Brasilien | Nummer 432 - Juni 2010

Wallfahrt vor der Wahl

Für die anstehenden Präsidentschaftswahlen deutet Alles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Dilma Roussef und José Serra hin

Am 3. Oktober finden in Brasilien die allgemeinen Wahlen statt. Offiziell gibt es noch keine KandidatInnen – so will es die Gesetzgebung. Doch wer das höchste Amt Brasiliens anstreben wird ist bereits klar. Und die KandidatInnen beginnen den Wahlkampf.

Thilo F. Papacek

José Serra war der Erste. Bereits am 17. Mai folgte der Vorkandidat der oppositionellen „Partei der sozialen Demokratie“ (PSDB) der Tradition des brasilianischen Wahlkampfs und besuchte den Wallfahrtsort Juazeiro do Norte. Seit den Wahlen 1989 gilt es als ungeschriebenes Gesetz einer/s jeden KandidatIn, in das Städtchen im armen und trockenen Hinterland des Bundesstaates Ceará im Nordosten zu reisen, um dem Kult um den Pater Cícero Reverenz zu erweisen. Der als wundertätig geltende Pater lebte Anfang des 20. Jahrhunderts und wird in der Volksreligiösität des Nordostens wie ein Heiliger verehrt. Die Vorkandidatin der Regierung Dilma Roussef und weitere VorkandidatInnen werden in den nächsten Wochen im Wallfahrtsort erwartet. Denn keine KandidatIn kann mit Stimmen im Nordosten rechnen, ohne zuvor den Zuspruch des „Heiligen“ erbeten zu haben – es ist eine symbolische Handlung, die zeigen soll, dass die KandidatInnen sich um die Belange der verarmten und tief religiösen BewohnerInnen des Nordostens kümmern werden, sollten sie das angestrebte Amt erreichen. Ob sie es dann als Regierende tatsächlich tun, ist eine andere Frage: Eingeführt hat diese Tradition Fernando Collor, der als wohl korruptester und unbeliebtester Präsident in die jüngste Geschichte Brasiliens einging und 1992 nur durch Rücktritt einem Amtsenthebungsverfahren entgangen war.
Zwar werden die Wahlen in Brasilien erst am 3. Oktober stattfinden. Der Wahlkampf in Brasilien ist jedoch bereits im vollen Gange, auch wenn das oberste Wahlgericht (TSE) die jetzige Phase noch als „Vorwahlkampf“ einstuft. Denn laut der Verfassung dürfen erst im Juni die Parteikongresse stattfinden, auf denen die PräsidentschaftskandidatInnen gewählt werden; bis dahin gelten sie offiziell nur als „VorkandidatInnen“. Das gleiche gilt für Wahlbündnisse zwischen den Parteien, die erst später offiziell geschmiedet werden dürfen. Doch scheint es bereits sehr klar zu sein, wer für wen kandidieren und wer wen unterstützen wird. Überraschungen bei den offiziellen KandidatInnenwahlen im Juni erwartet jedenfalls niemand. Und bereits jetzt mussten die potenziellen KandidatInnen von ihren Regierungsämtern zurücktreten, um am 3. Oktober antreten zu dürfen. Diese „Freizeit“ nutzen sie nun, um durch die einzelnen Bundesstaaten zu reisen und Wahlstimmung zu verbreiten.
Dilma Roussef (Arbeiterpartei PT) war bis März dieses Jahres die Kabinettschefin der Regierung Luiz Inácio Lula da Silvas und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Regierungsbündnis als Präsidentschaftskandidatin antreten. Der amtierende Präsident selbst darf nach zwei Legislaturperioden nicht mehr antreten. Nun rührt Lula für Roussef die Trommel. Auf mehreren öffentlichen Reden bekräftigte er, sie zu seiner Nachfolgerin machen zu wollen, um dem Regierungsprojekt der PT Kontinuität zu geben. Wofür