Bewegung | Gewalt und Staat | Nicaragua | Nummer 545 - November 2019

„NICHTS IST NORMAL“

Interview mit der ehemaligen politischen Gefangenen und Aktivistin Amaya Coppens

Trotz der gebetsmühlenartigen Wiederholungen Präsident Daniel Ortegas, Nicaragua sei zur Normalität zurückgekehrt, gingen am 21. September 2019 die Menschen unter der Parole „Nichts ist normal!“ auf die Straße. Mit der ehemaligen Medizinstudentin Amaya Coppens sprachen die LN über ihre Haftzeit und die aktuelle Situation.

Interview: Elisabeth Erdtmann

Amaya Eva Coppens Zamora
ist Feministin, Medizinstudentin und Mitglied der Artikulation der Sozialen Bewegungen (AMS) sowie der Student*innenbewegung 19 de Abril der Nationalen Autonomen Universität (UNAN) in León. Darüber hinaus ist sie Mitglied der Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit (CUDJ). (Foto: Christina Schulze)


 

Sie waren Opfer einer Entführung durch die Paramilitärs und anschließend neun Monate im Gefängnis. Im Juni 2019 sind Sie mit dem Inkrafttreten des Amnestiegesetzes frei gekommen. Welcher Straftaten wurden Sie beschuldigt?

Ich wurde nie wirklich verurteilt, ich bekam nie einen Prozess. Die Anschuldigungen lauteten auf Terrorismus, Waffenbesitz, Entführung, Raub, gefährliche Körperverletzung – eine lange Liste. All diese Anschuldigungen sind sehr wenig glaubhaft, aber wie schon beim Amnestiegesetz bleibt der Regierung auch beim Terrorismusgesetz (verabschiedet nach Beginn der Proteste im Jahr 2018, Anm. d. Red.) genügend Raum für Interpretationen, um es so auszulegen und zu nutzen, wie sie es braucht. Für uns, die politischen Gefangenen, vor allem aber für die Familien der Ermordeten ist das Amnestiegesetz ein Hohn. Tatsächlich ging es den Machthabern dabei nur darum, nach ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit während dieser ganzen Zeit ungestraft davonzukommen. So wird es noch schwieriger, für die mehr als 300 in Nicaragua ermordeten Menschen Gerechtigkeit zu erreichen. Die einzige Verurteilung wegen Mordes gab es im Fall des Mörders des brasilianischen Studenten Rajneia Lima, der durch das Amnestiegesetz wieder freikam. Wir dagegen haben keine Verbrechen begangen. Alle Unregelmäßigkeiten in den Verfahren belegen das, ebenso die Korruption im gesamten Justizsystem, durch die viele unschuldige Menschen für Monate ins Gefängnis gekommen sind, ohne dass sie überhaupt vor ein Gericht gestellt wurden. Vor einem Gericht, das tatsächlich den gesetzlichen Mindestanforderungen genügte, wären wir nie verurteilt worden.

Sie waren im Frauengefängnis La Esperanza inhaftiert. Wie waren die Haftbedingungen für politische Gefangene in diesem Gefängnis?

Die Situation in den Gefängnissen ist vollkommen inhuman. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass es kein Trinkwasser gibt. Das Wasser, das aus den Wasserhähnen kommt, ist Thermalwasser, stark mineral- und schwefelhaltig und für den menschlichen Konsum nicht geeignet. Wir waren nicht so lange dort, hatten davon aber bereits gesundheitliche Probleme. Stellen Sie sich nun die Situation der Frauen vor, die jahrelang dieses Wasser konsumieren. Das verursacht verschiedene dermatologische und gynäkologische Veränderungen. Die gesellschaftspolitische Krise ermöglichte es, die allgemeinen Bedingungen in den Gefängnissen sichtbar zu machen, aber auch die mangelnde Glaubwürdigkeit des Justizsystems, das vollkommen korrupt ist.
Als politische Gefangene waren wir von den anderen Gefangenen völlig isoliert. Die Gefängniswärter drohten ihnen, sie zu bestrafen, wenn sie sich unseren Zellen näherten. Wir hatten kein Recht, einen Gottesdienst zu besuchen, in den Innenhof durften wir nur einmal pro Woche gehen. Wir hatten keinen Zugang zu Aktivitäten, die den normalen Gefangenen angeboten wurden, wie zum Beispiel studieren oder die Herstellung von industriellen Produkten. In den neun Monaten, in denen ich festgehalten wurde, hatte ich keinen Zugang zu einem Telefon und durfte keine Briefe von meiner Familie bekommen. Am Anfang wollten sie uns nicht einmal Bücher geben. Wir hatten keinen Zugang zu Radio oder Fernsehen, absolut keine Informationen.

