Bewegung | Nummer 580/581 - Oktober/November 2022 | Panama

AUFWACHEN NACH DEM GESELLSCHAFTLICHEN KNALL?

Große Protestwelle zwingt Panamas Regierung zum Einlenken

Es satt zu haben war das Gefühl, das die panamaische Bevölkerung im vergangenen Sommer wohl besonders zu den größten Protesten im Land in den vergangenen 32 Jahren der Demokratie motiviert hat. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die hohen Kosten für Grundnahrungs-
mittel, die Folgen einer mangelhaften Verwaltung durch Präsident Laurentino Cortizo oder die zahlreichen Fälle von Verschwendung öffentlicher Mittel. Die Art und Weise, wie aus gesellschaftlicher Sicht mit der Pandemie umgegangen wurde und die zahlreichen Korruptionsfälle waren schließlich die letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten. LN blicken auf die Ereignisse zurück.

Von Carlos Escudero Nuñez (Übersetzung: Susanne Brust)

Proteste in Panama Regierung muss einlenken (Foto: Brandon Ortiz)

Panama ist eines der wenigen Länder der Region, in dem große Demonstrationen oder Massenproteste nur selten für Schlagzeilen sorgen. Weil das Land logistisch und finanziell gesehen in einer vorteilhaften Lage ist, entsteht häufig der Eindruck, dass hier alles in Ordnung sei. Das panamaische Bruttoinlandsprodukt verzeichnet laut Daten der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) für 2022 ein Wachstum von 8,2 Prozent, das Land ist eine der größten Volkswirtschaften der Region – und wächst wirtschaftlich gesehen in einem schwindelerregenden Tempo. Gleichzeitig ist Panama das sechstungleichste Land der Welt, was den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, die Verteilung des Wohlstands und die Lebensbedingungen angeht.

Die Proteste, die von Mai bis August dieses Jahres in Panama stattfanden, hatten in der Provinz Colón an der Karibikküste begonnen. Lehrergewerkschaften, Arbeitnehmer*innen und ganz normale Bürger*innen forderten bessere Lebensbedingungen, menschenwürdige Arbeitsplätze und eine gerechte Verteilung des Wohlstands. Die Provinz Colón ist nach Panama-Stadt die Stadt mit dem zweithöchsten Einkommen im nationalen Bruttoinlandsprodukt.

Hinter den Mobilisierungen im Mai standen Gruppen wie die Koalition für die Einheit Colóns (CUCO). Nach Aussagen des führenden CUCO-Aktivisten Edgardo Voitier gegenüber TeleSur zielten die Proteste darauf ab, die hohen Lebenshaltungskosten zu stoppen und die Kraftstoffpreise einzufrieren. Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, wurden im Stadtzentrum von Colón Straßenblockaden, Demonstrationen und Kundgebungen organisiert. Obwohl unklar ist, wie viele Menschen insgesamt an den Aktionen teilnahmen, konnte CUCO die Proteste in der Provinz wochenlang aufrechterhalten – und die Regierung damit zu einem Dialog zwingen.

Im Juli brachen die Proteste erneut aus, dieses Mal jedoch landesweit. Es wurden die größten Proteste seit der Rückkehr Panamas zur Demokratie vor 32 Jahren. Sie begannen mit Straßenblockaden und Demonstrationen an mehreren Orten: in der Hauptstadt Panama-Stadt rund um die Nationalversammlung, in der Provinz Veraguas an der wichtigen Panamericana-Straßengabelung von Divisa sowie in mehreren Orten der Provinz Chiriquí.

Für den 1. Juli hatten Lehrkräfte und Professor*innen landesweit zu Streiks mobilisiert. Sie hatten ein symbolisches Datum gewählt – traf der Tag der Großmobilisierung doch den dritten Jahrestag des Amtsantritts von Panamas Präsident Laurentino Cortizo.