er jedoch vom Obersten Wahlgericht TSE verurteilt wurde – dreimal verdonnerte das TSE Lula zu Strafen von insgesamt 20.000 Reais (ca. 9.000 Euro) für vorzeitige und illegale Wahlwerbung. Denn offiziell darf ein Präsident keine/n Kandidaten/In im Wahlkampf, und noch weniger im „Vorwahlkampf“, unterstützen. Aber was sind schon 9.000 Euro bei einer so wirksamen Propaganda? Noch vor wenigen Monaten gaben bis zu 20 Prozent der Befragten in Umfragen an, Dilma Roussef nicht zu kennen; inzwischen sind es weniger als zehn Prozent. Da bis zu 80 Prozent der Befragten in entsprechenden Untersuchungen die Regierungszeit Lulas als positiv bewerten, darf diese illegale aber letztlich tolerierte Einflussnahme des Präsidenten nicht zu gering bewertet werden. Und so schlägt Roussef weiter in diese Kerbe. Sie wolle das Sozialprogramm der PT weiterführen und warnt vor der oppositionellen PSDB. Diese drohe, so Roussef, mit ihrer neoliberalen Politik alles von Lula Erreichte kaputt zu machen.
Ihr größter Konkurrent ist José Serra von der oppositionellen rechten Partei PSDB. Er ist der ehemalige Gouverneur des bevölkerungs- und auch finanziell reichsten Bundesstaats Brasiliens, São Paulo. Noch vor wenigen Monaten lag er in den Umfragen ganz weit vorne. Doch das hat sich inzwischen – nicht zuletzt wegen Lulas Einflussnahme – geändert. Die Umfrageergebnisse vom 14. Mai des renommierten Statistikinstituts Vox Populi sehen Serra nun mit 34 Prozent der Wahlintentionen hinter Roussef, die 37 Prozent der Befragten wählen würden.
Doch der Antagonismus zwischen PT und PSDB ist vor allem rhetorischer Natur. Tatsächlich betrieb Fernando Henrique Cardoso, Brasiliens Präsident von 1995 bis 2003, neoliberale Privatisierungspolitik. Doch der erwartete Bruch der Regierungspolitik mit Lulas Amtsantritt fiel nicht so groß aus. Jedenfalls blieb die auf Währungsstabilität ausgerichtete Fiskalpolitik im Wesentlichen gleich. Und José Serra wäre verrückt, wenn er die enorm populären Sozialprogramme der PT streichen wollen würde. Trotz der bisweilen revolutionären Rhetorik zeichnete sich die PT-Politik mehr durch Kontinuität zur Vorgängerregierung aus, was viele Linke an der Basis enttäuscht hat.
Von dieser Enttäuschung versucht die Kandidatin der grünen Partei PV, Marina Silva, zu profitieren. Doch mit etwa sieben Prozent in den Umfrageergebnissen wird sie wohl wenig mehr ausrichten, als einen Achtungserfolg zu erreichen. Marina Silva war Umweltministerin der Regierung Lula, bis sie – enttäuscht von der Arbeiterpartei und der Regierungspolitik – im Mai 2008 von ihrem Amt zurück- und später aus der PT austrat. Da sie gute Beziehungen zu Basisorganisationen im Umweltschutz hat, könnte sie zahlreiche Stimmen von der Arbeiterpartei PT abziehen. Auch die nicht zu unterschätzenden Stimmen der Evangelikalen könnten ihr gehören: Seit 13 Jahren ist Marina Silva Mitglied der evangelikalen Kirche „Assembleia de Deus“. Im April traf sie sich mit VertreterInnen der über die eigene Gemeinde hinaus einflussreichen Presbyterianischen Kirche, die ihr Unterstützung im Wahlkampf zusprachen. Die beständig wachsenden evangelikalen Kirchen sind ein nicht zu unterschätzender Faktor bei den Wahlen.
Somit scheinen die entscheidenden Fragen um die KandidatInnen für die kommenden Wahlen bereits geklärt zu sein. Doch die Koalitionen sind es noch nicht. Zwar ist auf der Bundesebene alles sehr eindeutig: Die PSDB wird – unter anderem – mit der von GroßgrundbesitzerInnen und Industriellen dominierten DEM koalieren und gemeinsame Kandidaten präsentieren, die Arbeiterpartei PT mit der rechts von ihr stehenden PMDB. Die Bündnisparteien sollen dafür mehrere Posten im Kabinett erhalten, sollten die PräsidentschaftskandidatInnen Erfolg haben. So zeichnet sich ab, dass als Vizepräsident für Dilma Roussef der Chef der Deputiertenkammer, Michel Temer (PMDB) kandidieren wird. Doch in den einzelnen Bundesstaaten prüfen die KandidatInnen auch weitere Optionen.
Am 3. Oktober sind die BrasilianerInnen nämlich nicht nur zur Präsidentschaftswahl aufgerufen, sondern sie wählen auch die Bundesdeputierten, die GouverneurInnen der Bundesstaaten sowie je einen neuen Senatsposten pro Bundesstaat. Und auf dieser Ebene sind die Vorgaben der Bundesparteien mitnichten immer im Interesse der einzelnen KandidatInnen. So hat die PMDB von São Paulo angekündigt, nicht der Vorgabe von Michel Temer folgen zu wollen. Der lokale Chef der PMDB in São Paulo, Orestes Quercia, selbst in den 1990er Jahren Präsidentschaftskandidat, erhofft sich nämlich mehr Chancen auf einen Posten in der Administration des Bundesstaates, wenn er auf der Wahlliste des PSDB-„Vor“Kandidaten auf das Gouverneursamt, Geraldo Alckmin, antritt.
Ähnliches passiert bei der Arbeiterpartei PT. Die lokale PT im Bundesstaat Maranhão hatte sich im März dagegen entschieden, die Kandidatur von Roseana Sarney (PMDB) auf das Gouverneursamt zu unterstützen, aus nachvollziehbaren Gründen: Der Sarneyclan regiert – mit wenigen Unterbrechungen – seit 1960 den bitterarmen Maranhão. Die Sarneys besitzen riesige Ländereien, Radiosender und Unternehmen und werden von – nicht nur – linken Gruppen beschuldigt, private und öffentliche Interessen zu vermischen (siehe LN 420). Mit einer Unterstützung von Roseana Sarney würde sich die PT als „linke“ Partei in dem Staat endgültig unglaubwürdig machen. Dennoch übt die Bundes-PT weiter Druck aus, um die Lokalkoalition doch noch zustande zu bringen.
Diese wachsende Unglaubwürdigkeit der PT sollte eigentlich die Parteien links von der PT stärken. Doch dies ist nicht der Fall. Die Partei Freiheit und Sozialismus PSOL, die von enttäuschten Mitglieder der PT gegründet worden war, brachte es bei den letzten Wahlen durchaus zu einem kleinen Achtungserfolg. Die Kandidatin Heloisa Helena wurde von internationalen linken Intellektuellen wie zum Beispiel Ken Loach, Slavoj Žižek und Noam Chomsky unterstützt und brachte es auf immerhin fast sieben Prozent der Stimmen. Doch Heloisa Helena kandidiert bei diesen Wahlen auf das aussichtsreichere Amt der Senatorin für den Bundesstaat Alagoas. Stattdessen wird sich der 75-jährige links-christliche Intellektuelle Plínio Arruda Sampaio für die PSOL um das Präsidentenamt bemühen. Derzeit geben weniger als ein Prozent der von Vox Populi Befragten an, ihn wählen zu wollen. Der Wahlkampf 2010 scheint noch stärker polarisierter zu werden, als der von 2006. Noch ist unklar, wer sich am Ende durchsetzen wird. Alles läuft auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Roussef und Serra hinaus, das durchaus in eine zweite Runde gehen kann.

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