Wie würden Sie die Auswirkungen der Haftzeit auf ihr weiteres Leben beschreiben?

Gesundheitlich sind wir alle gezeichnet. Außer den verschiedenen Foltermethoden, die dokumentiertermaßen in den Gefängnissen angewandt wurden, hat auch der Stress, eingesperrt zu sein, ausgeprägte Auswirkungen auf psychologischer Ebene. Bei meinem Fall wussten sie, dass er öffentlich bekannt würde und taten mir nichts Körperliches an, aber sie folterten meinen Partner. Sie brachen ihm die Schulter und mehrere Rippen. Stromschläge waren in den meisten Fällen üblich. Eine Strafe war, Gefangenen die Fingernägel auszureißen. Sie machten sogar Videos von dem Moment, in dem sie der Person so viel Schmerz zufügten, machten Witze darüber, wie sie ermordet werden sollte, wo unsere Körper entsorgt werden würden, und bedrohten damit unsere Familien. Die Wege, die sie gefunden haben, um uns zu foltern, waren wirklich unzählig. Zum Beispiel haben sie eine Grillparty direkt vor unserer Zelle veranstaltet, als wir im Hungerstreik waren.

Nicaragua erscheint derzeit als ein gespaltenes Land. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis wurden ehemalige Gefangene von Anhänger*innen Ortegas an ihren Wohnorten tätlich angegriffen. Haben auch Sie solche Vorfälle erlebt?

Oh ja! Alle ehemaligen politischen Gefangenen, unsere Familien, alle, die uns irgendwie unterstützt haben, alle, die an irgendeiner Art Protest beteiligt waren, wurden belästigt und auf verschiedene Art und Weise bedroht. Vor meinem Haus steht immer ein Auto mit Paramilitärs oder Polizisten fahren vorbei. Ich kann mich nicht bewegen, ohne dass mir jemand folgt.
In León wurden mehr als 57 Häuser mit dem Wort plomo beschmiert. Das bedeutet, sie werden dir Kugeln geben, es ist eine Morddrohung. Auch mein Haus in Estelí wurde beschmiert. Dass wir freigelassen wurden, bedeutet absolut nichts, denn die Drohungen gehen weiter. Sie haben bereits elf politische Gefangene wieder verhaftet, die mit dem Amnestiegesetz frei gekommen waren. Derzeit gibt es mehr als 130 politische Gefangene, was die Regierung leugnet. Sie behauptet, dass alles normal sei, erlaubt den internationalen Organisationen aber nicht, nach Nicaragua zurückzukehren, um zu sehen, was wirklich los ist.
Sämtliche Staatsgewalten befinden sich derzeit in den Händen des Ortega/Murillo-Regimes. Um eine Arbeit zu bekommen, benötigen die Leute eine Bestätigung ihrer politischen Loyalität. Seit Jahren nötigt man sie, als Gegenleistung für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes oder im Austausch für ein Stipendium zu Parteiaktivitäten und −veranstaltungen zu gehen. Zum Zeitpunkt der Krise setzten sie die Studenten unter Druck, auf die Protestierenden mit Steinen loszugehen. Wer nicht mitmachen wollte, musste fliehen, in unserem Fall aus der UNAN in León. Die Direktorin der Universität ist − entgegen dem gesetzlichen Autonomiestatus der Universitäten − stellvertretende Abgeordnete der Regierungspartei FSLN, sie war auch im Rahmen des nationalen Dialogs in der Regierungskommission. Aber nicht nur das, auch während der ersten Proteste in León war sie bei einer Gegendemonstration dabei, ebenso die Direktorin des Krankenhauses und die Gesundheitsministerin. Alle waren sie da, als wir angegriffen wurden, aber sie kümmerten sich nicht um die Sicherheit der Studenten, sondern verschlossen die Türen des Krankenhauses. Sie verweigerten ihnen medizinische Versorgung. Und nicht nur das: Studenten, die dort einige Erste-Hilfe-Plätze eingerichtet hatten, wurden aus dem Krankenhaus vertrieben und die Medikamente, die sie gesammelt hatten, in den Müll geworfen.