Den Aufrufen der Lehrergewerkschaften schlossen sich spontan landesweit unterschiedliche gesellschaftliche Akteur*innen an. Dazu gehörten einerseits Organisationen von Beschäftigten in Viehzucht, Fischerei, Landwirtschaft und Transportwesen sowie Schüler*innen. Sie alle schlossen sich in der landesweiten Allianz für die Rechte des organisierten Volkes (ANADEPO) zusammen, deren Aktionszentrum sich in der Provinz Veraguas befand.

Auf der anderen Seite gab es die Allianz für ein vereintes Volk für das Leben, die sich aus der Bauarbeiter*innengewerkschaft SUNTRACS, der Lehrervereinigung und verschiedenen anderen Gewerkschaften zusammensetzt und in der Hauptstadtprovinz verortet ist. Und schließlich mobilisierte auch die Nationale Koordinierungsstelle der indigenen Völker Panamas (COONAPIP), in der die sieben indigenen Gemeinschaften des Landes organisiert sind, zum Protest.

All diese Kräfte schlossen sich in zwei großen Bündnissen zusammen und forderten Lösungen für drei wesentliche Punkte. Dazu gehörte erstens die Senkung des Kraftstoffpreises, der im Mai und Juni bei sechs Dollar pro Gallone lag, auf drei Dollar. Zweitens forderten sie die Senkung der Preise für Grundnahrungsmittel, die zuletzt um 3,5 Prozent gestiegen waren, drittens eine Kontrolle der Arzneimittelpreise.

Darüber hinaus forderten Bildungsorganisationen, dass der panamaische Staat sechs Prozent des BIP für Bildung bereitstellt. Man müsse die Schulen ausbauen, Gebäude im schlechten Zustand sanieren und die Arbeitsbedingungen und Gehälter des Lehrpersonals insbesondere in abgelegenen Regionen verbessern. Das Problem der sogenannten escuelas ranchos, Schulen mit prekären Lernbedingungen, oft ohne Wände und mit Erdboden, müsse gelöst werden.

Dazu kamen schließlich Forderungen nach einer Reduzierung und Eindämmung der öffentlichen Ausgaben, die in den vergangenen Jahren verglichen mit den Vorjahren um 5,6 Prozent gestiegen sind. Hierfür sollten die ebenso exorbitanten wie fragwürdigen Budgets des Präsidialamts, des Ministeriums für öffentliche Sicherheit sowie des Parlaments beschnitten werden. Die Regierung ist in Skandale und Korruptionsfälle verstrickt Das Klima der Instabilität, das in den vergangenen Monaten in Panama herrschte, lässt sich auf einen Vertrauensverlust der staatlichen Institutionen zurückführen. Setzte man bei Amtsantritt der aktuellen Regierung noch Vertrauen darin, dass die Regierung Probleme lösen würde, hat diese sich nun in Skandale und Korruptionsfälle verstrickt. Die entsprechenden Fälle in der Nationalversammlung häuften sich. Gleichzeitig haben mehr als 80 Prozent der Menschen im Land Probleme beim Zugang zu Wohnung, Gesundheit, Bildung und Grundnahrungsmitteln, da die wirtschaftliche Unterstützung während der Pandemie zu keiner Zeit ausreichte.

Die Arbeitslosenquote liegt bei 9,9 Prozent, die Quote der informell Beschäftigten ist laut Angaben des staatlichen Statistikinstituts INEC allein in den vergangenen Monaten auf 48,2 Prozent gestiegen. Die Instabilität des Arbeitsmarktes und die Einkommensungleichheit werden damit in Panama zu einem zunehmenden Problem.

Die Regierung verhandelte zunächst in der Provinz Veraguas mit der ANADEPO-Führung und kündigte daraufhin an, den Kraftstoffpreis ab dem 15. Juli landesweit auf 3,95 Dollar zu senken. Dazu wurde auch das Einfrieren der Preise von zehn Lebensmitteln aus dem staatlich festgelegten Grundnahrungsmittelkorb erwähnt. Diese Maßnahmen genügten den Forderungen der Protestierenden jedoch nicht, geschweige denn die Liste der berücksichtigten Lebensmittel, die teils stark verarbeitet oder von fragwürdiger Qualität waren. Angesichts der Unzufriedenheit der Bevölkerung wies sogar das Gesundheitsministerium auf die Notwendigkeit hin, den Menschen einen gesunden und ausgewogenen Satz an Grundnahrungsmitteln zu ermöglichen. Sogar das Gesundheitsministerium zweifelt an den Maßnahmen Die Unzufriedenheit und die sozialen Unruhen hielten mehrere Wochen an. Auch wenn sich die Regierung den Forderungen der ANADEPO-Führung in Veraguas annäherte, demonstrierten die Menschen in anderen Landesteilen weiter und forderten die Einrichtung eines einheitlichen Runden Tisches für den Dialog. Mehrere Wochen lang wurde die Aufforderung der Regierung, die Straßenblockaden und Streiks zu beenden, ignoriert, da die Regierung diesen Runden Tisch verweigerte. Erst auf Vermittlung der katholischen Kirche hin wurde dieser schließlich doch noch am 21. Juli eingerichtet.

Unter dem Eindruck der Straßenblockaden sowie Massendemonstrationen im ganzen Land akzeptierte die Regierung die vom Runden Tisch für den Dialog vorgeschlagenen Bedingungen, darunter die Definition von 72 Gütern als Grundnahrungsmittel, erweitert auf Hygieneartikel. Die Gewinnspanne für bestimmte Produkte wurde auf höchstens 15 bis 20 Prozent begrenzt, der Benzinpreis wurde auf 3,25 Dollar pro Gallone eingefroren. Dazu wurde eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Korruption vereinbart.

Im Bildungsbereich wurde eine schrittweise Erhöhung der Investitionen vereinbart. Die Abmachung legt fest, dass dies mit einer gerechten Verteilung geschehen soll, die die Qualität der Schulbildung stärkt. So sollen die hierfür vorgesehenen Mittel im Haushalt 2023 auf 5,5 Prozent des BIP und im Jahr 2024 auf sechs Prozent ansteigen. Außerdem wurde vereinbart, das Gesetz über das öffentliche Auftragswesen zu ändern, um die Mittelvergabe für den Unterhalt von Schulen zu erleichtern. So sollen öffentliche Mittel zukünftig schneller bereitgestellt werden können.

Schließlich verfügte die Regierung, den Preis von 170 Medikamenten für vorerst 6 Monate um 30 Prozent zu senken. Die Forderung nach einer Senkung der Preise einer Reihe wichtiger Arzneimittel bleibt eines der umstrittensten Themen: es bestehen wirtschaftliche Interessen an der Einfuhr von teuren Arzneimitteln, die in Panama bis zu 300 Prozent mehr kosten als anderswo.

Als Folge der erzielten Vereinbarungen endeten die Proteste schließlich im August. Noch im Oktober soll jedoch eine zweite Phase des Runden Tisches beginnen, in der strukturelle gesellschaftliche Probleme sowie offene Punkte besprochen werden sollen.

Die Protestwelle zeugt von der Zermürbung und Erschöpfung einer Bevölkerung, die es leid ist, ein unwürdiges Leben zu führen, in dem sich der Reichtum in den Händen einiger weniger konzentriert. Entsprechend sieht sie keine andere Möglichkeit mehr, als auf die Straße zu gehen. Für die öffentliche Verwaltung bietet sich nun eine gute Möglichkeit, das Vertrauen zwischen den Bürger*innen und der Exekutive wieder zu festigen und nach mittel- und langfristigen Lösungen zu suchen, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. In den Worten des SUNTRACS-Anführers Saúl Méndez (LN 415) heißt das, dass „die Regierung nicht weiter nur für die Reichen in diesem Land regieren kann”.

Bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 bleibt noch Zeit, den sozialpolitischen Kurs zu korrigieren und Vertrauen und Entwicklung zu erreichen. Dabei müssen die in Vereinbarungen gegossenen Forderungen der Protestierenden berücksichtigt werden: Die jüngste Protestwelle hat unter Beweis gestellt, dass das pro Kopf drittreichste Land Lateinamerikas ein aktiver und sprudelnder Nährboden für Mobilisierungen ist, der jederzeit wieder explodieren kann.

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