbrauchsfall lag da bereits eine Verurteilung zu fünf Jahren Haft gegen ihn vor. Nach der Rechtskraft des Urteils im Jahr 2013 beantragten die chilenischen Behörden seine Auslieferung. Diese lief jedoch von deutscher Seite ins Leere, da das Grundgesetz in Artikel 16 Satz 2 zusichert: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden […].“ Daraufhin beantragte Chile bei den deutschen Behörden die Vollstreckung des chilenischen Urteils gegen Hartmut Hopp. Die Bedingungen für eine solche Vollstreckung eines ausländischen Gerichtsurteils in Deutschland regelt das Internationale Rechtshilfegesetz. Im August 2017 hat das Landgericht Krefeld diesem Antrag nach langer Prüfung zugestimmt.

Nach einer dagegen eingerichteten Beschwerde Hartmut Hopps hat das Oberlandesgericht Düsseldorf nun am 20. September beschlossen, dem chilenischen Antrag auf Haftvollstreckung gegen Hartmut Hopp in Deutschland nicht stattzugegeben. Die im chilenischen Verfahren aufgeführten Beweismittel seien nicht ausreichend, um den Tatbestand der Beihilfe zum sexuellen Missbrauch nach deutschem Verfahrensrecht zu belegen. Die Begründung des OLG-Beschlusses ist skandalös: Sie beruht unter anderem auf der Feststellung, „dass die Colonia Dignidad, später Villa Baviera, gerade nicht ausschließlich kriminellen Zwecken diente.“ Vielmehr sei sie auch eine „Wohltätigkeits- und Erziehungsgesellschaft“ gewesen. Hinweise aus dem chilenischen Urteil auf eine Beteiligung Hopps an den Verbrechen bewerten die Düsseldorfer Richter*innen als „nicht zu beanstandende sozial-adäquate Handlung.“

„Der Düsseldorfer Beschluss bestärkt das Schweigekartell der Verbrecher der Colonia Dignidad“

Diese falsche und die Verbrechen der Colonia Dignidad relativierende Sichtweise könnte weitreichende Folgen für eine zukünftige strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen haben. Vor der Justiz Nordrhein-Westfalens anhängige Ermittlungsverfahren dürften durch die Argumentation des höchsten Gerichts des Bundeslandes gehemmt werden. Täter wie Hopp hingegen dürften sich bestärkt fühlen und ihren Schweigepakt fortführen. Mehrere per Interpol-Haftbefehl gesuchte mutmaßliche Täter*innen der CD sind in den letzten Jahren nach Deutschland zurückgekehrt und leben hier unbehelligt. Diejenigen, die noch in Chile leben, werden nun möglicherweise die Reise nach Deutschland antreten. Denn die Erfahrung zeigt, dass sie hier Straffreiheit erwarten können.

Nach Strafanzeigen wegen Mordes, Körperverletzung und Beihilfe zum sexuellen Missbrauch ermittelt die Krefelder Staatsanwaltschaft bereits seit 2011 gegen Hartmut Hopp. Nach Bekanntgabe des OLG-Beschlusses äußerte sich der ermittelnde Oberstaatsanwalt Axel Stahl jedoch gegenüber der Rheinischen Post, man sei in diesen Verfahren noch sehr weit von einem hinreichenden Tatverdacht entfernt.

„Die Untätigkeit gegenüber Tätern der Colonia Dignidad stellt einen Justizskandal dar“, so Jan Stehle, der das Thema im Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile und Lateinamerika (FDCL) bearbeitet. „Der Düsseldorfer Beschluss übernimmt die Sprache der Täteranwälte und bestärkt das Schweigekartell der Verbrecher der Colonia Dignidad. Deutschland ist zum sicheren Hafen für Menschenrechtsverbrecher geworden“, so Stehle. Auch die Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf, die mehrere Opfer in den deutschen Verfahren gegen Hartmut Hopp vertritt, äußerte sich dazu: „Der Beschluss stellt sich in eine lange Reihe von Entscheidungen der deutschen Justiz, die die tatsächlichen Verhältnisse in der Colonia Dignidad unzutreffend beurteilen, und setzt de facto die für die Täter der Colonia herrschende Straflosigkeit fort. Wer davon ausgeht, dass es dort überwiegend normal und sozial-adäquat zuging, hat nichts verstanden.“ Schlagenhauf fordert eine Ausweitung und Beschleunigung der deutschen Ermittlungen gegen Hopp bei der Staatsanwaltschaft Krefeld: „Es gibt neben dem chilenischen Urteil noch ein genuin deutsches Ermittlungsverfahren wegen derselben Vorwürfe gegen Hartmut Hopp, in dem die zuständige Staatsanwaltschaft nunmehr aufzufordern ist, den Sachverhalt umfassend zu ermitteln und die Beweisangebote, die seit Jahren vorliegen, auszuschöpfen.“

Auch Rechtsanwalt Hernán Fernández, der die Opfer in dem chilenischen Verfahren vertritt, welches zur Verurteilung von Hopp wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch führte, zeigte sich bestürzt. „Der Beschluss des OLG Düsseldorf ist beschämend. Wir werden jedoch weiterhin alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, damit die Täter nicht straflos ausgehen. Wenn die deutsche Justiz versagt, werden wir auch prüfen, ob auf europäischer Ebene Rechtsmittel möglich sind.“


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