Die Aufkündigung des Dialogs mit der Alianza Cívica, das Einreiseverbot für die Kommission der OEA – alles deutet darauf hin, dass das Regime auf Zeit spielt. Könnte die Ungeduld bei Student*innen und anderen Gruppen dazu führen, dass diese sich radikalisieren, anstatt weiterhin auf Dialog zu setzen, um einen Systemwechsel zu erreichen?

Wir haben uns immer für den Dialog als friedliche Option und als Ausweg aus der Krise entschieden. Die Regierung hat jedoch den Dialog und die während des Dialogs getroffenen Vereinbarungen in keiner Weise respektiert. Wir haben weiter darauf bestanden, denn die Vereinbarungen sind keine großen Zugeständnisse. Sie bedeuten nur die Rückkehr zu unseren Menschen- und Bürgerrechten.
Die Morde gehen weiter. Von Januar bis Juni dieses Jahres konnten Informationen über 24 außergerichtliche Hinrichtungen gesammelt werden. Am stärksten betroffen sind ländliche Gebiete. Es gibt äußerst dramatische Fälle, wie der der Familie Montenegro: fünf ihrer Mitglieder wurden getötet. Das sind alltägliche Dinge, aber es ist schwierig, Informationen zu erhalten, da es sich um ländliche Gebiete handelt. Wir wissen etwa von Soldaten, die Bürger jagen, die versuchen, ins Ausland zu fliehen. Es gab sogar den Fall eines Nicaraguaners, der sich bereits auf costaricanischem Territorium befand und von nicaraguanischen Soldaten dort ermordet wurde. Es herrscht eine Atmosphäre generalisierter Gewalt. Nachdem Nicaragua laut Statistik eines der sichersten Länder Mittelamerikas war, ist es heute zu einem Ort geworden, an dem es jeden Tag Morde gibt. Im Grunde waren wir als politische Gefangene im Gefängnis noch besser dran, denn wenn dort etwas passierte, wusste man sofort, dass es die Wachen waren. Jetzt ist es möglich, dass mich jemand auf der Straße angreift und ersticht. Der Staat wäscht seine Hände in Unschuld mit dem Hinweis auf die allgemein verbreitete Gewalt, wir aber wissen, dass es sich um Paramilitärs handelt, die mit Billigung der Regierung agieren.

Wie lässt sich die derzeitige Situation der Studierenden beschreiben, die während der Proteste eine wichtige Rolle gespielt haben?

Ich bin Teil der Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit (CUDJ), der verschiedene studentische Gruppen angehören. Dies ist ein Sektor, der unsichtbar geworden ist, denn die meisten Exilanten sind Studenten. Und viele, die nicht im Exil sind, leben im Versteck vor der ständigen Verfolgung. Ich kann mich weder bewegen noch zur Universität gehen, denn irgendwann haben sie die akademischen Register der Studierenden gelöscht. Es wird geschätzt, dass mehr als 146 Studenten der CUDJ ausgeschlossen wurden – das sind nur die Exmatrikulierten, ohne diejenigen, die gehen mussten, um sich in Sicherheit zu bringen. Es wurden Universitätsstudenten ermordet, andere inhaftiert. Es gibt sehr viele, die wahrscheinlich nicht wieder studieren können. Das hat Auswirkungen, die in Nicaragua noch nicht sichtbar sind, bedeutet aber, dass eine ganze Generation ausgemerzt wird.

Welche Aktionsmöglichkeiten sehen Sie unter den gegenwärtigen Bedingungen noch für die Protestbewegung?

Wir protestieren weiter, wie wir können. Erst am 21. September wurde eine Demonstration organisiert. Wie immer gab es keine Erlaubnis und die Polizei unterdrückte die Demonstration, doch trotz der Drohungen, trotz des Polizeiaufgebots, trotz der Verhaftungen fand sie statt. Die Menschen gingen trotz der Angst auf die Straße, um zu zeigen, dass wir hier sind, dass wir weitermachen, weiter anklagen, was passiert. Nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb von Nicaragua, damit weiterhin auch von außen Druck ausgeübt wird, um auf die Wiederherstellung der Menschenrechte und auf Bedingungen zu drängen, die erfüllt sein sollten, um wirklich von Demokratie zu sprechen. Der Protest ist wichtig, damit die Situation in Nicaragua sichtbar bleibt. Aber wir müssten nicht einmal protestieren – nur zu teilen, was Tag für Tag in Nicaragua geschieht, sollte ausreichen, um Aufmerksamkeit zu erregen.

 


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren