Aktuell | Brasilien | Editorial | Nummer 582 - Dezember 2022 | Wahlen

// SIEG DER HOFFNUNG

Die Redaktion

So knapp der Sieg von Lula war, seine Bedeutung ist groß. Kaum auszumalen, was vier weitere Jahre Bolsonaro für Brasilien bedeutet hätten. Vier Jahre mehr Rassismus, Sexismus, Diskriminierung von Minderheiten, Vergiftung des öffentlichen Diskurses, Umweltzerstörung, kultureller Kahlschlag und desaströse Bildungs- und Gesundheitspolitik (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Bereits nach vier Jahren Regierungszeit des unfähigsten Präsidenten der jüngeren brasilianischen Geschichte hat das Land eine schwere Bürde zu tragen: Es ist tief gespalten.

Auch wenn Bolsonaro bisher seine Niederlage noch nicht öffentlich eingeräumt hat, hat er doch wenigstens seinen Kabinettschef Otro Nogueira – nach dessen Angaben – ermächtigt, die Regierungsübergabe einzuleiten. Doch wenn Bolsonaro im Januar das Feld räumt, ist das noch lange kein Grund zum Durchatmen. Die Saat des Bolsonarismus trägt mittlerweile im ganzen Land üble Früchte. Die extreme Rechte war mit ihrem Umbau der brasilianischen Gesellschaft teils erschreckend erfolgreich.

Das wichtigste Amt im Staat mag Lulas Arbeiterpartei PT zwar zurückerobert haben. Aber 13 von 27 brasilianischen Bundesstaaten werden bald von Bolsonaro nahestehenden Gouverneuren – alles Männer – regiert. Und im Kongress werden seine Verbündeten voraussichtlich über satte Mehrheiten verfügen. Bis zu 380 von 513 Vertreter*innen im Abgeordnetenhaus und 58 von 81 Senator*innen könnten bald die Linie des Rechtsradikalen unterstützen. Viele von ihnen haben ihre Mandate bei den gerade abgehaltenen Wahlen neu gewonnen. Lula wird zunächst alle Hände voll zu tun haben, den Trümmerhaufen abzutragen, den ihm sein Vorgänger hinterlassen hat. Der nach rechts gerückte Kongress wird ihm dabei erhebliche Zugeständnisse abverlangen, wenn er Gesetzesvorhaben durchsetzen will.

Außerhalb des Parlaments kommt erschwerend hinzu, dass das Vertrauen in die PT seit den Verstrickungen in die Korruptionsskandale Mensalão und Lava Jato bei vielen Brasilianer*innen nachhaltig gestört ist. Die Fundamentalopposition der fanatisierten Bolsonaristas wird innerhalb und außerhalb des Parlaments alles daransetzen, ihm und der von ihnen verteufelten PT mit Blockadepolitik, Fake News und schmierigen Tricks das Leben zur Hölle zu machen.

Lula weiß, dass er schnell liefern muss. Dass er aktuell rhetorisch als Versöhner auftritt, könnte deshalb auch politisch motiviert sein: Einerseits, um sich für Bündnisse mit Mitte-rechts-Parteien in Stellung zu bringen. Andererseits um die Parteibasis schon jetzt darauf vorzubereiten, dass es einige bittere Pillen zu schlucken geben wird.

Die PT sollte aus den vergangenen Legislaturperioden an der Macht von 2003 bis 2016 und den sechs Jahren danach unter den ultrarechten Präsidenten Temer und Bolsonaro Lehren ziehen: Den eigenen Kern darf die Partei nicht verleugnen. Und das spannungsreiche Zusammenspiel mit den regierungskritischen (linken) sozialen Bewegungen muss gesucht werden. Deren Potenzial ist nach wie vor groß, wurde aber viel zu wenig ausgeschöpft. Auch deshalb konnte sich die Rechte soziale Proteste zu eigen machen, das gesellschaftliche Klima vergiften und die PT-Präsidentin Dilma Rousseff 2016 trickreich zu Fall bringen. Was nach einer Quadratur des Kreises klingt, könnte letztlich Lulas einzige Hoffnung sein: Um das Land zu vereinen, muss die PT zunächst das brüchige Vertrauen ihrer eigenen Basis zurückgewinnen. Nur geschlossen kann es gelingen, die Bevölkerung wieder von einem nachhaltigen linken Projekt zu überzeugen.

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