Nicaragua | Nummer 596 - Februar 2024

Ohne Gerechtigkeit kein Frieden

Interview mit dem ehemaligen politischen Gefangenen Allan Gómez Castillo

Laut Angaben der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (IACHR) vom Jahresanfang 2024 gibt es derzeit 119 politische Gefangene in Nicaragua. Die Daten variieren jedoch beständig: Menschenrechtsaktivist*innen sprechen von einem „Drehtüreffekt”, da trotz einiger Freilassungen weiterhin Bürger*innen inhaftiert und unter Folter und Isolation gehalten würden. Die LN sprachen mit dem ehemaligen politischen Gefangenen Allan Gómez Castillo über Praxis, Selbstverständnis und Visionen der Gefangenenorganisation UPPN, deren Mitglieder sich als Überlebende der Repression von 2018 verstehen.

Interview: Elisabeth Erdtmann

Allan, du bist ein ehemaliger politischer Gefangener. Kannst du uns etwas über die Umstände deiner Gefangennahme und die Haftbedingungen erzählen?

Ich wurde am 27. Dezember 2018 im Haus meiner Mutter von der Polizei und Paramilitärs verhaftet und ins Gefängnis El Chipote gebracht. Dort verbrachte ich 44 Tage in einer dunklen Zelle ohne Kleidung. Ich wurde gefoltert und war sexueller und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Dann wurde ich ins Gefängnis Sistema Penitenciario verlegt. Auch in diesem Gefängnis erlitt ich Gewalt. Am 27. Februar 2019 wurde ich im Rahmen des sogenannten Amnestiegesetzes freigelassen. Zwischen 2019 bis 2021 war ich weiterhin polizeilichen Schikanen ausgesetzt und wurde in meinem Zuhause von Sicherheitskräften belagert.

Als ehemalige politische Gefangene seid ihr in der Vereinigung der politischen Gefangenen Nicaraguas (UPPN) organisiert. Wie kam es zur Gründung der UPPN und welche Ziele verfolgt sie?

Die UPPN wurde am 19. März 2019 in den Gefängnissen La Esperanza und La Modelo von politischen Gefangenen formell gegründet und der nicaraguanischen Öffentlichkeit und anderen Organisationen vorgestellt. Unsere Arbeitsschwerpunkte sind das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit; die Aufrechterhaltung der Erinnerung, damit sich das nicht wiederholt, und die Wiedergutmachung für alle Opfer.

Als Organisation der unmittelbaren Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind wir der Meinung, dass der Wandel in Nicaragua einen wirklichen und beständigen Gerechtigkeitsprozess braucht. Denn es ist notwendig, das historische Gedächtnis zu bewahren, daran müssen wir arbeiten. Dies sind die wichtigsten Arbeitsbereiche unserer Organisation.

Von wie vielen politischen Gefangenen geht ihr derzeit aus?

Es gibt mehr als 100 politische Gefangene. Manche sind nicht in der Liste aufgeführt, weil sie sich nicht im Gefängnis befinden. Aber sie sind de facto Gefangene – nur eben in ihrem eigenen Zuhause. Es gibt mehr als dreißig Personen, die sich jede Woche bei der Polizei melden müssen. Sie werden so kontrolliert, als ob sie Gefangene wären. Andere werden überwacht oder unterliegen Arbeits- und sonstigen Beschäftigungsverboten.

Die Diktatur übt über alle Oppositionsgruppen ein hohes Maß an Kontrolle aus, damit es keine Bewegung mehr gibt, die sie nicht vorhersehen kann. Sie handelt mit Kalkül und spielt auf Zeit, da sie weiß, wie mit der internationalen Diplomatie umzugehen ist.

Ihr lebt alle im Exil. Es ist sicher schwer, unter diesen Bedingungen für eure Organisation zu arbeiten…

Ja, und dabei ist die größte Herausforderung im Exil für soziale Aktivisten oder Menschenrechtsverteidiger der Lebensunterhalt. Außerdem findet eine gewisse Abkopplung von der Realität in unserem Land statt. Daher müssen wir eine kontinuierliche Kommunikation mit den Menschen vor Ort aufrechterhalten, um zu erfahren und zu verstehen, was im Land vor sich geht.

