Ein Konzern blamiert sich

VW in São Paulo Druck aus der Zivilgesellschaft (Foto: Ennio Brauns)

Es ist vor allem dem Priester Ricardo Rezende von der Landarbeiterpastoral CPT zu verdanken, dass die skandalösen Verhältnisse auf der Rinderzuchtfarm von VW do Brasil nicht in Vergessenheit gerieten. Er dokumentierte die menschen-unwürdige Be­handlung der Arbeiter*innen bereits in den 1970er und 1980er Jahren, sammelte jahrelang Zeugenaussagen und Beweise und bewirkte bereits Anfang der 1980er Jahre eine polizeiliche Untersuchung. Diese zog allerdings keine weiteren Konse­quenzen nach sich. 2022 war es erneut Rezende, inzwischen Professor für Anthro­pologie und Menschenrechte, der eine Anhörung durchsetzte. Bereits 2019 hatte er dem Arbeitsministerium (MPT) ein detailliertes Dossier ausgehändigt und nach drei­jähriger Auswertung fiel endlich von staatlicher Seite die Entscheidung, dass die auf­geführten Sachverhalte eine nähere Untersuchung rechtfertigen. 2022 griff die brasi­lianische Bundesstaatsanwaltschaft die Ereignisse auf der Farm auf und eröffnete am 19. Mai ein Ermittlungsverfahren gegen Volkswagen, dem am 14. Juni 2022 eine erste Anhörung in Brasília folgte. Diese fand über Brasilien hinaus große Aufmerk­samkeit. In Deutschland berichteten unter anderem der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und der Weltspiegel der ARD. VW musste zu den Vorwürfen Stellung bezie­hen, die Hoffnung auf eine baldige Einigung bestand. Anklagepunkte waren Sklaven­arbeit, Menschenhandel und systematische Menschenrechtsverletzungen in hunder­ten von Fällen.

Um für das Treffen am 29. März 2023 eine Entscheidung herbeizuführen und eine weitere Verzögerungstaktik von VW zu unterbinden initiierte die Brasilieninitiative Freiburg e.V. Anfang Februar bei campact eine WeAct-Petition: „VW soll Menschen­rechtsverletzungen anerkennen.“ Binnen kurzer Zeit kamen fast 3.000 Unterschriften zusammen. Weder der im VW-Vorstand zuständige Herr Dr. Döss noch die Men­schenrechtsbeauftragte Frau Dr. Waltenberg – 2022 hatte VW die Stelle einer Menschenrechtsbeauftragten eingeführt – standen jedoch für die Annahme zur Verfü­gung, allein der VW-Pressesprecher nahm am 24. März die Petition in Wolfsburg ent­gegen. Auch die zeitgleich geplante Übergabe in São Paulo gestaltete sich anders als erwartet: Vertreterinnen verschiedener NGO waren anwesend, die VW-Delega­tion ging wortlos an ihnen vorüber, eine Annahme der Petition wurde abgelehnt. Das Treffen selbst brachte erneut keine Einigung, im Gegenteil. Vertreter*innen von VW do Brasil verließen den Verhandlungstisch und erklärten nicht weiter an einer Eini­gung interessiert zu sein: VW sei nicht verantwortlich für die Geschehnisse auf der Farm. Der auf dem Tisch liegende Vorschlag der Staatsanwaltschaft über eine Ent­schädigungszahlung von umgerechnet rund 25 Millionen Euro fand keine Beachtung. Diese sollte den bereits identifizierten geschädigten Arbeitern bzw. deren Familien zugutekommen sowie der Einrichtung eines Opferfonds dienen. Der leitende Staats­anwalt Rafael Garcia sagte nach der Begegnung im Gespräch mit der Tageszeitung Folha de São Paulo: „Wir bedauern die Haltung von Volkswagen, welche die Arbeit­nehmer, die mehr als zehn Jahre lang versklavt und in ihrer Würde und Freiheit be­schnitten wurden, nicht respektiert.“

Der Auseinandersetzung um die Entschädigungszahlungen an die Geschädigten auf der VW-Rinderzuchtfarm ist ein jahrzehntelanges Tauziehen um Entschädigungen für die während der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen in den VW-Werken vorangegangen. Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, bis VW sich – notgedrungen – seiner Vergangenheit in Brasilien stellen musste. Anlass war der am 10. Dezember 2014 nach zweijähriger Arbeit überreichte Bericht der bra­silianischen Wahrheitskommission an die damalige Präsidentin Dilma Rousseff. In diesem dreibändigen Bericht wurden die Menschenrechts-verletzungen während der Militärdiktatur 1964 bis 1985 aufgearbeitet.

Der Bericht legte sowohl die Kollaboration mit der Militärdiktatur, die Verfolgung ge­werkschaftlich aktiver Arbeiter im VW-Werk in São Bernardo do Campo, als auch die sklavenähnlichen Verhältnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm im Bundesstaat Pará of­fen. Bereits 1983 vorliegende Dokumente, die jedoch damals keine Beachtung fan­den und die von menschenunwürdigen Zuständen berichteten, sollten bestätigt wer­den. Eine Reaktion von VW wurde notwendig und so beauftragte der Konzern 2016 den Historiker Christo­pher Kopper mit der Aufarbeitung der Vorwürfe. Dieser recherchierte so­wohl zur Zusammenarbeit mit der Militär-regierung und der Verfolgung kritischer Ge­werkschafter im Automobilwerk in São Bernado do Campo (Bundesstaat São Paulo), als auch zu den Vorwürfen in Bezug auf die VW-Rinder-zuchtfarm Rio Cristalino in Amazonien. Sein Urteil war eindeutig: „Das Management von VW do Brasil verhielt sich gegenüber der Militärregierung uneingeschränkt loyal und teilte ihre wirtschafts­politischen und innenpolitischen Ziele.“

Was die Vorwürfe gegenüber der Behandlung der Beschäftigen im VW-Werk betraf, erklärte sich VW 2020 schließlich dazu bereit, umgerechnet rund 5,5 Millionen Euro an Ent­schädigung zu bezahlen. Damit erhielten ehemalige Gewerkschafter, die während der Militärdiktatur nachweislich gefan-gen, gefoltert oder verfolgt wurden, eine späte finanzielle Entschädigung; auch ein Opferverband wurde eingerichtet. Für VW war da­mit dieses dunkle Kapitel der Firmengeschichte abge-schlossen.

„Vergessen“ hatte man allerdings die Vorkommnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm, die Historiker Kopper ebenfalls in seinem Bericht belegte. VW hatte in den 1970er Jahren beschlossen, nicht nur Autos zu produzieren, sondern sich auch in der Rin­derzucht zu betätigen. 1978 erwarb der Konzern die Fazenda Rio Cristalino mit 139.000 Hektar Land im Bundesstaat Pará, wo sich die Arbeitsbe-dingungen für die nicht festan­gestellten Arbeiter als prekär erweisen sollten. Für das Abholzen, Niederbrennen und Um­zäunen beauftragte das Firmenunternehmen Subunternehmer, die sogenannten gatos (Kater): „Zu den bevorzugten Opfern der gatos gehörten verschuldete Wan­derarbeiter, deren Schulden sie übernahmen. Da von dem Lohn nach Abzug der Ver­pflegung kaum Geld zum Abzahlen der Schulden übrig blieb, gerieten verschuldete Wanderarbeiter in eine längerfristige Schuldknechtschaft.“ Laut Kopper war die Lei­tung der VW-Farm zweifellos mit den Verhältnissen auf dem ländlichen Arbeits­markt vertraut und kannte die ausbeuterischen Praktiken der gatos.

Verfehlungen in der Militärdiktatur – Verantwortung wird bis heute abgelehnt

Die zwischen 600 und 1.200 Männer mussten ihre Unterkunft in Zelten, ihre Verpfle­gung und ihren Transport selbst bezahlen. Damit waren sie von Beginn an hoch ver­schuldet und durften die Farm nie verlassen. Private Sicherheitsdienste hinderten sie daran. In einem Interview mit den Brasilien Nachrichten 1986 bestätigte der ehemali­ge Sicherheitsbeauftragte der VW-Farm, Adão, dass zeitgleich mehrere Subunterneh­men tätig waren und dass es vorkam, dass Menschen flohen. Die Tatsache, dass 90 Prozent der Farmarbeiter Analphabeten gewesen seien, habe den Umgang mit ihnen erleichtert, ihre Rechte hätten sie nicht gekannt. „Auch wenn es sich nicht um wirkli­che Sklaven handelte und VW do Brasil nicht unmittelbar für ihre katastrophalen Ar­beitsbedingungen verantwortlich war, unterließ VW alles, um die Lage der Wander­arbeiter zu verbessern“, stellte Kopper fest. VW do Brasil entschloss sich 1986 schließlich zum Verkauf der Fazenda Rio Cristalino. Zum einen wurde wohl ein Imageschaden befürchtet, zum anderen blieben die erhofften Gewinne aus.

Für den engagierten Vertreter des Arbeitsministeriums, Staatsanwalt Rafael Garcia, gab es nach Sichtung der Unterlagen keine Zweifel, dass „VW immer wusste, was auf der Fazenda geschah, zum einen weil VW der Besitzer war und zum zweiten da der Zugang zur Fazenda und der Verbleib auf ihr unter voller Kontrolle der VW-Ver­waltung stand“, so Garcia gegenüber Agência Brasil. Zur Tatsache des be­waffneten „Sicherheitsdienstes“, der die Arbeiter*innen daran hinderte, die Fazenda zu verlassen, meinte Garcia: „Ein derartiges Verhalten wäre ohne Zustimmung der für die Fazenda Verantwortlichen unmöglich gewesen.“ Es stand und steht für ihn außer Frage, dass VW Verantwortung zu übernehmen hat.

Dagegen lehnt der ehemalige Verant­wortliche der VW-Farm, Brügg, bis heute jede Verantwortung ab. „Die Vorwürfe sind völliger Blödsinn“, sagte er am 22. Mai 2022 im Weltspiegel der ARD. Auch die Konzernleitung von VW weigert sich bis heute, die unhaltbaren Zustände der damaligen Zeit anzuerkennen. Angesichts der nur noch wenigen Überlebenden ist das besonders skandalös. „Statt die Opfer der VW-Sklavenarbeit auf der Rinderzuchtfarm endlich nach all den Jahren zu entschädigen, will Volkswagen auf der am 10. Mai in Berlin anstehenden Jahres­hauptversammlung des Konzerns die Bezüge, Boni und Gehaltszahlungen für den Vorstand erhöhen“, kritisiert Christian Russau, Vorstandsmitglied des Dachverbands der Kritischen Aktionär*innen aus Köln. „In der Summe wären das potentielle Erhö­hungen von 27 Millionen Euro, dies entspricht ziemlich genau der von der Staats­anwaltschaft geforderten Entschädigung. Dieses Geld steht den ehemaligen Skla­venarbeitern zu!“

Nachdem VW do Brasil die Gespräche abgebrochen hat, ist jetzt der Mutterkonzern gefragt. VW sollte schnellstens einer Vereinbarung zustimmen, die Verzö­gerungstaktik aufgeben und endlich dieses düstere Kapitel seiner Firmengeschichte zum Ab­schluss bringen. Eine Stellungnahme des Mutterkonzerns in Wolfsburg auf die Ereignisse in São Pau­lo am 29. März sowie auf die von fast 3.000 Bürger*innen unterzeichnete Petition lag, trotz mehrfacher Nachfrage, bis zum Redaktionsschluss nicht vor.


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KEINE ENTSCHULDIGUNG VON VW

Kämpferisch bis zuletzt Lúcio Bellentani im September 2017 in São Paulo

Seine Stimme bebte, aber er verlor sich nicht in der Beschreibung. Er stockte, wenn seine Worte sich der ganzen Brutalität des Erlebten annäherten, hielt kurz inne und fuhr dann fort. Klar und detailliert berichtete Lúcio Bellentani, wie sich die Ereignisse 1972 überschlugen, wie er im Beisein und unter aktiver Mitwirkung von VW-Mitarbeitern verhaftet wurde, er beschrieb minutiös die Schläge, die Prügel, er gab ein Zeugnis der erlittenen Folter und der täglichen Erniedrigungen. Er beschrieb die einzelnen Täter, die Verräter und die Denunzianten, die Mitläufer und die Mittäter. Und er benannte den aus seiner Sicht Hauptverantwortlichen für das erlittene Unrecht: die aus Deutschland stammende Firma Volkswagen. Die sich bis heute nie bei ihm dafür entschuldigt hat, was ihm angetan wurde.
Lúcio Bellentani war der Hauptbelastungszeuge zur „Kollaboration von Volkswagen do Brasil mit der brasilianischen Militärdiktatur“. Er war 1972 Mitarbeiter bei VW do Brasil, einer der unzähligen Arbeiter*innen in den riesigen Werkshallen, die dort tagein, tagaus schufteten. Es war die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur, die sich dafür rühmte, für das Wirtschaftswunder verantwortlich zu sein: Jährliche Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts von rund zehn Prozent ließen die internationalen Industriebosse strahlen, während gleichzeitig die Löhne durch den sogenannten arrocho salarial staatlich eingefroren waren und die Arbeiter mit dem kargen Lohn gerade so über die Runden kamen.
Lúcio Bellentani schuftete bei VW, sah den Ärger, die Wut und nicht selten die Verzweiflung der Kolleginnen und Kollegen, sah die im Land grassierende Armut und die schreiende Ungerechtigkeit. Er sah den konzentrierten Reichtum in den Fängen einiger weniger und die Ausbeutung der Masse für Wachstum, für Fortschritt und für eine Ordnung, die für einige alles und für die anderen fast nichts zur Verfügung stellt. Für ihn war klar: Gegen solche Ungerechtigkeit muss man kämpfen.
Während der Militärdiktatur organisierten sich die kommunistischen Gewerkschafter*innen bei VW do Brasil klandestin, trafen sich in möglichst kleinen Gruppen, damit niemand im Falle einer Verhaftung mehr als zwei oder drei weitere verraten konnte. Sie trafen sich zur Produktion ihrer Flugblätter und der Informationszeitungen: Erst nachts leise auf die Schreibmaschine gehackt, dann auf Matritzen an geheimen Orten gedruckt, um dann tags darauf, das klandestine Material in die Firma, an den Spitzeln des VW-Werkschutzes vorbei, in die Spinde zu schmuggeln und von dort in den Pausen möglichst unauffällig an die Kolleg*innen zu verteilen. Immer auf der Hut vor dem VW-Werkschutz, der unter dem Scharfmacher Adhemar Rudge die Kolleg*innen bei VW bespitzeln ließ und die gesammelten Infos an die Repressionsorgane der brasilianischen Militärdiktatur weitergab. All dies mit stillschweigendem Wissen, aber erwiesenermaßen bewußter Kenntnis des damaligen Vorstandes von VW do Brasil. Dieses VW-Spitzelsystem wurde Lúcio Bellentani zum Verhängnis.
Am 28. Juli 1972 wurde Lúcio Bellentani direkt auf dem Werksgelände von VW im Vorort São Bernardo do Campo, im Süden von São Paulo, verhaftet. Im Beisein des VW-Werkschutzes wurde er Agenten des Folterzentrums DOPS übergeben. Es war gegen 23 Uhr, erinnert sich Bellentani bei seiner Aussage vor der Wahrheitskommission „Vladimir Herzog“ in São Paulo am 19. Juli 2012. „Als ich in den Raum der Sicherheitsabteilung von Volkswagen kam, fing dann gleich die Folter an, ich musste gleich Prügel, musste Backpfeifen und Faustschläge einstecken.“ Am nächsten Tag wurde er zu Brasiliens wohl bekanntesten und skrupellosesten Folterer gebracht: Sérgio Fernando Paranhos Fleury, Leiter des Folterzentrums DOPS, fanatischer Jäger der Oppositionellen und Anführer berüchtigter Todesschwadrone. Fleury, der Menschen mit Backsteinen erschlug. Fleury, der durch die bei der Unternehmerschaft São Paulos zur Finanzierung der Repression eingesammelten Gelder selbst reich geworden war. Fleury, der am 1. Mai 1979 unter bis heute nicht geklärten Umständen starb und dessen Todesnachricht auf der 1.-Mai-Feier der Metallarbeitergewerkschaft im Stadion Vila Euclides in São Bernardo do Campo von 100.000 Arbeiter*innen in Sprechchören und Gesängen enthusiastisch gefeiert wurde.

Lúcio Bellentani in DOPS Karteikarte im Folterzentrum, heute im Arquivo Público do Estdo de São Paulo

Mit dieser Aussage, mit bebender Stimme, aber dennoch klar im Detail, wurde Lúcio Bellentani zum Hauptbelastungszeugen gegen Volkswagen do Brasil. Während im September 2015 in Deutschland und den USA die „Diesel-Manipulation“ in den Medien hochkochte, reichte am 22. September 2015 das brasilianische Arbeiterforum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung eine Anzeige gegen VW do Brasil bei der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo ein. Das Bündnis, das sich aus Betroffenen – darunter federführend Lúcio Bellentani – Gewerkschafter*innen, Rechtsanwält*innen, sozialen Bewegungen und Menschenrechtsgruppen besteht, setzte mit dieser Anzeige zivilrechtliche Ermittlungen in Gang, um die gesamte Verstrickung von Volkswagen do Brasil in die Repressionsstrukturen der brasilianischen Militärdiktatur aufzuklären.Die Staatsanwaltschaft beauftragte einen externen Gutachter, den ehemaligen Polizeikommissar Guaracy Mingardi, die Verstrickungen von VW do Brasil mit der Militärdiktatur gründlich zu untersuchen. Auch VW beauftragte seinerseits eine solche Untersuchung, die von dem Historiker Christopher Kopper durchgeführt wurde. Beide Berichte bestätigen letztlich die Vorwürfe der Kollaboration von VW do Brasil mit der Militärdiktatur. Doch Volkswagen nutzte die Veröffentlichung der Kopper-Studie im Dezember 2017 sehr geschickt in den Medien. In der zur Publikation der Studie veröffentlichten Pressemitteilung vermittelte der Konzern, es habe nur der VW-Werkschutz aktiv mit der Militärdiktatur zusammengearbeitet: Es seien „keine klaren Beweise gefunden w[o]rden, dass die Zusammenarbeit auf einem institutionellen Handeln seitens des Unternehmens basiert[e]“, so VW im Dezember 2017. Die Mehrzahl der Presse ist prompt darauf hereingefallen und hat dies so übernommen. Dabei ist die von VW vertretene These, es sei „nur“ der Werkschutz gewesen“, nach Quellenlage gar nicht haltbar. Wenn Christopher Kopper schreibt: Der Werkschutzchef Adhemar Rudge habe „auf eigene Initiative, aber mit dem stillschweigenden Wissen des Vorstands“ gehandelt, dann klingt das gar nicht mehr nach Einzeltat. Und wenn weiter, „der Einsatz von Folter durch die politische Polizei bereits in der brasilianischen und in der deutschen Öffentlichkeit bekannt war“, dann hat der damalige Vorstand von VW do Brasil wissentlich und billigend in Kauf genommen, dass der ihm weisungsgebunden unterstellte Werkschutz Menschen der Folter ausgeliefert hat.
In der Süddeutschen Zeitung wurde 1973 der VW do Brasil–Chef, Werner Paul Schmidt, mit den Worten zitiert: „Sicher foltern Polizei und Militär Gefangene, um wichtige Informationen zu erlangen, sicher wird beim Politisch-Subversiven oft gar kein Gerichtsverfahren mehr gemacht, sondern gleich geschossen, aber eine objektive Berichterstattung müßte jedesmal dazufügen, daß es ohne Härte eben nicht vorwärtsgeht. Und es geht vorwärts.“ Auch der „Auch die Folterer selbst bestätigten dies, zum Beispiel José Paulo Bonchristiano, „Mr. DOPS“, wie dieser im Folterzentrum DOPS genannt wurde. Dieser sagte 2017 im Interview mit der ARD: „Alles, was wir von Volkswagen haben wollten, haben sie sofort gemacht. Zum Beispiel: Wenn ich nach einem verdächtigen Element gesucht habe, das ich dingfest machen wollte. Dann haben sie mir gesagt, wo ich es finde. Wir waren uns sehr nahe.“
Aus all diesem lässt sich nur ein Schluss ziehen: Wenn der damalige Vorstand von VW do Brasil genau wusste, dass Brasiliens Regime foltern und morden ließ, musste ihm auch klar gewesen sein, was mit den Menschen passierte, über die VW do Brasil Informationen an das Folterregime weitergab. Der damalige Vorstand von VW do Brasil bestand aus deutschen Staatsbürgern, die direkt aus Wolfsburg nach Brasilien entsandt wurden und somit den Volkswagen-Konzern unmittelbar vertraten. Damit trägt auch der deutsche Volkswagen-Konzern die volle Mitverantwortung dafür, dass der Werkschutz von VW do Brasil Menschen direkt der Folter ausgeliefert hat.
Die Staatsanwaltschaft von São Paulo hat die Ermittlungen mittlerweile abgeschlossen. Aus Brasilien verlautet, dass es unter Einbeziehung der Staatsanwaltschaft derzeit außergerichtliche Gespräche zwischen Volkswagen do Brasil und den betroffenen Arbeitern über Entschuldigung und Entschädigung gebe.
Lúcio Bellentani ist am 19. Juni im Alter von 74 Jahren in São Paulo verstorben. Eine Entschuldigung seitens Volkswagen hat er nicht mehr erleben dürfen.

 


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BEIHILFE ZUR FOLTER

„Es war Volkswagen, die dafür verantwortlich waren, dass ich von den Geheimpolizisten des DOPS an meinem Arbeitsplatz bei VW in São Bernardo do Campo verhaftet, noch auf dem Werksgelände geschlagen und von dort direkt in das Folterzentrum DOPS verschleppt wurde. Dort wurde ich wochenlang gefangen gehalten und schwer gefoltert.“ Lúcio Bellentanis Stimme dröhnt tief durch den bis auf den letzten Platz angefüllten Theatersaal der Berliner Schaubühne. Die Empörung über das, was der Metallarbeiter und Gewerkschafter im Juli 1972 bei VW do Brasil und in den Wochen nach seiner Verhaftung erlebte, ist ihm noch immer anzumerken. „Wenn VW wenigstens einmal sagen würde, dass es ihnen leid täte, dass sie Verantwortung übernehmen, dann wäre dies ein erster Schritt“, sagt der mittlerweile 73-Jährige. „Der zweite Schritt wäre eine Kollektiventschädigung. Denn wir lassen uns nicht spalten, gar einzeln verhandeln, wie VW das so gerne wollte.“

Bellentani war im November 2017 auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Berlin gereist, um den Druck auf VW zu erhöhen. Denn seit September 2015 wird auf Betreiben der Arbeiter*innen wie Bellentani von der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo untersucht, ob VW mit den Repressionsorganen der Militär­diktatur kollaboriert hat. In Berlin nahm Bellentani mit 60 anderen Menschenrechts­akti­vist*innen aus fünf Kontinenten an dem Reality-Schauspiel „General Assembly“ in der Schaubühne teil, das der Regisseur Milo Rau orchestrierte. Angehörige der Opfer der Brand­katastrophe der für die Textilkonzerne in Pakistan und Bangladesch schuftenden Arbeiter*innen waren bei dem dreitägigen Theater am Berliner Ku‘damm ebenso vertreten wie von Landgrabbing durch Palmölfirmen betroffene Landarbeiter*innen aus Indonesien oder Witwen der 34 im Jahr 2012 während eines Streiks von der südafrikanischen Polizei erschossenen Minenarbeiter der Platin-Mine der britischen Firma Lonmin. Alle Betroffenen und Aktivist*innen hielten als Delegierte eines simulierten Weltparlaments ihre Redebeiträge in fünf Minuten und standen dann noch vier Minuten den anderen Delegierten und der Verteidigung Rede und Antwort.

Lúcio Bellentani berichtete über seine Verhaftung und die Folter, erklärte den überraschten Zuhörer*innen, welchen gewichtigen Anteil VW do Brasil daran hatte. Und er berichtete, was sich in den vergangenen zwei Jahren in der Ange­legenheit ergeben hat.

Im September 2015 (siehe LN 497) hatten ehemalige Arbeiter*innen, die zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) bei VW do Brasil Repres­sion erlitten hatten, gemeinsam mit Rechts­anwält*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und allen elf brasilianischen Gewerkschaftsdachverbänden eine Sammelklage bei der Zivilkammer der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo eingereicht. Das Ziel: Die Kollaboration von VW do Brasil mit der Militärdiktatur zu untersuchen und zu prüfen, inwieweit VW finanziell haftbar dafür gemacht werden könne.

Seither ermittelt die Staatsanwaltschaft, hat über ein Dutzend Zeug*innen vernommen, darunter sowohl die Arbeiter*innen als auch die ehemaligen VW-Werkschützer*innen. Erstere erzählten detailliert über die Bespitzelungen durch VW, ihre Verhaftungen, über die schwarzen Listen, die, wie sie später feststellten, von VW über die Mitarbeiter*innen erstellt wurden und an die Repressionsorgane weitergegeben wurden. Letztere offenbarten auffällig viele Erinnerungslücken, wiesen Anschuldigungen vehement zurück, sie hätten an den Verhaftungen der Mitarbeiter*innen aktiv mitgewirkt und Infos an die Geheimagent*innen der Militärdiktatur weitergegeben, so dass in einigen Fällen nur auf Basis dieser Tipps Menschen verhaftet wurden und in den Folterkellern der Diktatur landeten. Der Chef des VW-Werkschutz, Adhemar Rudge, stritt die Authentizität seiner Unterschrift unter solchen an den Geheimdienst weitergeleiteten Doku­menten mit VW-Stempel und Briefkopf ab, beschwerte sich im Nachhinein über den „Skandal, dass da jemand meine Unterschrift gefälscht hat!“

Bellentani berichtete vor den Theater-Zuschauer*innen auch ausführlich von dem Fall seines Kollegen Heinrich Plagge. Am 8. August 1972 war er gegen 14 Uhr in das Büro des VW do Brasil Managers Ruy Luiz Giometti gerufen worden, wo neben Giometti zwei Unbekannte auf ihn warteten und ihn für verhaftet erklärten. Plagge wurde in das DOPS verschleppt, dort 30 Tage lang gefoltert und anschließend in ein Gefängnis verlegt, aus dem er am 6. Dezember – rund vier Monate nach seiner Verschleppung – freigelassen wurde. Am 22. Dezember 1972, 16 Tage nach seiner Entlassung, erhielt er die Kündigung durch Volkswagen.

„Aber“, so berichtet Lúcio Bellentani vor der Schaubühne in die herbeigeilten Mikorophone der Journa­list*innen, „es kommt noch schlim­mer: Heinrich Plagges Frau hat auch beim Staatsanwalt ausgesagt. Sie berichtet, wie an jenem 8. August am Nachmittag ein höherer VW-Mitarbeiter zu ihr nach Haus kam und ihr mitteilte, ihr Mann habe kurzfristig für die Firma auf Dienstreise gehen müssen, daher habe er keine Zeit mehr gehabt, ihr dies mitzuteilen.“ Erst Monate später habe sie erfahren, wo Plagge war: im Folterzentrum DOPS.

Kurz nach Bellentanis Berlinreise wurde der Abschlussbericht des Gutachters, den dieser im Auftrag der Staatsanwaltschaft von São Paulo erstellt hat, publik. Der Bericht des brasilianischen Gutachters Guaracy Mingardi bestätigt die Vorwürfe der Kollaboration VWs mit der Militärdiktatur. Mingardi bestätigt „nicht nur die Kollaboration durch den Informationsaustausch [mit den Repressionsorganen], sondern auch die aktive Repression [seitens VW] der eigenen Mitarbeiter“, vor allem Anfang der 1970er Jahre. Das Gutachten bestätigte zudem die von VW Ende der 1970er Jahre erstellten schwarzen Listen, die an die Repressionsorgane und andere Firmen weitergereicht wurden. Die Aussagen von Bellentani und Plagge über ihren Leidensweg werden von Mingardi durch die Recherchen ebenfalls explizit bestätigt.

Mingardi geht in seinem Gutachten aber noch einen Schritt weiter. Auf Seite 63 schreibt er: „So bleiben keine Zweifel, dass es wirklich Unterstützung seitens Volkswagen für das [Folterzentrum] OBAN und vielleicht selbst für das [später so umbenannte Folterzentrum] DOI-CODI gegeben hat”. Das OBAN wurde 1969 gegründet, 1970 in DOI-CODI umbenannt und dem Heer unterstellt. Dort wurden zwischen 1969 und 1975 66 Menschen ermordet, 39 von denen starben dort unter der Folter, viele wurden dort gefoltert und mindestens 2.000 Menschen dort eingekerkert, meist ohne Prozess. Genaue Zahlen kennt niemand, denn nahezu alle Dokumente wurden vernichtet. Bekannt ist, dass das OBAN in seiner Anfangszeit als Folterzentrum Finanzprobleme hatte und dass die Unternehmerschaft São Paulos Geldspenden von durchschnittlich 100.000 US-Dollar je Jahr sammelte und diese dem OBAN spendete. Dass VW sich, wie andere Firmen auch, an der Sammelaktion für das Folterzentrum beteiligt habe, wird in mehreren diesbezüglichen Untersuchungen behauptet, aber es fehlt noch immer der konkrete Beweis, der die direkte Verbindung zwischen den Firmen im Einzelnen und dem OBAN herstellt. Nun hat der Gutachter im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Quellen gesichtet und kommt zu dem Schluss, dass „es keine Zweifel“ gebe, dass VW das Folterzentrum OBAN unterstützt hat. Damit fiele Volkswagen eine Mitschuld für die im OBAN, dem späteren DOI-CODI, Ermordeten und Gefolterten zu. Die Anschuldigung zur Beihilfe zur Folter und zum Mord seitens VW do Brasil erhält dadurch sogar systemischen Charakter.

Anfang Dezember 2017 erklärte VW die Bereitschaft, Entschädigungen mit den ehemaligen VW-Mitarbeiter*innen in Brasilien auszuhandeln. Es bleibt die Frage, ob das reichen wird. Denn das Eingeständnis VWs, mit den Repressionsorganen kollaboriert zu haben, wirft die Frage auf, inwieweit VWs Unterstützung für das Folterzentrum OBAN, die der Gutachterbericht Mingardis als erwiesen ansieht, über die Opfergruppe der über Dutzende VW-Mitarbeiter*innen hinausreicht und zudem all diejenigen miteinschließt, die im OBAN und späteren DOI-CODI gefoltert wurden. Das wären Tausende.

 


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