VW in São Paulo Druck aus der Zivilgesellschaft (Foto: Ennio Brauns)
Es ist vor allem dem Priester Ricardo Rezende von der Landarbeiterpastoral CPT zu verdanken, dass die skandalösen Verhältnisse auf der Rinderzuchtfarm von VW do Brasil nicht in Vergessenheit gerieten. Er dokumentierte die menschen-unwürdige Behandlung der Arbeiter*innen bereits in den 1970er und 1980er Jahren, sammelte jahrelang Zeugenaussagen und Beweise und bewirkte bereits Anfang der 1980er Jahre eine polizeiliche Untersuchung. Diese zog allerdings keine weiteren Konsequenzen nach sich. 2022 war es erneut Rezende, inzwischen Professor für Anthropologie und Menschenrechte, der eine Anhörung durchsetzte. Bereits 2019 hatte er dem Arbeitsministerium (MPT) ein detailliertes Dossier ausgehändigt und nach dreijähriger Auswertung fiel endlich von staatlicher Seite die Entscheidung, dass die aufgeführten Sachverhalte eine nähere Untersuchung rechtfertigen. 2022 griff die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft die Ereignisse auf der Farm auf und eröffnete am 19. Mai ein Ermittlungsverfahren gegen Volkswagen, dem am 14. Juni 2022 eine erste Anhörung in Brasília folgte. Diese fand über Brasilien hinaus große Aufmerksamkeit. In Deutschland berichteten unter anderem der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und der Weltspiegel der ARD. VW musste zu den Vorwürfen Stellung beziehen, die Hoffnung auf eine baldige Einigung bestand. Anklagepunkte waren Sklavenarbeit, Menschenhandel und systematische Menschenrechtsverletzungen in hunderten von Fällen.
Um für das Treffen am 29. März 2023 eine Entscheidung herbeizuführen und eine weitere Verzögerungstaktik von VW zu unterbinden initiierte die Brasilieninitiative Freiburg e.V. Anfang Februar bei campact eine WeAct-Petition: „VW soll Menschenrechtsverletzungen anerkennen.“ Binnen kurzer Zeit kamen fast 3.000 Unterschriften zusammen. Weder der im VW-Vorstand zuständige Herr Dr. Döss noch die Menschenrechtsbeauftragte Frau Dr. Waltenberg – 2022 hatte VW die Stelle einer Menschenrechtsbeauftragten eingeführt – standen jedoch für die Annahme zur Verfügung, allein der VW-Pressesprecher nahm am 24. März die Petition in Wolfsburg entgegen. Auch die zeitgleich geplante Übergabe in São Paulo gestaltete sich anders als erwartet: Vertreterinnen verschiedener NGO waren anwesend, die VW-Delegation ging wortlos an ihnen vorüber, eine Annahme der Petition wurde abgelehnt. Das Treffen selbst brachte erneut keine Einigung, im Gegenteil. Vertreter*innen von VW do Brasil verließen den Verhandlungstisch und erklärten nicht weiter an einer Einigung interessiert zu sein: VW sei nicht verantwortlich für die Geschehnisse auf der Farm. Der auf dem Tisch liegende Vorschlag der Staatsanwaltschaft über eine Entschädigungszahlung von umgerechnet rund 25 Millionen Euro fand keine Beachtung. Diese sollte den bereits identifizierten geschädigten Arbeitern bzw. deren Familien zugutekommen sowie der Einrichtung eines Opferfonds dienen. Der leitende Staatsanwalt Rafael Garcia sagte nach der Begegnung im Gespräch mit der Tageszeitung Folha de São Paulo: „Wir bedauern die Haltung von Volkswagen, welche die Arbeitnehmer, die mehr als zehn Jahre lang versklavt und in ihrer Würde und Freiheit beschnitten wurden, nicht respektiert.“
Der Auseinandersetzung um die Entschädigungszahlungen an die Geschädigten auf der VW-Rinderzuchtfarm ist ein jahrzehntelanges Tauziehen um Entschädigungen für die während der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen in den VW-Werken vorangegangen. Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, bis VW sich – notgedrungen – seiner Vergangenheit in Brasilien stellen musste. Anlass war der am 10. Dezember 2014 nach zweijähriger Arbeit überreichte Bericht der brasilianischen Wahrheitskommission an die damalige Präsidentin Dilma Rousseff. In diesem dreibändigen Bericht wurden die Menschenrechts-verletzungen während der Militärdiktatur 1964 bis 1985 aufgearbeitet.
Der Bericht legte sowohl die Kollaboration mit der Militärdiktatur, die Verfolgung gewerkschaftlich aktiver Arbeiter im VW-Werk in São Bernardo do Campo, als auch die sklavenähnlichen Verhältnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm im Bundesstaat Pará offen. Bereits 1983 vorliegende Dokumente, die jedoch damals keine Beachtung fanden und die von menschenunwürdigen Zuständen berichteten, sollten bestätigt werden. Eine Reaktion von VW wurde notwendig und so beauftragte der Konzern 2016 den Historiker Christopher Kopper mit der Aufarbeitung der Vorwürfe. Dieser recherchierte sowohl zur Zusammenarbeit mit der Militär-regierung und der Verfolgung kritischer Gewerkschafter im Automobilwerk in São Bernado do Campo (Bundesstaat São Paulo), als auch zu den Vorwürfen in Bezug auf die VW-Rinder-zuchtfarm Rio Cristalino in Amazonien. Sein Urteil war eindeutig: „Das Management von VW do Brasil verhielt sich gegenüber der Militärregierung uneingeschränkt loyal und teilte ihre wirtschaftspolitischen und innenpolitischen Ziele.“
Was die Vorwürfe gegenüber der Behandlung der Beschäftigen im VW-Werk betraf, erklärte sich VW 2020 schließlich dazu bereit, umgerechnet rund 5,5 Millionen Euro an Entschädigung zu bezahlen. Damit erhielten ehemalige Gewerkschafter, die während der Militärdiktatur nachweislich gefan-gen, gefoltert oder verfolgt wurden, eine späte finanzielle Entschädigung; auch ein Opferverband wurde eingerichtet. Für VW war damit dieses dunkle Kapitel der Firmengeschichte abge-schlossen.
„Vergessen“ hatte man allerdings die Vorkommnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm, die Historiker Kopper ebenfalls in seinem Bericht belegte. VW hatte in den 1970er Jahren beschlossen, nicht nur Autos zu produzieren, sondern sich auch in der Rinderzucht zu betätigen. 1978 erwarb der Konzern die Fazenda Rio Cristalino mit 139.000 Hektar Land im Bundesstaat Pará, wo sich die Arbeitsbe-dingungen für die nicht festangestellten Arbeiter als prekär erweisen sollten. Für das Abholzen, Niederbrennen und Umzäunen beauftragte das Firmenunternehmen Subunternehmer, die sogenannten gatos (Kater): „Zu den bevorzugten Opfern der gatos gehörten verschuldete Wanderarbeiter, deren Schulden sie übernahmen. Da von dem Lohn nach Abzug der Verpflegung kaum Geld zum Abzahlen der Schulden übrig blieb, gerieten verschuldete Wanderarbeiter in eine längerfristige Schuldknechtschaft.“ Laut Kopper war die Leitung der VW-Farm zweifellos mit den Verhältnissen auf dem ländlichen Arbeitsmarkt vertraut und kannte die ausbeuterischen Praktiken der gatos.
Verfehlungen in der Militärdiktatur – Verantwortung wird bis heute abgelehnt
Die zwischen 600 und 1.200 Männer mussten ihre Unterkunft in Zelten, ihre Verpflegung und ihren Transport selbst bezahlen. Damit waren sie von Beginn an hoch verschuldet und durften die Farm nie verlassen. Private Sicherheitsdienste hinderten sie daran. In einem Interview mit den Brasilien Nachrichten 1986 bestätigte der ehemalige Sicherheitsbeauftragte der VW-Farm, Adão, dass zeitgleich mehrere Subunternehmen tätig waren und dass es vorkam, dass Menschen flohen. Die Tatsache, dass 90 Prozent der Farmarbeiter Analphabeten gewesen seien, habe den Umgang mit ihnen erleichtert, ihre Rechte hätten sie nicht gekannt. „Auch wenn es sich nicht um wirkliche Sklaven handelte und VW do Brasil nicht unmittelbar für ihre katastrophalen Arbeitsbedingungen verantwortlich war, unterließ VW alles, um die Lage der Wanderarbeiter zu verbessern“, stellte Kopper fest. VW do Brasil entschloss sich 1986 schließlich zum Verkauf der Fazenda Rio Cristalino. Zum einen wurde wohl ein Imageschaden befürchtet, zum anderen blieben die erhofften Gewinne aus.
Für den engagierten Vertreter des Arbeitsministeriums, Staatsanwalt Rafael Garcia, gab es nach Sichtung der Unterlagen keine Zweifel, dass „VW immer wusste, was auf der Fazenda geschah, zum einen weil VW der Besitzer war und zum zweiten da der Zugang zur Fazenda und der Verbleib auf ihr unter voller Kontrolle der VW-Verwaltung stand“, so Garcia gegenüber Agência Brasil. Zur Tatsache des bewaffneten „Sicherheitsdienstes“, der die Arbeiter*innen daran hinderte, die Fazenda zu verlassen, meinte Garcia: „Ein derartiges Verhalten wäre ohne Zustimmung der für die Fazenda Verantwortlichen unmöglich gewesen.“ Es stand und steht für ihn außer Frage, dass VW Verantwortung zu übernehmen hat.
Dagegen lehnt der ehemalige Verantwortliche der VW-Farm, Brügg, bis heute jede Verantwortung ab. „Die Vorwürfe sind völliger Blödsinn“, sagte er am 22. Mai 2022 im Weltspiegel der ARD. Auch die Konzernleitung von VW weigert sich bis heute, die unhaltbaren Zustände der damaligen Zeit anzuerkennen. Angesichts der nur noch wenigen Überlebenden ist das besonders skandalös. „Statt die Opfer der VW-Sklavenarbeit auf der Rinderzuchtfarm endlich nach all den Jahren zu entschädigen, will Volkswagen auf der am 10. Mai in Berlin anstehenden Jahreshauptversammlung des Konzerns die Bezüge, Boni und Gehaltszahlungen für den Vorstand erhöhen“, kritisiert Christian Russau, Vorstandsmitglied des Dachverbands der Kritischen Aktionär*innen aus Köln. „In der Summe wären das potentielle Erhöhungen von 27 Millionen Euro, dies entspricht ziemlich genau der von der Staatsanwaltschaft geforderten Entschädigung. Dieses Geld steht den ehemaligen Sklavenarbeitern zu!“
Nachdem VW do Brasil die Gespräche abgebrochen hat, ist jetzt der Mutterkonzern gefragt. VW sollte schnellstens einer Vereinbarung zustimmen, die Verzögerungstaktik aufgeben und endlich dieses düstere Kapitel seiner Firmengeschichte zum Abschluss bringen. Eine Stellungnahme des Mutterkonzerns in Wolfsburg auf die Ereignisse in São Paulo am 29. März sowie auf die von fast 3.000 Bürger*innen unterzeichnete Petition lag, trotz mehrfacher Nachfrage, bis zum Redaktionsschluss nicht vor.