Wenn man sein Land verlässt, ist man einer anderen Realität ausgesetzt, die einen dazu zwingt, sich in einer anderen Zeit und in einer anderen Kultur zurechtzufinden. Das ist die größte Schwierigkeit: den Bezug zum eigenen Land zu verlieren und trotz dieser Abkopplung weiter zu verfolgen, was im Staat passiert. Eine große Herausforderung ist zum Beispiel, mit den Menschen vor Ort zusammenzuarbeiten, ohne sie dabei in Gefahr zu bringen. Hinzu kommt, dass die Diktatur auch Menschen bestraft, die sich außerhalb Nicaraguas sozial engagieren. Das zwingt viele Personen dazu, sich zum Beispiel nicht zu zeigen, oder in den Medien keine Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, weil sie Angst haben, dass ihre Familien in Nicaragua Repressalien seitens der Diktatur erleiden. Das ist etwas, das die Bedingungen im Exil natürlich verschärft und die Arbeit zusätzlich erschwert. Trotzdem kann ich nicht aufhören, aktiv zu sein und mich an Initiativen zu beteiligen, um Gerechtigkeit zu fordern. Denn ich habe Freunde, die immer noch im Gefängnis sitzen, und Freunde, die ermordet wurden.

Du bist Teil der LGBTIQ-Gemeinschaft innerhalb der UPPN. Welche sind eure wichtigsten Forderungen an die nicaraguanische Zivilgesellschaft bezüglich der Bürger*innenrechte?

Nicaragua braucht viele Veränderungen, aber die wichtigste Veränderung ist systemisch, es braucht nicht einfach nur einen Regierungswechsel. Ein neues Nicaragua erfordert eine vollständige Umstrukturierung der staatlichen Institutionen sowie der Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Es muss ein vollständiger Wandel erfolgen, der auf dem Weg zur Demokratie einen Prozess zur Bewahrung der Erinnerung und der Wahrheitssuche miteinschließt.

Als Person aus der LGBTIQ*-Gemeinschaft denke ich, dass wir ein System der Fairness und Gleichheit anstreben müssen, in dem die Menschenrechte jeder einzelnen Person nie mehr verletzt werden. Als Organisation sind wir der Meinung, dass es keinen politischen Gefangenen, keinen Gewissensgefangenen, keine Person geben darf, die inhaftiert, gefoltert wird oder Gewalt erleidet, weil sie ihre politische Meinung geäußert hat oder weil sie anders über das Regierungssystem oder die Regierungspartei denkt. Und genau dafür werden wir von der UPPN kämpfen.

In der nicaraguanischen Opposition finden sich verschiedene Interessen und politische Strömungen, gemeinsamer Nenner ist die Forderung nach Demokratie. Gibt es denn konkrete Ideen, was nach Ortega kommen soll?

Innerhalb der nicaraguanischen Opposition hat es bisher keinen aufrichtigen Dialog gegeben. Jede Gruppe verteidigt ihre eigene Agenda. Zumindest wir, die Opfer, glauben, dass der Weg zu einem neuen Nicaragua nicht möglich ist, ohne dass wir uns als Opposition zusammensetzen, ehrlich miteinander reden und eine gemeinsame Basis finden, statt immer nur die Unterschiede zu sehen. Es gibt außerdem keine klare Strategie der Abstimmung darüber, wie dieses neue Nicaragua aussehen soll, sondern lediglich verschiedene Vorschläge. Wir als Opferorganisation − und ich als unmittelbares Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit − meinen jedoch, dass wir nicht in der Lage sein werden, Demokratie zu erreichen, wenn die Frage der Gerechtigkeit nicht in die Agenda aufgenommen wird. Das ist für uns von grundlegender Bedeutung.

Wie habt ihr euch in diesem politischen Szenario verortet?

Als wir 2019 aus dem Gefängnis kamen, wurde uns klar, dass wir uns in die politische Agenda einmischen müssen. Von daher haben wir uns als Personen und Organisation das Ziel gesetzt, Teil der politischen Debattenräume zu sein, aber nicht mit einem parteipolitischen Ziel, sondern um unsere Gerechtigkeitsagenda zu fördern. Dafür haben wir uns die Aufgabe gestellt, in verschiedenen Organisationen wie dem Oppositionsbündnis UNAB, der Alianza Cívica (Bürgerallianz) oder anderen Plattformen mitzuwirken, die damals in der Opposition noch stärker waren. Wir stellten jedoch fest, dass viele dieser Organisationen weder eine soziale Basis noch eine klare Strategie für ihr weiteres Vorgehen hatten. Viele waren nur flüchtig, ihre Agenda war vor allem auf den Moment ausgerichtet, nicht auf die Zukunft. Wir haben unseren Vorschlag zum Thema Gerechtigkeit eingebracht, aber viele Organisationen der Opposition sind der Meinung, dass diese Frage erst nach dem Übergang zur Demokratie behandelt werden sollte. Aber das kann nicht sein: Die Übergangsphase muss auch das Thema der Gerechtigkeit auf die Tagesordnung setzen. Dazu muss man sich mit Opferorganisationen zusammensetzen, über ihre Ziele und Wege sprechen. Wir als Organisation haben konkrete Ideen, wie wir unter den rechtlichen Rahmenbedingungen Gerechtigkeit erreichen können, was erarbeitet werden muss und was dazu nötig ist.

Stattdessen handelten viele Oppositionsorganisationen aus ihrer Ohnmachtsposition gegenüber Ortega jedoch Quoten für Straffreiheit aus. Das geht gar nicht. Man kann den Opfern doch nicht sagen: „Diesen lassen wir laufen, jenen nicht”. Diese Entscheidung steht einer Oppositionsorganisation gar nicht zu.

Straffreiheit für wen?

Das war 2019: Es kam zu einer Dialogrunde (zwischen Opposition und Ortega-Regierung, Anm. d. Red.), in der die Opposition über Quoten für Straffreiheit für politische Gefangene verhandelte. Da zog die Diktatur die Amnestie aus dem Ärmel, aber es war keine echte Amnestie. Im Übrigen bedeutet eine Amnestie für die von der Freilassung begünstigten Gefangenen zu vergessen, was ihnen widerfahren ist. Anders gesagt: Bei einer Amnestie ist das Opfer insofern am stärksten betroffen, da die Gesellschaft die Gerechtigkeit, die eigentlich den Opfern zusteht, dem Wohlergehen der Gesellschaft opfert. Wenn ich also von Quoten der Straffreiheit spreche, dann beziehe ich mich genau darauf: Die nicaraguanische Opposition, die machtlos ist, verhandelt mit der Justiz, aber das Verhandeln über Quoten oder Gerechtigkeit ist nicht ihre Aufgabe oder die irgendeiner Gruppe. Denn du kannst einer Mutter nicht sagen, dass sie aufhören soll, Gerechtigkeit zu fordern, weil ihr Kind ermordet wurde. Man kann einem ehemaligen politischen Gefangenen nicht sagen, dass er aufhören soll, Gerechtigkeit für die Folter oder Vergewaltigung zu fordern, die er im Gefängnis erlitten hat. Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden im Land geben.

Allan Gómez Castillo

ist sozialer Aktivist, Menschenrechtsverteidiger und Teil der LGBTIQ*-Gemeinschaft. Als ehemaliger politischer Gefangener und Überlebender der Repression von 2018 steht er heute der Gefangenenorganisation UPPN (Vereinigung der politischen Gefangenen Nicaraguas) vor und lebt im Exil in den Niederlanden.

Foto: Privat

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren